Die Erdgasnetze: Milliardengrab mit sozialer Sprengkraft
Die für viele Milliarden gebauten deutschen Gasnetze werden in 20 Jahren weitgehend überflüssig, wenn Deutschland bis 2045 klimaneutral sein muss. Zum Transport von Wasserstoff sind sie offenbar ungeeignet – dafür dürften die Netzentgelte drastisch steigen, wenn es immer weniger Kunden gibt. Hohe Gasrechnungen könnten neue Empörungswellen auslösen.
Der Ausbau der Netze begann vor mehr als 100 Jahren, in den 1960ern ging es richtig los. Heute liegen in Deutschland etwa 600.000 Kilometer Gasleitungen unter der Erde, McKinsey schätzt ihren Wert auf 270 Milliarden Euro (die aber weitgehend abgeschrieben sind). In 20 Jahren sollte der Wert in der Nähe von null sein – das Ziel der Klimaneutralität verträgt sich nicht mit fossilen Brennstoffen im Gebäudesektor. Doch der Weg dahin wird in jeder Hinsicht teuer, auch für die Verbraucher.
Steigen die Gaspreise, sind dafür viele Treiber verantwortlich, etwa der reine Weltmarktpreis, derzeit dominiert durch den russischen Krieg gegen die Ukraine. Aktuell macht auch der niedrige Füllstand der Gasspeicher Sorgen, der Speicherverband INES berichtet, der Stand liege bei etwa 32 Prozent, deutlich weniger als zum gleichen Zeitpunkt 2024. Die erwarteten Preise im Sommer, wenn üblicherweise günstig aufgefüllt wird, liegen allerdings höher. Laut „Spiegel online“ droht „der nächste Kostenschock.“
Der Letzte müsste alles bezahlen
Langfristig wichtiger sind aber Schockeffekte, die voraussehbar in der Zukunft liegen. Da ist zum einen die CO2-Bepreisung – 2027, und ab da zunehmend, wirkt sich der EU-Emissionshandel („ETS2“) aus. Zum anderen die Netzentgelte: Je mehr Kunden auf Wärmepumpe oder Fernwärme umsteigen, desto höher werden die Kosten für die verbliebenen Gasnutzer. Rein rechnerisch müsste der letzte Gaskunde das gesamte Netz finanzieren.
„Es sieht insgesamt nicht gut aus für Gasheizungen“, sagt Jan Rosenow, Europa-Direktor des Think-Tanks Regulatory Assistance Project. Seine Hoffnung ruht auf dem Gemeinsinn in den Kommunen: „Mannheim zum Beispiel macht es gerade ganz gut.“ Dort ist der regionale Versorger MVV vorgeprescht und hat das Gas-Aus für 2035 angekündigt, auch Hamburg soll mit entsprechenden Plänen sehr weit sein.
In Mannheim waren mit der Ankündigung sofort umfassende Informationen und Hilfsangebote bereit: wer Fernwärme schon nutzen kann, wo sie noch ausgebaut wird, wer auf Wärmepumpe oder andere Alternativen umsteigen muss, und zwar mit finanzieller und organisatorischer Unterstützung von Stadt und Stadtwerken.
Gegenwind für Vorbild Mannheim
„Natürlich gibt es in Mannheim auch Gegenwind“, sagt Rosenow. So wird es bald überall sein. Die Zahl der mit Gas beheizten Haushalte ist eben erst unter die 50-Prozent-Marke gesunken, circa 20 Millionen Wohnungen hängen am Gasnetz. Mehr noch: 2023 wurden 790.000 neue Gasheizungen verbaut, im Jahr 2024 immer noch rund 410.500. Etwa 1,2 Millionen Haushalte haben also angesichts des reformierten Gebäude-Energie-Gesetzes (GEG) und der „Heizhammer“-Schlagzeilen von Medien und Politikern auf Gas für die Zukunft gesetzt.
Reue nach den „Heizhammer“-Käufen
Die Wahrscheinlichkeit ist hoch, dass sie diese Entscheidung früher oder später bereuen werden – und dass die Wut über massiv steigende Kosten die „Heizhammer“-Empörung noch in den Schatten stellen könnte. Viele haben womöglich angenommen, eine zukünftige Regierung würde die absehbaren Kosten – vor allem die CO2-Bepreisung – schon wieder aus der Welt schaffen. Ein Szenario, in dem das Pariser Abkommen und die EU-Gesetze zur Klimapolitik ausgehebelt werden, ist aber trotz politischer Erdrutsche kaum denkbar.
