Die eigene Bestimmung finden
„Suchen heißt: ein Ziel haben“, schreibt Herrmann Hesse. „Finden aber heißt: frei sein, offen stehen, kein Ziel haben.“ In seiner indischen Dichtung „Siddhartha“, die vor einhundert Jahren erschien, beschreibt er die Suche nach Weisheit: Der junge Brahmanen-Sohn Siddhartha verlässt sein Elternhaus, wandert ziellos umher, und irgendwann reift in ihm die Erkenntnis, was Sinn und Ziel seiner langen Suche sei.
Um seine Bestimmung zu finden, braucht es die Kunst des Zuhörens, denn die innere Stimme spricht leise. Sie beschäftigt heute alle Generationen: „…nur wer sein Leben in Einklang mit der inneren Stimme lebt, kann von einer gelungenen Selbstführung im eigenen Leben sprechen“, sagt Jonathan Sierck (Jahrgang 1993). Ähnlich äußert sich der Autor Bert Martin Ohnemüller, der zur Generation der Babyboomer gehört: „Ich bin davon überzeugt, dass eine bessere Welt entstehen kann, wenn wir anfangen, noch stärker auf unser Herz zu hören und der Weisheit unserer inneren Stimme noch mehr zu vertrauen.“ Er plädiert dafür, die Zahlen-, Daten-, Faktenebene zu verlassen und sich einer Arbeitswelt zuzuwenden, in der Menschen das, was sie tun, gern und mit Leidenschaft tun.
Auf die innere Stimme hören
In der Wissenschaft wird auch von Intuition gesprochen: Sie nutzt sämtliche Erfahrungen aus Reaktionsmustern, Erfahrungen und Erinnerungen, ohne zu rechnen. Für einen Augenblick sieht sie das Wesentliche und blendet alles andere aus. Intuition führt zur Erkenntnis der Dinge (auch wenn es keine Garantie gibt, damit immer richtig zu liegen).
Es braucht heute beides: die innere Stimme und einen äußeren Rahmen, in dem sie gehört wird. Menschen, die nach langen Jahren der Suche endlich ihre eigentliche Bestimmung finden, „die eine tief in sich schlummernde Leidenschaft entdecken und – schon jenseits der 40 – ihren gesamten bisherigen Lebensentwurf über Bord werfen, um einen neuen mit allen Konsequenzen zu leben“, stellt Alexander Rudolph (Jahrgang 1971) in seinem Buch „Von Gutsbesitzern und Schlossgeschichten“ vor.
Die Bewahrung des kulturellen Erbes als Erfüllung
Einen Großteil seiner Kindheit und Jugend verbrachte Rudolph in Warnemünde und Rostock. Nach verschiedenen Tätigkeiten im Bereich Marketing und Vertrieb und einem mehrjährigen Aufenthalt in Kalifornien verwirklichte er seinen Jugendtraum und wurde selbstständiger Fotograf – zuerst auf Mallorca, ab 2009 in Mecklenburg-Vorpommern. Zu den Schwerpunkten seiner Arbeit gehört die Unternehmens- und die Architekturfotografie. Für sein aktuelles Buch fotografierte er 25 der schönsten Gutsanlagen und Schlösser in Mecklenburg-Vorpommern. Viele von ihnen wurden in den vergangenen Jahren restauriert und mit neuem Leben erfüllt. Sie wurden zu Hotels ausgebaut, zu kulturellen Zentren, zu Restaurants, zu Wohnsitzen und zu Festspielstätten. Im Fokus stehen dabei nicht nur die Architektur, sondern auch die Menschen, die Herrenhäuser gerettet haben, Schlösser wieder erweckten, die abgeschlossene Anlagen zugänglich machten, die Geld und einen Großteil ihrer Zeit in die Bewahrung kulturellen Erbes stecken.
Erzählt wird die bewegte Geschichte der Häuser und ihrer Besitzerinnen und Besitzer vom für seine ungewöhnlichen Feste bekannten Herrenhaus Vogelsang bis zur Anlage in Groß Breesen in der Nähe von Güstrow, in der sich ein Bücherhotel befindet (auch Radfahrer, die den Radfernweg Berlin-Kopenhagen erkunden, stärken sich hier gern). Vom Gut Saunstorf, einem „Ort der Stille“, vom Schlosshotel Marihn mit seinem beliebten Rosengarten bis zu Schloss Kummerow, das eine der aufregendsten Sammlungen der Fotokunst in Deutschland beherbergt. Vom Gutshaus Hohen Luckow, einem prachtvoll wiederhergestellten barocken Ensemble, bis zum Schloss Ulrichshusen, das längst zu dem Zentrum der Festspiele Mecklenburg-Vorpommern geworden ist.
Angelika Hantke betreibt seit einigen Jahren ein Eventmanagement und saniert mit ihrem Mann und unterstützt von ihren Kindern das Schloss in Semlow. Heute finden hier zahlreiche öffentliche und nicht öffentliche Veranstaltungen statt. „Die einzelnen Kapitel verstehen sich eher als Vistitenkarte, als Einladung, die abgebildeten Häuser selbst zu entdecken“, so Alexander Rudolph. Alle, die diesen Häusern wieder Leben schenkten, haben ihre Bestimmung gefunden: Sie nahmen Abschied vom Geist der Fernziele und sehen Handlung, Zeit und Ort als Einheit. Sie haben gelernt, geistesgegenwärtig zu sein und auf das hinzuhören, was der Augenblick bietet fernab des „Ich-müsste-noch“.
Bauchgefühl im Management. Die Rolle der Intuition in Wirtschaft, Gesellschaft und Sport. Hg. von Alexandra Hildebrandt und Werner Neumüller. SpringerGabler Verlag 2021.
Bert Martin Ohnemüller: LEAD SPEAK INSPIRE: Eine Inspirationsquelle für die vor uns liegende "Dekade der Menschlichkeit", die neue Sichtweisen auf Führung, Teams und Unternehmenserfolg fordert. Frankfurt a. M. 2016.
Alexander Rudolph: Von Gutsbesitzern und Schlossgeschichten. 2. Aufl. Hinstorff Verlag, Rostock 2022.
Jonathan Sierck: Fü(h)r Dich Selbst: Mit dem richtigen Mindset zum Erfolg. Münster 2014 (Edition Octopus).