Die Kunst der Innigkeit: Warum die Menschen in Nordeuropa besonders glücklich sind
Der "World Happiness Report" (WHR) der Vereinten Nationen belegte in den vergangenen Jahren, dass die Menschen in Nordeuropa besonders glücklich sind. Das glücklichste Volk der Welt soll in Finnland leben. Bereits zum dritten Mal in Folge belegte das Land den ersten Platz. In den Jahren zuvor kam Dänemark auf den ersten Platz beim UN-Glücksreport (2017, 2016, 2013 und 2012). Das Geheimnis der zufriedenen Mentalität der Dänen gründet auf ihrer Lebensphilosophie, die sie „hygge“ nennen. Sie haben das norwegische Wort („hug“, Umarmung) im Sinne von „Wohlbefinden“ auf ein umfassendes Konzept von Lebensqualitäten übertragen: Hygge umfasst alle Vorzüge von Gemütlichkeit, Gemeinschaft, „Kunst der Innigkeit“, Schlichtheit, Sicherheit, Familie und Geborgenheit.
Sich etwas Gutes tun (at hygge sig) heißt, den Tag zu nutzen.
Wenn man an Skandinavien denkt, denkt man auch an Mythen und Bräuche, Essen und Feiern, Kultur- und Krimi-Ikonen, Attraktionen und Architektur. Und an die Mumins, die nilpferdartigen Trollwesen der finnlandschwedischen Schriftstellerin Tove Jansson (1914 - 2001): Die Liebe zu Natur und Umwelt, Toleranz gegenüber anderen Weltanschauungen und ein skurriler Humor durchziehen die Abenteuer dieser freundlichen, neugierigen und naturverbundene Wesen, deren Schöpferin ihre Leser ermutigte, immer an sich zu glauben, den Mut zu haben, Fragen zu stellen und darüber nachzudenken, wie sie selbst Verantwortung übernehmen können: „Werdet nie müde, verliert nie das Interesse, werdet nie gleichgültig!“
Das Leben der Mumins wird durch Naturkatastrophen, Überschwemmungen oder einen auf die Erde zurasenden Kometen bedroht. Meere trocknen aus, Orkane verwüsten Landstriche, aus Ägypten kommt eine Heuschreckenplage. Der familiäre Zusammenhalt ist der wichtigste Wert der Mumin-Gemeinschaft. Ihre Welt wurde während des Zweiten Weltkriegs erfunden. Wie „Pipi Langstrumpf“ war das Buch zugleich eine Antwort auf das Grauen des Krieges.
Wer handeln will und andere dazu ermutigen möchte, muss zuvor begriffen haben – mit den Händen.
So faszinierten Tove Jansson schon als Kind die Gipssäcke und halbfertigen Tonskulpturen im Atelier ihres Vaters, wie sie es in ihrem späteren Erzählband „Die Tochter des Bildhauers“ beschreibt. Das Skandinavische Design, deren nachhaltiger Erfolgsschlüssel solides Handwerk und Einfachheit ist, spielt auch eine besondere Rolle im Buch „Schönes Skandinavien“ von Kajsa Kinsella, die 1974 im Süden Schwedens geboren wurde. Sie ist nicht nur Autorin, sondern auch Designerin mit einem Faible für alles Nordische, inspiriert durch Erinnerungen an ihre Kindheit, in der sie häufig umgezogen ist, weil sich ihr Vater immer wieder in neue „Renovierungsobjekte“ verliebte.
Nachdem sie Älmhult (der Geburtsort von IKEA) mit 19 Jahren verlassen hatte, wohnte sie sieben Jahre lang in München. Hier hatten sie und ihre ältere Schwester Lina schwedische Freunde, die sich um sie kümmerten: „Meinen ersten Job fand ich im Eiscafé Häagen Dazs, wo ich liebe Freunde fand. Weil ich noch ganz jung und schlank war, habe ich täglich fast mein eigenes Gewicht in Eis gegessen. München hat mir sehr gutgetan und nach zwei Jahren habe ich meinen lieben irischen Mann Patrick getroffen.“ 1999 kam ihr erstes Kind zur Welt, und die Familie entschied sich 2001, nach Irland zu ziehen, wo weitere zwei Kinder geboren wurden.
