Die Gesundmacher: Neuronale Netze und das geheime Netzwerk der Natur
Die Wirkung der Natur
Die Wirkung von Glück auf den Menschen ist hinreichend erforscht – die Wirkung der Natur dagegen weniger. Das ändert sich allerdings gerade, was nicht zuletzt auf Bücher wie „Das geheime Leben der Bäume“, „Gebrauchsanweisung für den Wald“, „Das geheime Netzwerk der Natur“ des schreibenden Försters Peter Wohlleben zurückzuführen ist. Wälder sind für ihn nicht nur „Holzfabriken und Rohstofflager“, sondern auch Lebensräume für viele Tier- und Pflanzenarten, die miteinander verwoben und voneinander abhängig sind. Immer, wenn sie sich artgerecht entfalten können, bieten sie Schutz und Erholung. Mit seinem Engagement setzt er ein hoffnungsvolles Zeichen für die Zukunft, dass das geheime Leben der Wälder und der Bäume weiterhin stattfindet und auch unsere Nachfahren noch staunend zwischen den Bäumen spazieren können.
Der Aufenthalt in der Natur verbessert die Stimmung und entlastet die Atemwege. Deshalb ist es wichtig, in die Stadtbebauung mehr Grün zu integrieren – das beeinflusst positiv Herzschlag und das vegetative Nervensystem. „Es geht dabei nicht um Sauerstoff, sondern offensichtlich um einen Reiz, der unser vegetatives Nervensystem runterfahren lässt“, sagt Peter Falkei, Direktor der Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie am Klinikum der Ludwig-Maximilians-Universität (LMU) in München. Wenn man durch einen Wald geht, werden die neuronalen Netze „heruntergefahren“. Er vermutet, dass dies mit einem Gefühl von Geborgenheit zu tun hat, einem Schutz vor Lärm und Stress. Auch regenerieren sich Hirnareale, die zuständig für Aufmerksamkeit und Konzentration sind, während eines Spaziergangs, der uns hilft, wieder ins Gleichgewicht zu kommen in der Schräglage der Welt.
Städte machen nervöser und lassen Menschen schlechter schlafen. Auch Lichtverschmutzung ist ein enormes Gesundheitsrisiko. Im Gehirn kommen die beiden Schaltstellen Mandelkern und Cingulum ins Spiel: Der Mandelkern reagiert auf Dinge, die er nicht kennt und nicht verorten kann; das Cingulum macht den Relevanzcheck: Ist etwas wichtig für die eigene Person oder nicht? Aktuelle Studien belegen, dass beide bei Menschen, die in Städten mit mehr als 100.000 Einwohnern aufwachsen, aktiver sind, was zu einer Grundunruhe der Städter führt, „einer Art unproduktiven Aufmerksamkeit“ (Falkei). Meistens sind Depressionen oder Angsterkrankungen auf private Stressfaktoren und berufliche Probleme zurückzuführen.
Viele Menschen greifen dann auf Antidepressiva zurück. Laut Depressionsatlas der deutschen Techniker Krankenkasse hat sich zwischen 2000 und 2013 die verschriebene Tagesmenge an Antidepressiva verdreifacht. 2015 zahlten die gesetzlichen Krankenversicherungen dafür rund 750 Millionen Euro an die Pharmaindustrie. Statt auf Medikamente zu setzen verordnen Ärzte in Japan ihren Patienten Waldtherapien, denn bewusstes Gehen durch den Wald ist gesundheitsfördernd. Inzwischen hat der Trend auch Deutschland erreicht. Auf Usedom darf sich seit September 2017 ein Wald „Kur- und Heilwald“ nennen.
Yoshifumi Miyazaki gilt als einer der weltweit führenden Experten zum Thema Shinrin Yoku (japanisch für „Waldbaden“). Der Forscher und stellvertretende Direktor des Zentrums für Umwelt, Gesundheit und Feldforschung an der Chiba Universität erhielt für die Klärung der gesundheitlichen Vorteile von Shinrin Yoku Auszeichnungen vom japanischen Landwirtschaftsministerium und der Japanischen Gesellschaft für physiologische Anthropologie. Bereits 1990 führte er die ersten Experimente zu den physiologischen Auswirkungen des Shinrin Yoku auf der japanischen Insel Yakushima durch. Er suchte nach Antworten auf eine Frage, die ihn seit seiner Kindheit beschäftigte: „Warum sind wir in der Natur so entspannt?“ Der technische Fortschritt in den folgenden Jahren ermöglichte schließlich eine genauere wissenschaftliche Forschung, sodass ihm die japanische Regierung 2004 ein großes Forschungsbudget zur Verfügung – der Beginn der Waldtherapieforschung.
In seinem Buch „Shinrin Yoku – Heilsames Waldbaden. Die japanische Therapie für innere Ruhe, erholsamen Schlaf und ein starkes Immunsystem“ vereint er altes Wissen mit aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnissen aus der Umweltmedizin und bietet zahlreiche praktische Anwendungen. Shinrin Yoku, eine immer mehr in Mode kommende Form der Präventivmedizin, ist aus der Intuition heraus entstanden. Allerdings wird ihre Wirksamkeit mittlerweile durch immer mehr wissenschaftliche Studien gestützt, die ihre zahlreichen gesundheitlichen Vorzüge bestätigen:
Messbare Wirkungen der Waldtherapie
• Verbesserte Immunabwehr mit einer steigenden Anzahl an natürlichen Killerzellen (NKZellen), die Tumoren und Infektionen bekämpfen
• Vermehrte Entspannung des Körpers durch eine erhöhte Aktivität des Parasympathikus
• Stressreduzierung durch eine verringerte Aktivität des sympathischen Nervensystems
• Senkung des Blutdrucks nach nur 15 Minuten
• Verringertes Stressempfinden, dafür ein allgemein verbessertes Wohlbefinden
• Senkung des Blutdrucks nach einem Tag Waldtherapie, die bis zu fünf Tage anhält.
