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Die große Kündigungswelle ist ein Missverständnis

Die „Great Resignation“ ist viel mehr als eine Kündigungswelle. Diejenigen, die gehen, verlassen nicht nur ihre Jobs. Sie richten ihr Leben und ihre Karriereziele neu aus. Zwei Beispiele zeigen, wie Menschen sich neu erfinden.

Von Whitney Johnson

Eine Bewegung hat begonnen. Eine Kündigungswelle, die vor allem die USA überrollt, wo Millionen Menschen ihren Job aufgegeben haben. Ausgelöst von der Pandemie, einem Ereignis, wie es die meisten von uns noch nie erlebt haben. Die Kündigungswelle setzte, bedingt durch Corona, vor zwei Jahren ein und breitet sich immer weiter aus, auch wenn die Pandemie selbst es nicht mehr tut. Man hat sie „The Great Resignation“ genannt, den „großen Rückzug“. Aber diese Bezeichnung ist meiner Meinung nach unzutreffend. Ich möchte sie vielmehr als „Great Aspiration“ bezeichnen, das „Große Streben nach neuen Zielen“.

Die Pandemie führte zu tief greifenden Umbrüchen und hat viele Menschen ­unvermittelt zu gravierenden Veränderungen gezwungen. Viele haben ihre Prioritäten auf den Prüfstand gestellt, neu austariert und selbstbestimmt Entscheidungen getroffen: Wo und für wen sie arbeiten wollen. Wo sie wohnen möchten. Ob sie zurück ins Büro kommen oder weiter daheim arbeiten wollen. Viele Arbeitnehmer haben darüber nachgedacht, wie sie Berufstätigkeit und Familie – Kinderbetreuung und pflegebedürftige Eltern etwa – bestmöglich vereinbaren können. Kurzum: Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter streben stärker als je zuvor danach, ihr Leben proaktiv in die Hand zu nehmen.

Die meisten Menschen, die kündigen, steigen nicht einfach aus. Sie folgen einem Traum.

Natürlich gibt es Ausnahmen, wo Selbstbestimmung nicht möglich war und ist: Vor allem Frauen waren durch die Lockdowns gezwungen, ihre Berufstätigkeit einzuschränken. Ich wage vorher­zusagen, dass es in den kommenden Jahren zu einem Anstieg von „Heimarbeit“ kommen wird: zu neuen Geschäftsideen, neuen Firmen und (Klein-)Unternehmen, gegründet von findigen und innovativen Menschen, die, aus welchen Gründen auch immer, nicht in den traditionellen Arbeitsalltag zurückkönnen oder -wollen. Die meisten von ihnen verfolgen neue Ziele, streben nach Neuem. Leider dürften einige auch ganz aus dem Berufsleben ausscheiden – die Veränderungen waren ihnen zu gravierend. Für sie ist der Umbruch endgültig.

Die Bezeichnung Great Resignation ist meiner Meinung nach gleichwohl falsch. Die meisten Menschen, die kündigen, steigen nicht einfach aus. Sie folgen einem Traum, der unter den widrigen Umständen der Pandemie konkrete Formen angenommen hat. Sie streben danach, sich in den Bereichen weiterzuentwickeln, die ihnen am wichtigsten sind.

Nun ist dieses Phänomen zwar nichts, was die meisten von uns schon einmal erlebt haben. Es ist aber auch nichts wirklich Neues. Menschen waren schon früher mit unerwarteten Umbrüchen konfrontiert und haben sich angepasst. Man denke nur an die massiven gesellschaftlichen Umwälzungen, die durch die erste Industrielle Revolution verursacht wurden

Eine meiner Mitarbeiterinnen erzählt häufiger von ihrem Urgroßvater, der ab seinem 13. Lebensjahr sieben Jahre lang für einen Hufschmied arbeitete. Als junger Vater zog er mit seiner Familie von der Ost- an die Westküste der USA und gründete in Kalifornien seine eigene Schmiede.

Anfang des 20. Jahrhunderts, im besten Alter, wurde er aus der Bahn geworfen: Das Auto setzte sich durch. Die Nachfrage nach Fuhrwerken und damit auch nach Hufeisen für die Pferde, die diese zogen, brach rasch ein. Doch der Großvater bildete sich weiter. Er wurde Generalunternehmer, was sich zur Zeit des kalifornischen Baubooms als weitaus lukrativer erwies, als sein Schmiedehandwerk je hätte werden können.

Die Situation heute ist sehr ähnlich. Sie bietet die Gelegenheit, die eigenen Karriere- und Lebensziele zu überdenken und neu zu definieren. Und zwar in eine Richtung, bei der das persönliche Wachstum im Zentrum steht.

Einer der in diesem Sinne bemerkenswertesten Gäste in meinem Podcast war Feyzi Fatehi, CEO der Cloudfirma Corent Technology. Fatehi, der aus dem Iran stammt, verließ schon als Jugendlicher seine Heimat. Er besuchte zunächst ein Internat in Cambridge, England, und bereits im Jahr darauf die Hun School in den Vereinigten Staaten. Schon als Teenager bewältigte er die Herausforderung, seine Heimat zu verlassen und sich neu zu orientieren.