Kajsa Kinsella liebt das geschriebene Wort, mag aber genauso die Beschäftigung mit anderen Projekten. So entwarf sie ein Design für ein Stoffmuster, eine Porzellankollektion und nähte verschiedene skandinavische Artikel. Schon als Kind beobachtete sie gern Menschen und beschäftigte sich mit deren Gedanken, Gefühlen und Ansichten. So wuchs auch ihr Interesse an Bräuchen und Traditionen. Das Essen in Skandinavien empfindet sie beispielsweise noch immer als etwas ganz Besonderes: „Es ist frisch und gesund und liegt mir einfach am Herzen. Ich habe sehr gute Freunde aus allen nordischen Ländern. Mit ihren Erinnerungen und Geschichten haben sie mir sehr bei den Texten für mein Buch ‚Schönes Skandinavien‘ geholfen.“
Erzählt werden darin auch Geschichten hinter Produkten, zu denen das klassische Cathrineholm-Emaillegeschirr, „Unisex“-Wollfilzpantoffeln, handgestrickte Selbu-Socken aus Norwegen, LEGO, die Stuhl Serie 7 oder der Stokke Tripp-Trapp-Hochstuhl gehören. Vor allem aber ist es ein Buch der Nachhaltigkeit, das Buchstabenwege so setzt, dass Themen auf „erlesene“ Weise – je nach Lesegeschwindigkeit und Interessen - bewandert und erfahren werden können: Zum Beispiel, dass Ilse Jacobsens Gummistiefel aus reinem Naturgummi sind und mit der Hand gefertigt wurden, dass Anton Sandqvist 2004 eine Industrienähmaschine im Internet fand und begann, eine Reisetasche für sich zu nähen. Als er ein Buch über den norwegischen Forscher Roald Amundsen las, kam ihm die Idee, einen Rucksack aus Segeltuch und Leder zu erfinden.
Nachhaltiges findet sich auch in der Geschichte zu den Hummel High-Tops: In den neunziger Jahren entwickelte sich das Unternehmen vom einfachen Schuhhersteller zum beliebten Label, das 1999 der dänische Unternehmer Christian Stadil („Verändere die Welt durch Sport!“) kaufte. Heute ist das Unternehmen bestrebt, die Welt zu einem besseren Ort zu machen. Bei der geschnitzten Vogelschar von Kristian Vedel werden alle Teile von Hand in einer kleinen Drechslerei in Dänemark gefertigt.
Wenn es um skandinavisches Design geht, sind auch deutsche Nachhaltigkeitsexperten begeistert.
Claudia Silber, beim Okö-Pionier memo AG verantwortlich für die Unternehmenskommunikation, liebt ebenfalls skandinavische Designermöbel und den skandinavischen Einrichtungsstil. Er ist für sie „einfach unschlagbar, weil er gekonnt Natur und modernes Design verbindet. Die Möbel wirken niemals ‚überladen‘ oder zu chic, sondern eher einfach und befreiend. Skandinavische Möbel strahlen die nordische Lässigkeit der Skandinavier selbst aus - man fühlt sich damit zu Hause das ganze Jahr über wie im Mittsommer“. Aber auch die Tierfiguren aus Holz von Kay Bojesen gehören zu ihren Lieblingsdingen. Sie bestätigt, dass der Trend des „Schönen Skandinavien“ auch im Unternehmen angekommen ist. So wurden auch Möbel aus Dänemark ins Sortiment genommen. Sie kombinieren traditionelle Handwerkskunst mit modernem Design. Verwendet wird beispielsweise massive Balkeneiche. Das Lowboard "Albit/Beryllonit" wurde aus europäischer Forstwirtschaft in Dänemark hergestellt (Quelle: memolife).
Skandinavien ist in den ökologischen Onlinehops inzwischen präsent. So findet man Wikingerschach "Kubb" aus Buchenholz, eine Nordlux Stehleuchte mit lösemittelfreier gepulverter Oberfläche, einen La Siesta Hängemattenständer "Canoa" aus skandinavischem, nachhaltigen FSC-zertifiziertem Fichtenholz. Seit vielen Jahren wird mit dem führenden skandinavischen Bürostuhlhersteller HAG zusammengearbeitet. Warum all diese „handfesten“ Beispiele? Vielleicht, weil sie uns zeigen, wie schön es sein kann, sein Leben selbst in die Hand zu nehmen und zu gestalten.
