Die eigene Bibliothek als Denkwerkstatt: Zur Aktualität von Sepp Herberger
Etwas sehr gut und mit Leidenschaft verantwortungsvoll zu tun verbindet alle, die die Zukunft nicht verspielen wollen.
Sie zeichnen sich durch fachliches Wissen, Können, Überzeugungskraft, feinfühlige Menschenführung und Erfahrung aus – und sie wissen instinktiv, was richtig ist. Der Journalist Jürgen Leinemann hat in seiner Biografie „Sepp Herberger. Ein Leben, eine Legende“ (Berlin, 1997) die autobiografischen Aufzeichnungen, Briefe, Berichte und Dokumente von Sepp Herberger (1897 – 1977) verarbeitet. Er nannte ihn einen „postmodernen Visionär“, aber auch „ein Fossil an Prinzipientreue und Disziplin, ein Ausbund aller preußischen Tugenden“. Fleiß, Verlässlichkeit, sozial verantwortliches Handeln und Augenmaß waren für ihn elementar. Er folgte kompromisslos seiner Überzeugung „Gemeinsinn geht vor Eigensinn“.
Der Sohn einer achtköpfigen Familie verlor seinen Vater, als er zwölf Jahre alt war. Aufgewachsen im Arbeiterviertel Waldhof, verdiente er sein erstes Geld in einer Mechaniker-Werkstatt und anschließend bei einer Bank. Mit 17 Jahren spielte er in der ersten Mannschaft des SV Waldhof Mannheim, wo er seine ersten Erfolge feierte. 1930 beendete er seine aktive Spielerlaufbahn. Berühmt wurde er als Bundestrainer der Nationalelf. Der Höhepunkt seiner Karriere war der Gewinn des Titels der Weltmeisterschaft 1954, deren Endspiel als „Wunder von Bern“ in die Fußballgeschichte einging. „Zum ersten Mal nach dem Krieg standen die Deutschen oben, und das gar nicht angefeindet“, sagte Hans-Dietrich Genscher. Der grüne Rasen blieb Herbergers wahre Heimat und gab ihm jene Bodennähe, die ihn niemals abheben ließ.
Die Bücher von Sepp Herberger galten bis vor einigen Jahren als unerforschtes Refugium.
Journalisten und Gesprächspartner lud er gern zu sich nach Hohensachsen in Weinheim ein, wo er ihnen seine stattliche Bibliothek, die rund 1.500 Büchern umfasste, präsentierte und sich gern davor fotografieren ließ. Die Bücherwand diente ihm auch als Statussymbol: Der Junge aus ärmsten Verhältnissen hatte es bis ganz nach oben geschafft (allerdings ohne „die ganz unten“ nicht zu vergessen). Seine Bibliothek bestand aus populärwissenschaftlichen Ratgebern, Rhetorik-Handbüchern, Abhandlungen über Militärstrategien und -theorie, Kriegsführung und Gefechtstaktik, darunter beispielsweise Carl von Clausewitz‘ „Strategie aus dem Jahr 1804 mit Zusätzen von 1808 und 1809“ (Hamburg, 1937). 1928 gelangte die 1864 erstmals veröffentlichte Sammlung „Geflügelte Worte. Der Zitatenschatz des deutschen Volks“ (Berlin, 1926) von Georg Büchmann in seine Privatbibliothek.
Herberger war ein universeller Leser, der an allem interessiert war, „wenn er nur Beziehungen zu seinem Lebensinhalt ‚Fußball‘ herstellen konnte“, schreibt Manuel Neukirchner in seinem Buch über die unbekannten Seiten der Trainer-Legende, „Herbergers Welt der Bücher“. Voller Hingabe hat er seine Bücher nicht nur gelesen, sondern „durchforstet“. Es finden sich darin zahlreiche Anmerkungen, Unterstreichungen und Textzettel. „Die Spuren in den Büchern verraten, welche Ansätze und Anleihen er für eine Gedankenwelt nutzbar machen wollte.“ Daraus setzte er sein Weltbild zusammen und entwickelte seine fußballerischen Strategien.
Im Studierzimmer unter der Dachschräge seines Hauses „ordnete und belebte er seine Gedanken, formulierte Leitsätze für seine Lehre“. In seinem Buch lüftet Neukirchner auch das Geheimnis, dass ihm der amerikanische Motivationstrainer Dale Carnegie mit seinem Hauptwerk „Wie man Freunde gewinnt“ (Zürich, Leipzig, 1938) die Vorlage für seine Strategien der positiven, indirekten Beeinflussung lieferte. Auch die Erstausgabe seines Buches „Sorge dich nicht, lebe!“ (Stuttgart, 1949), ein Klassiker der Ratgeberliteratur, fand sich in Herbergers Bücherregalen. Mit seinem Füllfederhalter unterstrich er hier Wörter, Sätze und sogar ganze Absätze.
