Die große Schlaflosigkeit und Gereiztheit: Warum unsere Gesellschaft zum Erliegen kommt
Die große Schlaflosigkeit und Gereiztheit: Warum unsere Gesellschaft zum Erliegen kommt
"Wer schläft, verpasst etwas, ist nicht am Ball, gerät ins Hintertreffen. Wir Schlaflosen sind ein wachsender Teil dieser stets und ständig unter Druck stehenden Gesellschaft", schreibt der Autor und Journalist Ralph Gerstenberg in seinem Essay "WIR SCHLAFLOSEN", in dem er Schlaflosigkeit als Symptom einer Gesellschaft betrachtet, die sich keine Ruhe gönnt, Grundbedürfnisse ignoriert und keine Zeit mehr zum Regenerieren und Träumen findet. Jeder Vierte bis Fünfte leidet heute an einer Schlafstörung (Schlafapnoe, Albträume, Restlless Legs, Insomnie). Die Frage "Wie schläfst du?" ist für den Autor identisch mit der Frage "Wie lebst du?". Wenn sie ein Großteil der Menschen mit "Schlecht!" beantwortet, läuft seiner Meinung nach etwas schief in der Gesellschaft. Ralph Gerstenberg thematisiert auch seine eigenen Schlafstörungen, die während der Corona-Pandemie begannen. "Die eingetakteten Rhythmen und Abläufe des Alltags waren durch Lockdowns, Homeschooling und Präventionsmaßnahmen weitgehend außer Kraft gesetzt. Die Tage verloren ihre Struktur." Öffentliche Einrichtungen und Rundfunkanstalten, für die er arbeitete, durften nicht mehr betreten werden, es fanden vermehrt Videocalls statt, und Mails wurden beantwortet, wenn gerade Zeit war, häufig auch nachts. Hinzu kamen berufliche Unsicherheiten. Heute erscheint ihm die Corona-Krise wie ein Katalysator.
Angst vor der Zukunft (berufliche und existentielle Sorgen, Kriege, Klimawandel)
Digitalisierung und Homeoffice (Tag-und-Nacht-Rhythmus werden außer Kraft gesetzt und die Grenzen zwischen Berufs- und Privatleben durchlässiger gemacht)
öffentlicher Druck, der "rasche Ergebnisse" fordert
Serienkonsum in Abend- und Nachtstunden
Fitnesswahn und Selbstoptimierung
Stress.
Die Folgen: Gereiztheit, Nervosität, Empathieverlust, somatische Beschwerden, erhöhtes Krebsrisiko, erhöhte Fehler- und Unfallfrequenz, Gedächtnis- bzw. Konzentrationsstörungen, mangelnde Leistungsfähigkeit, psychische Störungen, Störungen des sozialen Lebens und Müdigkeit. Schlaf wird heute vor allem mit Zeitverlust in Verbindung gebracht -ein alarmierender Zustand für den Einzelnen und die Gesellschaft. Für den Neurowissenschaftler und Psychologen Matthew Walker ("Das große Buch vom Schlaf") ist Schlaflosigkeit die größte Herausforderung für die öffentliche Gesundheit. "Die große Gereiztheit" (benannt nach einem Kapitel in Thomas Manns Zauberberg) heißt denn auch ein Buch, in dem der Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen die kollektiven Erregungsspiralen unserer Tage analysiert und das Bedrohliche des "kommunikativen Klimawandels", der mit den Krisen der Welt eng vernetzt ist, in den Fokus rückt. Damit verbunden sind:
zunehmende Aggressivität und Radikalisierung
Desinformationen sowie Halb- und Unwahrheiten
Empörungswellen und -ausschläge (vor allem im Netz)
Reizbarkeit
Hyperaktivität (Nonstop-Betriebsamkeit, Überreiztheit, hohe Risikobereitschaft, Ängste).
