Die leise Stimme der Vernunft: Warum wir mehr auf Hermann Hesse hören sollten
„Jeder der an einen Sinn im Leben und an die hohe Bestimmung des Menschen glaubt, ist im heutigen Chaos wertvoll …“, heißt es in einem Brief von Hermann Hesse an Manfred Fundel vom 19. Mai 1961.
Das Wesentliche war für den Dichter der Zusammenhang des Menschen mit der Erde, Naturnähe, Frieden und das Eintreten für Aufrichtigkeit und Wahrheit. Doch wollte er mit seinen Werken nie belehren, sondern das eingeschlafene Gewissen seiner Leser wecken und aktivieren.
Dichtung muss direkt ins Leben wirken
Als Weltkind gehörte Hesse keiner Kirche an, war aber „fromm im Sinne der Morgenlandfahrer, zu deren Bundesregeln es gehört, jedem Heiligtum auf Erden Ehrfurcht zu erweisen“, heißt es 1962 in einem Brief an Gertrud von Le Fort, der im von Volker Michels herausgegebene Band „Noch lacht der Tag, noch ist er nicht zu Ende“ enthalten ist. Die ausgewählten Briefe umfassen Hesses letzte vier Lebensjahre. Mit diesem vorletzten Band (2012 erschien der erste) nähert sich die zehnbändige Edition ihrem Abschluss. Ca. 26.000 Briefe Hesses sind bislang archiviert.
Der aktuelle Band ist eine Fundgrube der Nachhaltigkeit: So sind seine Reflexionen über den „Schiffbruch der Moral und Politik“ auch heute noch hochaktuell. Hesses leise Stimme der Vernunft – „am Rand des Nochdaseins“ – hilft uns gerade jetzt, im Chaos der Welt mehr Klarheit zu finden. Seine Briefe navigieren uns durch ihre Düsterkeit und „teuflische Bedrohung“: „Ob diese Welt morgen untergeht oder nicht, ist nicht unsere Sorge noch unsere Verantwortung, wir müssen und wollen das, was uns an ihr noch erfreulich ist, und sei es nur der Himmel mit seinem zauberhaften Gewölk, solang kosten und preisen, als wir da sind“, schreibt er 1959 an Hans Meinke.
Im gleichen Jahr starb sein Freund und Verleger Peter Suhrkamp – ein schmerzlicher Verlust für Hesse. An Suhrkamp schätzte er den „Vorrat an Zähigkeit, an Erdnähe, an Ordnungssinn und duldender Kraft“ – alles Eigenschaften, die heute rar geworden sind. Dennoch lag Hermann Hesse vor allem daran, der Jugend eine vernünftige Hoffnung vermitteln und ihr zu zeigen, wie mit dem Geschenk des Lebens nachhaltig umzugehen ist.
Eine Grundvoraussetzung war für ihn die Kultivierung der Individualität, die er als eine Basis des menschlichen Zusammenlebens sah: „Wer eigensinnig ist, gehorcht einem anderen Gesetz, einem einzigen, unbedingt heiligen, dem Gesetz in sich selbst, dem ‚Sinn‘ des ‚Eigenen‘.“ In seinem Aufsatz „Eigensinn“ von 1919 verweist er darauf, dass er seinen Glauben immer auf den Einzelnen gebaut hat, weil dieser – im Gegensatz zur Masse - erziehbar und verbesserungsfähig ist.
Ende der 1920er-Jahre bemerkte er, dass die meisten Menschen nur „Exemplare“ bleiben und die „Nöte der Individualisierung“ gar nicht kennen. Wem sie aber vertraut sind, der weiß auch um die Kämpfe des Alltags. Das Thema findet sich auch im aktuellen Briefband.
Wer stärker individualisiert ist, muß früh oder spät erkennen, daß das Leben dauernd ein Hin und Her, ein Kampf zwischen Opfer und Trotz, zwischen Anerkennung der Gemeinschaft und Rettung der Persönlichkeit ist.Hermann Hesse am 28. Juli 1958 an Christine Dittmar
Der Familienvater, der Frau und Kinder zurückließ, befand sich häufig in tiefen Lebenskrisen, aus denen er sich aber durch Therapie, Meditation, Malen, Wandern, Gärtnern und Schreiben „herausgearbeitet“ hat. Sein Leben sei schwer gewesen, nicht aber sein Suchen“, schreibt er ca. 1959 an Günther Herrmann. Seine Hauptaufgabe sah er darin, „der Wahrheit und Aufrichtigkeit zu dienen“ und anderen Suchenden, den differenzierte und begabten Naturen, die Welt verstehen und bestehen zu helfen.
