Dr. Alexandra Hildebrandt

Die Joker der Wirtschaft: Warum Geisteswissenschaftler in Unternehmen unverzichtbar sind

Geisteswissenschaftlern wird oft vorgeworfen, dass sie keine Bodenhaftung haben, ihr Denken flatterhaft und ihr Studium unnütz ist. Sie stehen häufig unter Rechtfertigungsdruck. „Der Krisenduktus und das Nutzlos-Narrativ kleben an den Geisteswissenschaften, insbesondere an den Philologien. Die drei zählebigsten Schlagwörter passen in einen Satz: brotloser Taxifahrer aus dem Elfenbeinturm.“ Schreibt Astrid Herbold in DIE ZEIT. Doch sind es nicht gerade die unbeachteten Exoten, die schrägen Vögel, die den grauen Mäusen in Unternehmen und Organisationen das Futter, die Ideen, bringen? Gerade weil sie für keinen speziellen Job ausgebildet werden, können sie häufig besser mit neuen Situationen, Komplexität und Problemanalysen umgehen und frischen Wind in die Unternehmensabteilungen bringen – wenn sie in der Lage sind, vorhandenes Wissen mit neuen Erfahrungen zu verknüpfen. Wer im digitalen Zeitalter Innovationen erzeugen will, braucht Menschen mit einem solch beweglichen Geist und Allgemeinbildung (das, was Generalisten auszeichnet). Sie ist kein Qualifikationsmangel, wie von Spezialisten oft behauptet wird, sondern eine Grundvoraussetzung im digitalen Zeitalter, Komplexität richtig zu meistern.

Dass es Sinn macht, sich auch eine scheinbar „unnütze“ Kunst anzueignen, zeigt sich am Beispiel von Steve Jobs: Weil er keine herkömmlichen Vorlesungen besuchen wollte, entschied er sich gegen den Willen seiner Eltern, nur in Kurse zu gehen, die ihm Spaß machten. Dazu gehörte auch Kalligraphieunterricht: „Ich lernte etwas über Schriftarten mit und ohne Serifen, wie man den Abstand zwischen unterschiedlichen Buchstabenkombinationen variiert, was herausragende Typographie großartig macht. Es war wunderschön. Es hatte Geschichte und war auf eine Weise künstlerisch subtil, wie die Wissenschaft es nicht zu erfassen vermag. Ich fand es faszinierend.“ Nichts empfand er als Verschwendung, niemals empfand er etwas als unnötig. Die Aufmerksamkeit, mit der er sich seinen unterschiedlichsten Gegenständen näherte, war einer der wichtigsten Aspekte seines Erfolges: Als es später um die ständige Verbesserung von Hard- und Software ging, wurde daraus ein sehr wertvolles Wissen, das er gewinnbringend bei der Gestaltung der Oberflächen und simplen Bedienungseinheiten der Apple-Computer einbringen konnte.

Geisteswissenschaften bieten die für Innovationen wegweisende Freiheit des Denkens. Sie will und muss allerdings erkämpft werden, denn es ist oft leider noch so, dass Studenten, die nur auswendig lernen und sich an vorgegebene Denkmuster halten, oft die besseren Karten haben: Weil sie nicht fragen und reflektieren, kommen sie äußerlich schneller voran. Aber sie lernten nicht, in Sinnzusammenhängen zu denken und ihre eigene Urteilskraft zu entwickeln. Wissen ist, was erlebt und verstanden worden ist. So ist ja auch eine Landkarte nicht die Landschaft, die immer auf ganz andere Weise erlebt wird als das Lesen von Karten. Wissen hängt mit der emotionalen Ebene, die für Leistung entscheidend ist, unmittelbar zusammen.

Während meines Studiums der Literaturwissenschaft in den 1990er-Jahren waren die Prüfungen wie Bauen nach Plan, bei dem das Kind dafür gelobt wird, dass es Teile richtig und fehlerfrei im „Lego-(Deutsch-)Land“ zusammengebaut hat. In den USA, schreiben die Diplom-Psychologen Christian Scheier und Dirk Held in ihrem Buch „Was Marken erfolgreich macht“, wird hingegen zusammengebaut, wie das Kind gerade denkt, „und wieder zerlegt, weil es kein Lob bekommt, wenn es nach Plan vorgegangen ist. Es geht in Deutschland darum, das Modell richtig, wie vom Plan vorgegeben, zusammenzubauen. Das passt zu den Imprints unserer Kultur, dem Land der Heimwerker, Baumärkte und Häuslebauer“.

Als Geisteswissenschaftlerin wollte ich nie im universitären Diskurs verschmoren – Überblickskompetenz und Urteilsfähigkeit waren mir schon damals besonders wichtig. Mich interessierten Konstellationen immer mehr als Definitionen. Und ich bin davon überzeugt, dass Geisteswissenschaftler die Joker der Wirtschaft sein können - allerdings sind sie wertlos, wenn im Spiel nicht genügend Karten vorhanden sind, zwischen die sie passen. Unternehmensverantwortliche sollten deshalb lernen, dass selbst Bosse Sekundanten brauchen: „Über den Joker lässt sich mancher Mitarbeiter- und Geschäftskontakt spielerisch abwickeln. Wer sich darin übt, mehr Verantwortung zu delegieren – was Führungskräfte trendgemäß heute gern von sich behaupten -, der sollte auch dies einüben: den lockersten Mitspieler mit den heikelsten Botschaften zu betrauen. Er wird sie wie Minen entschärfen“, schrieb die Managementberaterin Gertrud Höhler bereits 2006 in ihrem Buch „Die Sinn-Macher“.