Fatehi studierte dann an der University of Texas, Austin, und schloss sein Studium als erster Solaringenieur ab – in ­einem von ihm mitentwickelten neuen Studienzweig, der Architektur, Maschinenbau und Elektrotechnik kombinierte. „Kaum hatte ich meinen Abschluss gemacht, änderte die Regierung ihre Politik, und alle Steuersubventionen fielen weg. Mein Traum, als Solaringenieur zu arbeiten, starb an diesem Tag“, erzählte er mir. „Ich habe meinen Abschluss gemacht und musste mich augenblicklich neu orientieren, weil der Markt nicht mehr existierte.“ Fatehi ist ein wachstumsorientierter Mensch und einer der engagier­testen „Disruptoren“, die ich kenne. Er gab nicht auf, als sein Traum starb. Stattdessen ging er zurück an die Universität und verbrachte drei Jahre damit, ein neues Fachgebiet zu erlernen: Softwarearchitektur. Um sich bis zum Master finanziell über Wasser zu halten, briet er Hamburger und arbeitete als Hausmeister. Obwohl zur Zeit seines zweiten Studienabschlusses eine schwere Wirtschaftsflaute herrschte, wurde ihm eine Stelle bei Hewlett Packard (HP) angeboten – während eines Einstellungsstopps.

"Wenn man sich zu wohlfühlt, gibt es nicht mehr viel zu lernen."
Feyzi Fatehi, CEO von Corent Technology

Bei HP arbeitete er an einer Vielzahl ­innovativer Projekte. Wann immer eine Tätigkeit keine Herausforderung mehr darstellte, wandte er sich an seinen Vorgesetzten, um ein neues Betätigungsfeld zu suchen. Er absolvierte ein berufsbegleitendes MBA-Studium. Nach 14 Jahren hatte er dennoch das Gefühl, dass ihm die Möglichkeiten ausgingen, etwas Neues zu lernen. „Ich habe immer nach dem Motto gelebt, dass man sich bewegen muss“, sagt er. „Wenn man sich zu wohlfühlt, gibt es nicht mehr viel zu lernen.“

Fatehi verließ HP und stieg in ein visionäres Start-up im Bereich IT-Dienst­leistungen ein. Er halbierte sein Gehalt und verzichtete auf Aktienoptionen. Das neue Unternehmen war das erste in seiner Branche, das einen Wert von einer Mil­liarde Dollar erreichte, aber sie waren, so Fatehi, einfach fünf bis sieben Jahre zu früh dran. Weiteres Wachstum in dieser Größenordnung war nicht möglich. Ein Artikel über die Cloud ließ Fatehi daher 2005 erneut die Richtung ändern. Er weckte seine Neugier und führte zu seinem nächsten Unternehmen, Corent Technolgy, das er heute als CEO leitet.

Zu wissen, dass man etwas verändern will, ist jedoch nicht dasselbe wie zu wissen, welche Veränderung man vornehmen möchte. Folgende Fragen können Klarheit bringen:

  • Glauben Sie, dass Ihr neues Ziel wirklich zu erreichen ist? Welche Zwischenschritte sind eventuell nötig?

  • Lässt sich das Ziel überprüfen? Gibt es eine simple, schnelle Möglichkeit zu checken, ob es wirklich so gut passt, wie Sie es sich erhoffen?

  • Ist das neue Ziel vertraut genug, um erreichbar zu sein, und gleichzeitig neuartig genug, um eine herausfordernde Aufgabe darzustellen?

  • Ist Ihr Ziel vereinbar mit Ihrer Identität, also mit dem Bild, das Sie der Welt von sich zeigen, und auch damit, was die wichtigsten Menschen in Ihrem Leben (Eltern, Partner, Kinder, enge Freunde) von Ihnen erwarten? Wenn nicht, kann es sich dennoch lohnen, Ihr Ziel zu verfolgen. Kalkulieren Sie in diesem Fall aber Rückschläge ein.

  • Wird das Ergebnis den Preis wert sein? Einen akzeptablen Job aufzugeben, um einen Traum zu verwirklichen, ist mit so manchen Kosten verbunden, nicht nur in finanzieller Hinsicht. Wägen Sie genau ab, ob das, was Sie sich erwarten, wertvoll genug ist, um diesen Preis zu zahlen.

  • Steht das Ziel in Einklang mit Ihren Werten? Steht es im Einklang mit Ihrem Sinn des Lebens?

Die Great Aspiration stellt eine nie da gewesene Chance dar, für Unternehmen ebenso wie für Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Sicher wird es die eine oder andere unangenehme Veränderung geben. Gleichzeitig haben Führungskräfte heute Zugang zum größten Pool an Talenten, den es je gab. © HBP 2022

Die Autorin

Whitney Johnson ist CEO von Disruption Advisors, einem Unternehmen für IT- gestützte Talententwicklung, und Autorin von „Smart Growth: How to Grow Your People to Grow Your Company“ (Harvard Business Review Press).

Dieser Artikel erschien erstmals in der Juli-Ausgabe 2022 des Harvard Business managers.

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