Neukirchner weist akribisch nach, dass ihm seine Leitsätze als Inspirationsquelle für seine berühmten Weisheiten dienten: Der unterstrichene Satz „Eine Aufgabe nach der anderen“ verweist beispielsweise auf Herbergers „Nach dem Spiel ist vor dem Spiel“ oder „Das nächste Spiel ist immer das schwerste“.
Die Sonderausstellung des Deutschen Fußballmuseums und der Sepp-Herberger-Stiftung „Herbergers Welt der Bücher – Die unbekannten Seiten der Trainer-Legende“ war unter anderem in Berlin und in der Universitätsbibliothek Mannheim zu sehen. Anhand ausgewählter Werke aus Herbergers Sammlung wurde das Leben und Wirken des „Chefs“ aus ungewöhnlicher Perspektive präsentiert. Ins Deutsche Fußballmuseum kamen zur Sonderausstellung zwischen April und Dezember 2017 über 150.000 Besucher, während ihrer vierwöchigen Präsenz in Berlin besuchten rund 27.000 Gäste die Ausstellungsräume im Roten Rathaus.
Manuel Neukirchner, Direktor des Deutschen Fußballmuseums und Vorsitzender der Geschäftsführung der DFB-Stiftung Deutsches Fußballmuseum gGmbH, ist nicht nur Autor des gleichnamigen Begleitbuchs, sondern auch Spiritus Rector der Sonderausstellung gewesen. Neukirchner studierte an der Bergischen Universität Wuppertal mit dem Abschluss „Magister Artium“ (M.A.) Allgemeine Literaturwissenschaft, Neuere Deutsche Literaturgeschichte und Geschichte. Während und nach seinem Studium arbeitete er als freier Print- und Hörfunkjournalist mit den Schwerpunkten Kultur- und Sportjournalismus. Berufliche Stationen folgten in der Zeit von 1997 bis 2009 als Pressesprecher von Rot-Weiss Essen, Persönlicher Referent und Büroleiter der DFB-Präsidenten Egidius Braun und Gerhard Mayer-Vorfelder, Leiter Unternehmenskommunikation und Investor Relations bei Borussia Dortmund, Pressechef des Organisationskomitees der WM 2006 für den Spielort Dortmund und Leiter Medienzentrum West, geschäftsführendes Vorstandsmitglied der DFB-Stiftung Sepp Herberger (Geschäftsführer) und der DFB-Stiftung Egidius Braun (Stv. Geschäftsführer).
Ein großes Verdienst von ihm ist es auch, Herberger ins 21. Jahrhundert zu „übersetzen“: Was können wir von seinen Strategien auf dem Platz lernen? Warum sind seine berühmten Sprüche noch immer aktuell? Wie können aus Leerformeln Lehrformeln werden? Was hat er Managern und Führungskräften heute zu sagen? Neukirchner ist auch davon überzeugt, dass Herberger Social Media „als einer der ersten seiner Zunft zu nutzen gewusst“ hätte. Wenn seine Botschaften an die Spieler damals besonders „nachhaltig“ sein sollten, nutzte er die Briefform. Sehr schön aufbereitet ist das Thema im Büchlein „Post vom ‚Chef‘“ das einige Briefe Herbergers an die Weltmeister enthält und ebenfalls von Manuel Neukirchner herausgegeben wurde.
Die Erinnerung an ihn bleibt durch die Sepp–Herberger-Stiftung, die älteste deutsche Fußballstiftung, lebendig. Sie engagiert sich in vier Tätigkeitsbereichen (Behindertenfußball, Resozialisierung, Schulen und Vereinen sowie dem DFB-Sozialwerk) und ist davon überzeugt, dass die humane und dauerhaft wiedererkennbare „Marke“ Sepp Herberger mehr ist als ein historisches Zeugnis, nämlich ein leuchtendes Signal unserer Fußballkultur.
Weiterführende Informationen:
Manuel Neukirchner: Herbergers Welt der Bücher: Die unbekannten Seiten der Trainer-Legende. Verlag Die Werkstatt. 2. Auflage 2018.
Manuel Neukirchner (Hg.): Post vom „Chef“. Herbergers Briefe an die Weltmeister. Delius Klasing Verlag, Bielefeld 2019.
Tobias Wrzesinski: Doppelpass der Generationen in der Tradition von Egidius Braun und Sepp Herberger. In: Visionäre von heute – Gestalter von morgen. Hg. von Alexandra Hildebrandt und Werner Neumüller. SpringerGabler Verlag, Heidelberg, Berlin 2018