Auch Stadtparks, Gemeinschaftsgärten oder Stadtfarmen bieten sich an, um mit der Natur wieder tiefer in Berührung zu kommen.
Für 94 Prozent der erwachsenen Deutschen gehören die Natur und insbesondere der Wald zu einem guten Leben. Das ist das Ergebnis einer Studie des Bundesamtes für Naturschutz (BfN) zum Naturbewusstsein der Deutschen, die 2016 erschien. Die Nähe zur Natur ist mit einer größeren Lebenszufriedenheit verbunden.
Bäume haben bis heute nur deshalb überlebt, weil sie eine enorme (Widerstands-)Kraft bzw. Resilienz und genetische Vielfalt innerhalb einer Art aufweisen. „Fest und stark ist nur der Baum, der unablässig Winden ausgesetzt war, denn im Kampf festigen und verstärken sich seine Wurzeln“, schrieb schon der römische Philosoph Seneca. Wo sich Bäume wieder erneuern, erleben sich auch die Menschen als selbst regulierendes Prinzip. Bäume, die bis heute einzigartig sind, dienten den Menschen als Heiligtum, als Nahrungs- und Inspirationsquelle. Prominente Baumliebhaber waren Goethe, Beethoven, Abraham Lincoln, Bismarck, Hermann Hesse, Kurt Tucholsky, Winston Churchill, Ruth Maria Kubitschek oder Michael Gorbatschow.
Der Wald hat heute neben der Holzproduktion seine größte Bedeutung im Klimaschutz - nämlich die (über)lebensnotwendige CO2-Sequestrierung. Deshalb muss eine nachhaltige Optimierung zwischen der Holzproduktion und der Klimawirkung gesucht werden. Viele große private Waldbesitzer in Deutschland haben (häufig im Gegensatz zu den Staatsforsten) seit langem einen hohen Holzvorrat im Wald angestrebt. Damit verbunden ist die Befolgung einer dynamischen Nachhaltigkeitsregel (Holz + CO2-Sequestrierung). In absehbarer Zukunft muss viel weniger Holz geschlagen werden, denn für den Klimaschutz ist es zwingend, die Biomasse im Wald mindestens bis ins Jahr 2150 so hoch wie möglich anwachsen zu lassen.
Der Begriff Nachhaltigkeit kommt aus der Forstwirtschaft und bezeichnet die Nutzung eines regenerierbaren Systems, so dass es in seinen wesentlichen Eigenschaften erhalten bleibt und sich auf natürliche Weise erneuern kann. Der US-amerikanische Songwriter, Country- und Folk-Sänger Songwriter John Denver gründete die Organisation „Plant It 2000“ zur Wiederaufforstung hunderttausender Bäume, der Unternehmer und Umweltaktivist Douglas Tompkins, Gründer und ehemaliger Chef der Textilmarken The North Face und Esprit Holdings Limited, kaufte ein großes Gebiet in Argentinien und Chile auf, um Nationalparks zu schaffen. Und der ehemalige Chefdirigent der Berliner Philharmoniker Claudio Abbado ermöglichte mit zwei Konzerthonoraren die Anpflanzung von 90.000 Bäumen in seiner Heimatstadt Mailand.
In seinem Privatgarten am Landsitz Highgrove spricht Prinz Charles regelmäßig mit seinen Bäumen und behandelt sie fast wie Persönlichkeiten. Zudem setzt er sich seit Jahrzehnten mit seinen Stiftungen für Naturschutz und Artenvielfalt ein. Als der Reformator Martin Luther im April 1539 in seinem Garten die Bäume betrachtete, sprach er: „Gelobt sei Gott, der Schöpfer, der aus toten verstorbenen Kreaturen im Lenz alles wieder lebendig macht!“ Er liebte Bäume aber nicht nur wegen ihrer Erhabenheit und Schönheit, sondern auch wegen ihres nachhaltigen Nutzens. Sein berühmter Satz „Wenn ich wüsste, dass morgen die Welt unterginge, würde ich heute noch ein Apfelbäumchen pflanzen.“, lässt sich zwar nicht belegbar nachweisen, weil der erste schriftliche Nachweis erst in einem Rundbrief der hessischen Kirche aus dem Jahre 1944 zu finden ist - dennoch wäre diese Aussage sicher in seinem Sinne gewesen.
Ein immerwährender Neuanfang.
Weiterführnde Literatur:
Das Grundrauschen. Interview mit Peter Falkai von Anna Hoben. In: Süddeutsche Zeitung (4./5.2017), S. 85.
Alexandra Hildebrandt und Claudia Silber: Gut zu wissen... wie es grüner geht: Die wichtigsten Tipps für ein bewusstes Leben von Amazon Media EU S.à r.l. Kindle Edition 2017.
Menschen über Bäume. Gedanken, Begebenheiten und Anekdoten aus vier Jahrtausenden. Zusammengestellt und herausgegeben von Dietmar Olonscheck. Oekom Verlag, München 2017.
Yoshifumi Miyazaki: Shinrin Yoku - Die japanische Kunst des Waldbadens: Die japanische Therapie für innere Ruhe, erholsamen Schlaf und ein starkes Immunsystem. Randomhouse, München 2018.
Wolfgang Schmidbauer: Raubbau an der Seele. Psychogramm einer überforderten Gesellschaft. Oekom Verlag, München 2017.
Peter Wohlleben: Das geheime Leben der Bäume. Was sie fühlen, wie sie kommunizieren – die Entdeckung einer verborgenen Welt. Ludwig Verlag München 2015.