Der Regisseur und Schauspieler Rainer Werner Fassbinder (der nur 37 Jahre alt wurde) meinte sogar: "Wer schläft, verpennt sein Leben." Im Buch von Ralph Gerstenberg finden sich vor allem viele weitere Beispiele von Unternehmern und Politikern, die prahlen, mit wenig Schlaf auszukommen. So sagte Barack Obama während seiner Präsidentschaft: "Vier Stunden müssen genügen." Von Napoleon soll der Satz stammen: "Vier Stunden schläft der Mann, fünf die Frau, sechs ein Idiot." Elon Musk und Donald Trump sind ebenfalls Kurzschläfer. In seinen Selbstdarstellungen verkürzte Trump die Angaben zu seiner Schlafdauer ständig. 1987 schlief er noch sechs Stunden, sieben Jahre später waren es nur noch vier. 2014 bemerkte er: "Wenn Sie lieben, was Sie tun, werden Sie vermutlich nicht mehr als drei oder vier Stunden schlafen." Wer schläft, verliert. Auch Joe Biden, den er als "Sleepy Joe" bezeichnete, war für ihn ein Looser. Musk sagte einmal, dass er 120 Stunden pro Woche arbeitet. Nachts schlafe er gar nicht oder er nimmt ein Schlafmittel.
Doch der regelmäßige Konsum von Schlaftabletten führt zu einer Abhängigkeit. Zudem ist es kein echter Schlaf, sondern nur eine Art "Kunstschlaf", dem die regenerierende Wirkung echten Schlafs fehle, erklärt der niederländische Neurowissenschaftler Eus van Someren. In intensiven Arbeitsphasen soll sich Musk unter seinem Schreibtisch zum Schlafen legen. Von seinen Mitarbeitenden erwartet er ein ähnliches Verhalten. Im Rahmen des Projekts "Redwood" (neue Generation von Tesla-Fahrzeugen zu niedrigen Preisen, die 2025 starten soll) sagte er seinen Angestellten: "Wir werden praktisch neben dem Fließband schlafen." Gerstenberg weist nach, dass toxische Unternehmenskultur typisch für die Übermüdungsgesellschaft der Gegenwart ist. Hinzu kommt, dass Menschen mit einem ausgeprägten Kontrollbedürfnis wie Musk und Trump schlechter schlafen, weil es sie beunruhigt, wenn sie den Schlaf nicht steuern können. Der Schlaf, sagte der Kunstkritiker und Essayist Jonathan Crary, ist heute der letzte "nicht kontrollierbare Rückzugsort".
Wer dauerhaft nur 6,75 Stunden schläft, hat ohne medizinische Hilfe eine Lebenserwartung von etwas mehr als sechzig Jahren. Wer weniger als sechs Stunden schläft, hat eine um 13 % höhere Sterblichkeitsrate als jemand, der in der Regel zwischen sieben und neun Stunden schläft. Für den SPD-Politiker Olaf Scholz sei Schlaf "überbewertet". Der CDU-Generalsekretär Carsten Linnemann hatte auf der Fahrt zur CDU-Klausurtagung nach Heidelberg nur eine Stunde im Auto geschlafen. In einer ARD-Fernsehreportage sagte er dazu: "Augen auf bei der Berufswahl!" Auch eine Runde Joggen war für ihn Pflicht, bevor er mit seinen Parteikollegen das neue Grundsatzprogramm beriet. Bei Gerstenberg findet sich auch der oft zitierte Hinweis, dass Angela Merkel während ihrer Kanzlerschaft Schlaf speichern könne wie ein Kamel das Wasser ("fünf oder sechs Tage lang"). Dann brauche sie wieder einen Tag zum Ausschlafen ("zehn, zwölf Stunden"). Aus schlafmedizinischer Sicht ist es jedoch kaum möglich, Schlafdefizite über einen längeren Zeitraum anzuhäufen, "um sie dann mit einer Runde Dauerschlaf zu kompensieren. Zudem wird der natürliche Schlafrhythmus auf diese Weise außer Kraft gesetzt." Der Autor verweist auch auf die Überlieferung, dass Angela Merkel in den Jahren ihrer Kanzlerschaft nachgesagt wurde, dass sie die Ermüdung ihrer Gesprächspartner als Zermürbungstaktik einsetzte. Bewusst soll sie schwierige Entscheidungen nach hinten verlegt haben, um dann erst später mit ihrer "Kamelkapazität" zur übermüdeten Runde dazuzustoßen. Der Essay von Nils Minkmar „Noch wach?“ widmet sich dem nächtlichen Austausch zwischen dem Philosophen Bernard-Henri Lévy und dem französischen Präsidenten Emmanuel Macron: „Die Schlaflosigkeit von Lévy und Macron ist ein kulturelles Symbol der eigenen Art.“
