Die digitale Atomisierung der Aufmerksamkeit oder Der Verlust der res publica
Die Digitalisierung stellt derzeit viele Anforderungen an Politik und Wirtschaft. Es geht um Transformation und Agilität, Künstliche Intelligenz und Plattformen. Die größte Herausforderung der Digitalisierung aber stellt sich dem einzelnen Menschen und hat doch die größtmögliche gesellschaftliche Relevanz: die Klärung des Verhältnisses zwischen analoger und digitaler Welt.
Im Moment wechseln wir noch chaotisch und irregulär zwischen beiden Welten hin und her: Wir unterbrechen das Gespräch, um Emails zu checken, wir gehen auf Facebook, kaum dass wir den Bus betreten haben, und, und, und. Es existiert kein Kontext mehr in der Zeit. Die Folge ist eine Atomisierung der Zeit und mit ihr die Atomisierung der Aufmerksamkeit.* Wir können heute beliebig oft in einen anderen Kontext wechseln, indem wir aus der analogen in die digitale Welt wechseln, nicht selten mehrmals innerhalb weniger Minuten. Früher gab es aus dem zugegebenermaßen zumeist langweiligen Sonntagnachmittag kein Entfliehen – außer unserer Phantasie. Wo früher die Phantasie war, ist heute das Smartphone. Heute sind wir in der Lage, in jeder Sekunde dorthin zu springen, wo wir wollen. Indes nicht von der Phantasie geleitet, sondern durch Algorithmen gesteuert.
Eine solche Atomisierung unserer Aufmerksamkeit, die Kontextlosigkeit unseres Lebens führt indes dazu, dass fast jeder in unser Leben, in unseren Alltag eindringen kann – plötzlich und unangekündigt. Diese Anfälligkeit ist geradezu ein gefundenes Fressen für extremistische Rhetorik, gezielte Fake News und aggressive Werbung. Wir warten geradezu darauf, suchen genau dieses. Google, Facebook, Amazon – alles nützliche digitale Innovationen unseres Lebens. Für jeden Einzelnen aber kommt es darauf an, für sich selbst das Verhältnis zwischen der analogen und digitalen Welt zu klären, zur Synthese einer digital-analogen Identität. Noch mäandern wir fast schizophren zwischen analoger und digitaler Identität. Noch sind wir unmündig im Umgang, in der Klärung beider Sphären.
Für die Gesellschaft ist es erkennbar essenziell, dass diese Klärung stattfindet. Letztlich ist es die Atomisierung der Aufmerksamkeit, die zu einer Fragmentierung der Gesellschaft in unverbundene, disjunkte Filterblasen führt. Dieses nicht neue, aber in der digitalen Zeit weitaus bedeutenderes Phänomen ist – wie Francis Fukuyama neulich schrieb – am Ende eine Gefahr für die Demokratie. Wenn es keinen gemeinsamen Kontext, keinen gemeinsamen Grund mehr für die Gesellschaft gibt, lässt sich Gemeinwohl kaum mehr sinnvoll definieren, lässt sich Demokratie immer schwieriger organisieren, denn es fehlt die gemeinsame öffentliche Sache: die res publica, die nur von einer stabilen und einigen Gesellschaft diskutiert und entschieden werden kann. Als Individuum und als Gesellschaft digital erwachsen zu werden, indem wir das Verhältnis zwischen analoger und digitaler Welt klären, ist letztlich eine Frage der Datensouveränität, der digitalen Mündigkeit und insoweit eine Bildungsaufgabe.
* Dank an Nils Andres für den so zutreffenden Begriff.