Die grundlegende Frage wird selten gestellt: Was wird aus den Gasnetzen, zu Milliardenkosten im Erdreich verbuddelt, wenn die Energiewende gelingt und sie überflüssig werden? Die kurze Antwort: Ein (wohl kleiner) Teil wird in das künftige Wasserstoffnetz übergehen, der Rest liegt dann entweder als „stranded asset“ im Boden oder muss sogar zurückgebaut werden. An ihre Stelle treten Fernwärme und Wärmepumpen, die zum Symbol der aus Sicht seiner Kritiker „ideologischen“ Politik des Grünen-Wirtschaftsministers Robert Habeck geworden sind.
Wasserstoff wird anderswo gebraucht
Aber was ist mit dem Wasserstoff, den manche für einen kommenden Eins-zu-eins-Ersatz in den Leitungen halten? Die als „H2-ready“ vermarkteten neuen Gasthermen vertragen tatsächlich nur eine Beimischung von Wasserstoff, das Gleiche gilt für die bestehenden Leitungen, die umgerüstet werden müssten. Die meisten Experten – Wissenschaftler wie Marktakteure – gehen davon aus, dass Wasserstoff zum Heizen wie auch für den PKW-Verkehr keine Rolle spielen wird. Das wäre unwirtschaftlich, und der sogenannte Champagner der Energiewende wird ohnehin anderswo gebraucht, speziell für industrielle Prozesse. „Ich weiß von keinem Netzbetreiber in Europa, der mit Wasserstoff plant“, sagt Rosenow.
Das Problem der steigenden Netzentgelte bewegt Fachleute durchaus. Eine Agora-Studie von 2023 plädiert dringend dafür, den Ordnungsrahmen für die Transformation schnell anzupassen. Dazu gehören Anreize für Netzbetreiber und Kunden, den Umstieg frühzeitig anzugehen. Modellrechnungen ergeben, dass sich die Netzentgelte bis zum Aus 2045 verdrei- bis vervierfachen könnten, gegen Ende ist sogar der Faktor 9 bis 16 möglich. Das wird zwar erst in den 2030er-Jahren richtig durchschlagen, die vielen frisch installierten Gasbrenner gehen dann aber erst in die Mitte ihrer erhofften Lebensdauer.
Anreize setzen für die Akzeptanz der Bürger
Damit es so arg nicht kommt, schlagen die Autoren die Definition von „Kipppunkten“ durch die Kommunen vor: Ist ein solcher erreicht, dürften die Netzbetreiber den verbleibenden Kunden kündigen. Ein Bonussystem, von dem Betreiber wie Kunden profitieren, soll finanzielle Anreize setzen, den jeweiligen Netzabschnitt möglichst schnell stillzulegen.
Auch der Verbraucherzentrale Bundesverband sorgt sich in einem aktuellen Gutachten um die Kostenbelastung der privaten Haushalte und empfiehlt, staatliche Absicherungen schon jetzt zu planen, um das Risiko zu „sozialisieren“. Die Bundesnetzagentur, Aufsichtsbehörde auch der Gasnetzbetreiber, hat schon Ende 2024 ermöglicht, die Abschreibung der Anlagen zu beschleunigen. Das könnte bedeuten, dass extreme Steigerungen in den 2030er-Jahren zwar gedämpft, erhöhte Entgelte aber schon bald fällig werden.
„Viele Regelungen für Erdgasverteilnetze setzen auf ein Weiter-so, trotz erheblicher Kostenrisiken für Kunden und Betreiber“, sagt Uta Weiß, Programmleiterin Gebäude und Wärmenetze bei Agora. Es gebe aber Fortschritte, wie die beschleunigten Abschreibungen und das EU-Gasbinnenmarktpaket, das Stilllegungen bei rückläufiger Nachfrage erlaubt.
Ein Angelpunkt der Gaswende in Gebäuden wird die Akzeptanz der Bürger sein, Agora empfiehlt eine „begleitende Kommunikationskampagne mit Erläuterungen und Informationen“. Genau das hat schon beim GEG nicht so gut geklappt, das Ergebnis waren viel Arbeit für Gas-Installateure und unnötige Ressentiments gegen harmlose Wärmepumpen. In Mannheim und anderswo wird man bald sehen, ob es besser geht.
______________