„Sei du selbst“ war für ihn als jungen Menschen das ideale Gesetz – es gab für ihn keinen anderen Weg zur Wahrheit und zur Entwicklung. Dazu gehört auch, den Mut zu haben, für sich allein zu stehen und innerlich unabhängig zu sein. Hermann Hesse, der am 2. Juli 1877 in Calw als Sohn des baltischen Missionars und späteren Leiters des Calwer Verlagsvereins Johannes Hesse und dessen in Indien geborener Frau Marie geboren wurde, wollte schon in frühen Jahren seine Individualität leben. Er war, was heute „Nonkonformist“ genannt wird – jemand, der sich selbst seine Regeln setzt und seiner Berufung folgt – auch wenn dies gesellschaftlichen Normen widerspricht.
Noch im hohen Alter bleibt Hermann Hesse eigensinnig, wie diese Briefsammlung zeigt: So sperrte sich der Nobelpreisträger gegen jedwede ideologische, politische und kommerzielle Vereinnahmung durch Institutionen oder politische Systeme, übte Kritik an ungenehmigten Raubdrucken, die in DDR-Verlagen erschienen, oder Touristen, die auf sein Grundstück in Montagnola kamen, sodass er sich wie „ein Tier in einem zoologischen Garten“ fühlte. Auch der Bauboom, der das Tessiner Bergdorf erfasst hatte, in dem er lebte, war ihm ein ständiges Ärgernis.
Ebenso Schülerinnen und Schüler, die ihn um Hilfe bei der Interpretation seiner Werke baten: „Warum muß jede dritte Abiturientin eine Arbeit über Hesse machen? Die Schülerin tut, mit seltenen Ausnahmen, das, was die Lehrerin gewiß weiß und erwartet: Sie schreibt an Hesse und fragt ihn, warum er den Knulp verfaßt und was er sich bei Goldmund gedacht habe! Keine Woche ohne ein paar solcher Briefe. Da schüttelt man nicht mehr den Kopf, sondern die Faust.“ Dennoch beantwortete er auch diese Briefe und betonte immer wieder, dass seinen Büchern mit Schulmethoden nicht beizukommen sei: „Das Herumdeuten an Dichtungen ist meistens das Gegenteil von dem Eingehen auf ihr Wesen“, heißt es am 1. März 1958 in einem Brief an Dieter Fischer. Ähnlich auch diese Zeilen:
Lernen Sie die Methoden der Germanistik, sie sind nicht schlecht, aber vergessen Sie nie, daß das Eigentliche und Wunderbare mit diesen Methoden nicht erfaßbar ist.Hermann Hesse am 28. Juli 1958 an Christine Dittmar
Weniger aufregend waren für ihn öffentliche Schmähungen: So bezeichnete ihn „Der Spiegel“ als „literarischen Schrebergärtner“, und laut Karl-Heinz Deschner war er ein „drittklassiger Kitschproduzent“. Hesse fand solche Äußerungen „beinah erfrischend“ (1958) und erfreute sich auch ungebrochen an der jungen Gegenwartsliteratur (Uwe Johnson, Peter Weiss, Max Frisch). Im Alter litt Hesse an einer Polyarthritis sowie einer schwelenden Leukämie, die größere Reisen nicht mehr zuließen. Sein Lebens- und Wirkungsraum schrumpfte – umso wichtiger und nachhaltiger wurden die Eindrücke und Träume „jener Stunden, in denen die Seele offensteht und alterslos auf die Rufe und Bilder antwortet, die ihr wie Schneeflocken oder wie Blätter vom Lebensbaum vorüberwehen“.
Alles Differenzierte löste sich auf – sein Leben wurde wieder einfach. Das erklärt auch sein verstärktes Interesse an Natur- und Alltagsbeobachtungen. Am 9. August 1962 starb Hesse in Montagnola. Das Leben war ihm zu kurz geworden – „es reicht nirgends mehr hin“ (an Rolf Bongs, 6. Juli 1962).
Das Buch
Hermann Hesse: „Noch lacht der Tag, noch ist er nicht zu Ende“. Die Briefe 1958–1962. Suhrkamp Verlag, Berlin 2025.
Weiterführende Informationen
Ganz klar: Warum wir heute den Instinkt für das Richtige nicht verlieren dürfen
Hermann Hesse: „Umgaukelt von westlichen und östlichen Ködern“. Die Briefe 1951-1957. Suhrkamp Verlag, Berlin 2023.