Vielen Politikerinnen und Politikern fehlt das Bewusstsein für das Thema Schlaf - doch wo es fehlt, kann keine gute Politik gemacht werden. Das erkannte auch Antje Kapek, die mehr als zehn Jahre lang als Fraktionsvorsitzende der Grünen im Berliner Abgeordnetenhaus war und 2022 ihren Rücktritt erklärte. In ihrem Buch "Macht und Müdigkeit" schreibt sie, dass ihr erst nach ihrem Ausstieg aus der Politik klar geworden ist, dass jemand, der ständig überfordert und übermüdet ist, keine guten Entscheidungen treffen kann. "Wer verpasst, eigene Grenzen zu respektieren, wird diese überschreiten und damit sich selbst und schlimmstenfalls sogar anderen schaden." In Verhandlungsmarathons bemerken Politiker nicht, dass sie sich in einem gefährlichen Zustand befinden, denn ihr Leistungsvermögen, ihre Reaktionsgeschwindigkeit, ihr Gedächtnis und ihre Urteilskraft lassen nach. Charles Czeisler, Professor an der Harvard University in Cambridge, bemerkte sogar, dass müde Manager wie Betrunkene handeln. Oft treffen sie - wie Politiker - Entscheidungen oft erst spät in der Nacht, wenn das operative Geschäft erledigt ist oder kehren nach Dienstreisen erschöpft direkt ins Büro zurück. Kein Patient würde zu einem alkoholisierten Arzt gehen - aber ein ganzes Volk soll auf unausgeschlafene Politiker vertrauen? Sie können Probleme lediglich verwalten statt lösen. Damit hängt auch eine sich ausbreitende Demokratiemüdigkeit zusammen. Politische und unternehmerische Entscheidungen wären sicher besser, wenn die Verantwortlichen länger geschlafen hätten. Klugheit und Schlaf gehören genauso zusammen wie Dummheit und Schlafmangel.
Ausreichender und erholsamer Schlaf beeinflusst unser Immunsystem positiv und bildet mehr Antikörper. Dadurch können Infekte besser abgewehrt oder eine Genesung gefördert werden. Aber auch der Darm beeinflusst den Schlaf: Eine stabile und gesunde Darmflora kann emotionalen Stress abfedern und positive Signale an das gestresste Gehirn senden. Dadurch beeinflusst der Darm gleichermaßen Verdauung, Stimmung, Stressniveau und Schlaf. Eine durch Stress, unausgewogene Ernährung oder Medikamenteneinnahme gestörte Darmflora kann allerdings zu Schlafstörungen führen. Es braucht eine ausreichende medizinische Infrastruktur, um Menschen mit Schlafstörungen adäquat zu therapieren. Dafür setzt sich auch Christine Bergmair ein, die seit Oktober 2023 in Steindorf das Gesundhaus i-Tüpferl betreibt. Das innovative Praxiskonzept soll aktiv den Wandel im Gesundheitswesen mitgestalten. Durch die Integration von schulmedizinischen, naturheilkundlichen und therapeutischen Aspekten sowie durch die Vernetzung von Berufen und Unternehmen aus Gesundheit, Sozialem und Medizin unter einem Dach wird eine interdisziplinäre Zusammenarbeit und ganzheitliche Patientenbegleitung gewährleistet. Zum Veranstaltungskonzept gehören auch Strategien für einen erholsamen Schlaf. Das Besondere ist allerdings die Vernetzung der damit verbundenen Themen (siehe Veranstaltungshinweise) wie Stressmanagement. Es wird vermittelt, wie Entspannungstechniken (Meditation, Yoga oder Atemübungen) helfen, Stress abzubauen und einen besseren Schlaf zu fördern.