Die Skandinavier führen uns in besonderer Weise vor, warum wir Hände haben: Damit wir etwas mit ihnen tun. Handeln!
Denn das macht uns als Menschen aus. Wir brauchen für die Bewältigung der aktuellen Herausforderungen und des Lebens die Begegnung mit Material, mit dem Haptischen und Konkreten, weil unser inneres Werkzeug, das Denken, nur funktionsfähig ist, wenn wir auch unsere Hände benutzen und „handeln“. Schon die Mönchsväter kannten diese Notwendigkeit: „Wenn deinen Worten keine Taten folgen, gleichst du dem Baum, der Blätter, aber keine Frucht trägt.“
Mit Nachhaltigkeit verbindet Kajsa Kinsella die schwedische Aussage „Bättre tänka efter före“ (davor nachdenken): „Das heißt, alle möglichen Komplikationen und Folgen im Voraus zu beachten, um die Umwelt und unsere Existenz am besten zu schätzen." Ihr Buch zeigt auf wunderbare Weise, dass das Glück zum Greifen nah ist: „Wenn der Schnee in Massen fällt, während es stürmt und donnert und man die Hand vor Augen nicht sehen kann und das Gesicht schmerzt. Oder wenn der Schnee ruhig auf dem Boden liegt und man nicht widerstehen kann, jubelnd durchzurennen. Und wenn man Glück hat, hat man jemanden zu Hause, der so lieb ist, und eine heiße Schokolade macht und Zimtgebäck aufwärmt. Viele Menschen denken, dass die Skandinavier gesund, kreativ und glücklich sind. Und ich finde, sie haben Recht!“
Im Reinen sein
„Schönes Skandinavien“ lädt auch dazu ein, größere Zusammenhänge herzustellen: So war der Publizist Roger Willemsen in der letzten Zeit vor seinem Tod noch einmal nach Norwegen aufgebrochen und saß ein letztes Mal an einem Fjord. Katja Scholz, eine langjährige Freundin von ihm, erzählte dies während seiner Trauerfeier im Februar 2016. Oliver Vogel überbrachte die letzten Worte des Sterbenden: "Ich bin im Reinen." Zwei Mal soll er das gesagt haben, zwei Tage vor seinem Tod. Mit sich im Reinen zu sein bedeutet, zufrieden zu sein. Danach streben die meisten Menschen, aber nur wenige kommen wirklich an.
Vieles verbindet sich im Buch von Kajsa Kinsella zu einer inneren Landkarte, deren Erkundung immer wieder Freude macht, weil sie zum beherzten Denken und Handeln anregt, auch wenn das Leben manchmal traurig ist. Letztlich geht es um das, was auch für Roger Willemsen am Ende, als eigentlich fast alles vorbei war, noch zählte: "Freundschaftsliebe". Sie beschränkt sich nicht nur auf die Intimität des Privaten, sondern richtet sich auch auf die Welt.
Weiterführende Informationen:
Kajsa Kinsella: Schönes Skandinavien. Von Astrid Lindgren bis Smörgåsbord. Kultur und Lebensstil unserer nordischen Nachbarn. Eden Books. Hamburg 2016.
Alexandra Hildebrandt und Claudia Silber: Von Lebensdingen: Eine verantwortungsvolle Auswahl. Amazon Media EU S.à r.l. Kindle Edition 2017.
Alexandra Hildebrandt: Urlaub. Das Gute in der Nähe finden. Amazon Media EU S.à r.l. Kindle Edition 2017.
Kai Strittmatter: zum Glück. In: Süddeutsche Zeitung (17./18.9.2020), S. 11.
Visionäre von heute – Gestalter von morgen. Inspirationen und Impulse für Unternehmer. Hg. von Alexandra Hildebrandt und Werner Neumüller. Verlag SpringerGabler, Heidelberg, Berlin 2018.