Wenn wir begreifen, was diese Zeiten prägender gesellschaftlicher Veränderungen ausmacht und wie wir handlungsfähig bleiben, können wir sie mit den Mitteln, die uns heute zur Verfügung stehen, anders und nachhaltig gestalten. Ich nutze regelmäßig Blogs, um aktuelle gesellschaftliche Entwicklungen und Trends „in Form“ zu bringen, damit sie eine klare Kontur erhalten. Sie lassen sich dadurch besser begreifen und (hoffentlich) „in den Griff“ bekommen. Das erfordert auch im Internet neue Denkstile und Methoden sowie neue Formen interdisziplinärer Zusammenarbeit, etwa mit Geistes-, Sozial- und Naturwissenschaftlern, Ökonomen, Informatikern, Psychologen und Philosophen, die hier regelmäßig zu Wort kommen. Es geht um Orientierung und Positionen, um die Klärung und Schärfung von Begriffen, aber auch um das Zusammenbringen von Theorie und Praxis, Denken und Handeln.

Sämtliche Beiträge lassen sich unter der übergeordneten Frage zusammenfassen: „Was ist der Mensch?“ Für den heute fast vergessenen Literaturwissenschaftler Emil Staiger (1908-1987) standen die Geisteswissenschaften ebenfalls unter dieser Frage, die wiederum das Ergebnis der drei Fragen ist, mit denen sich die kritische Philosophie laut Immanuel Kant zu beschäftigen hat und die prägend für das Bloggen sind: „Was kann ich wissen?“ (Grenzen der menschlichen Erkenntnis), „Was soll ich tun?“ (Grundlegung der Ethik), „Was darf ich hoffen?“ (Sinnfragen des Daseins). Es geht heute darum, Lösungen für Mega-Krisen wie Klimawandel, Ressourcenverknappung, demografischer Wandel, instabile Finanzsysteme, die Folgen der Globalisierung, zunehmende Gewaltbereitschaft, Digitalisierung sowie das schwierige Verhältnis von Freiheit und Sicherheit zu finden. Das sind nicht nur Herausforderungen für Politik und Gesellschaft, sondern auch für jeden Einzelnen. Sie erfordern eine kollektive Anstrengung des Denkens und eine veränderte Kommunikation. Die Herausgabe des Buches „CSR und Digitalisierung“ gab mir erstmals die Möglichkeit, Themen wie Digitalisierung und Philosophie zusammenzubringen. Auch Luca Caracciolo, Chefredakteur des t3n Magazin, verweist darauf, dass Geisteswissenschaftler gut daran täten, „die Digitalisierung von ihrer technischen Seite besser zu verstehen, um nicht das Klischee zu bedienen, nur gut diskutieren zu können.“

Die Philosophin Ina Schmidt zeigt in ihrem Buchbeitrag, dass die digitale Entwicklung einer dialogischen Praxis bedarf, die das antike Denken als eines der wichtigsten Ziele der Philosophie formuliert: Platon versuchte die Menschen darin zu schulen, die Welt um sich herum wachsam wahrzunehmen, die „Schatten an der Wand“ nicht mit dem wahren Wesen der Dinge zu verwechseln und sich umzuschauen und den Blick zum Ausgang der eigenen „Höhle“ zu richten, wie er es in seinem berühmten Höhlengleichnis beschreibt. Wie das Sonnengleichnis hat es die Idee des Guten zum zentralen Thema (Platon, Staatslehre). „Tatsächlich den Weg aus der Höhle zu finden, ist nur wenigen möglich, aber den Kopf zu drehen und das auf den ersten Blick Sichtbare zu hinterfragen, sah er als Fähigkeit in uns allen angelegt. Es ging ihm nicht vorrangig um die Vermittlung von Wissen oder Informationen, sondern darum, den Menschen in seiner Kompetenz zu schulen, die Welt für sich zu deuten.“ Um die Herausforderungen und Chancen der Digitalisierung richtig zu meistern, ist dies auch heute unverzichtbar.

Weiterführende Informationen:

CSR und Digitalisierung. Der digitale Wandel als Chance und Herausforderung für Wirtschaft und Gesellschaft. Hg. von Alexandra Hildebrandt und Werner Landhäußer. SpringerGabler Verlag. Berlin Heidelberg 2017.

Astrid Herbold: Weg vom Klischee. In: DIE ZEIT (16. Mai 2019), S. 67.

Visionäre von heute – Gestalter von morgen. Inspirationen und Impulse für Unternehmer. Hg. von Alexandra Hildebrandt und Werner Neumüller. Verlag SpringerGabler, Heidelberg, Berlin 2018.

Dr. Alexandra Hildebrandt schreibt über Wirtschaft & Management, Nachhaltigkeit, Digitalisierung, Internet & Technologie

Als Publizistin, Herausgeberin, Bloggerin und Nachhaltigkeitsexpertin widme ich mich den Kernthemen Nachhaltigkeit und Digitalisierung. Beim Verlag SpringerGabler habe ich die CSR-Bände zu Digitalisierung, Energiewirtschaft und Sportmanagement herausgegeben sowie "Klimawandel in der Wirtschaft".

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