Bewusstheit braucht tiefes Nachdenken, das Schärfen der Sinne und das Trainieren des Verstandes. Ausgeschlafene Menschen können sich besser konzentrieren, machen weniger Fehler und treffen klügere Entscheidungen. Der Schlaf ermöglicht uns, auch die eigene innere Stimme (Bauchgefühl) deutlicher vernehmbar zu machen. Die Hirnforschung ist sich weitestgehend darin einig, dass der Einfluss des Unbewussten größer ist als der des Verstandes. Ein wichtiges Thema bei Managemententscheidungen ist das Unterbewusstsein, das sich aus Wissens und Erfahrung speist. Intuition und Erfahrungswissen verbindet der Unternehmer und Personalexperte Werner Neumüller mit dem Bauchgefühl. Vor allem bei komplexen Problemen sollte unbewussten Denkprozessen vertraut werden, die ohne guten Schlaf und Ruhephasen nicht möglich sind. Erst dann können Themen wirklich durchdrungen und von möglichst vielen Seiten betrachtet werden. Doch unser Wettbewerbs- und Leistungsdenken, das sich auch in Lebensregeln wie "Morgenstund’ hat Gold im Mund" oder "Der frühe Vogel fängt den Wurm" zeigt, hat die innere Stimme vieler Menschen zum Verstummen gebracht. Nur die Poesie vermag sie noch hörbar zu machen - aber auch sie setzt das Ausgeschlafensein voraus. In "Langschläfers Morgenlied" (aus: Das lyrische Stenogrammheft) schreibt Mascha Kaléko:
"Mir ist vor Frühaufstehern immer bange. / … Das können keine wackern Männer sein: / Ein guter Mensch schläft meistens gern und lange. / – Ich bild mir diesbezüglich etwas ein … // Das mit der goldgeschmückten Morgenstunde / Hat sicher nur das Lesebuch erdacht. / Ich ruhe sanft. – Aus einem kühlen Grunde: /Ich hab mir niemals was aus Gold gemacht."
Ralph Gertstenberg: WIR SCHLAFLOSEN. Kritik der Übermüdungsgesellschaft. Carl-Auer Verlag 2924, Heidelberg 2024.
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Warum Schlafhygiene auch für eine gesunde Wirtschaft unverzichtbar ist
Was uns nicht zur Ruhe kommen lässt - und wie uns die TCM wieder ins Gleichgewicht bringt
Bauchgefühl im Management. Die Rolle der Intuition in Wirtschaft, Gesellschaft und Sport. Hg. von Alexandra Hildebrandt und Werner Neumüller. SpringerGabler Verlag 2021.
Christine Bergmair: Zukunftssicheres Umsetzen von Entwicklung und Gesundheit im Kontext von SDG 11 am Beispielprojekt i-Tüpferl. In: Zukunft Stadt: Die globale und lokale Bedeutung von SDG 11. Wie die sozialökologische Transformation in Wirtschaft und Gesellschaft gelingen kann. Handlungsempfehlungen – Chancen – Entwicklungen. Hg. von Alexandra Hildebrandt, Matthias Krieger und Peter Bachmann. SpringerGabler. Berlin, Heidelberg 2025.
Alexandra Hildebrandt: Schlaf: Warum alle erliegen, die den Kürzeren haben. Edition Kindle 2022.
Arianna Huffington: Die Neuerfindung des Erfolgs. Weisheit, Staunen, Großzügigkeit – Was uns wirklich weiterbringt. Riemann Verlag, München 2014.
Nils Minkmar: Noch wach? In: Süddeutsche Zeitung (4./5./6.7.2025. Nr. 3, S. 18.
Bernhard Pörksen: Die große Gereiztheit. Wege aus der kollektiven Erregung. Carl Hanser Verlag, München, 2018
Kai Spiegelhalder: Das Besser-schlafen-Prinzip: Mit einfachen Strategien den Schlaf optimieren und Schlafstörungen überwinden. Stiftung Warentest, Berlin 2024.
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