Die neue Unschuld: Zur Wiederkehr des Fräuleinwunders
Die Chefredakteurin des Magazins „Der Vintage Flaneur" unterschreibt grundsätzlich ihr Editorial mit „Ihr Frl. Miriam Dovermann“. Das wirkt zunächst wie ein aus der Zeit gefallenes Relikt, denn der Begriff Fräulein verschwand irgendwann in den 1980er-Jahren, so lautlos wie die „Fernsehansagerinnen“. Doch im Gegensatz dazu scheint das Fräulein heute wieder „Karriere" zu machen, wenngleich der Salzburger Autor Karl-Markus Gauß in seinem Buch „Der Alltag der Welt. Zwei Jahre, und viele mehr" dem Fräulein bescheinigt, dass ihm der Glanz der Tugendhaftigkeit abhandengekommen sei.
Für ihn war das Fräulein ein „Objekt", das ritterlichen Schutzes bedurfte. Und genau das wird sich die emanzipierte alleinstehende Frau von heute verbitten. Er sieht darin ein Opfer, „das der Emanzipation der Frauen dargebracht werden musste" und verweist darauf, dass „man" dem Fräulein heute eigentlich nur noch eher in der Gastronomie begegnet. Mit dem Begriff ist bei Gauß auch die Unschuld vom Lande und eine bestimmte Lebenshaltung verbunden, der Berechnung fremd ist. Allerdings habe seiner Ansicht nach die Unschuld vom Lande ihren gesellschaftlichen Ort verloren.
Dem Engagement von Menschen wie Miriam Dovermann ist es zu verdanken, dass sich Reinheit und Unschuld gerade nicht verlieren, sondern eine Heimat finden in unserem von der Globalisierung geprägten Alltag. Wenn Karl-Markus Gauß in seinem Buch vom Glanz spricht, der auf unscheinbaren Gegenständen liegt, so gilt das auch für das Fräulein, wenngleich es ein Mensch und kein Objekt ist. Der Gegenstand ist hier das Thema an sich. Was hat Miriam Dovermann veranlasst, wieder ein „Fräulein" zu werden? - Ihre erste Eingebung war, das Thema abzutun. Es war vornehmlich eine „gefühlsästhetische" Entscheidung, um dem Kunden ein bestimmtes Gefühl zu vermitteln, gleich wenn er auf ihr Unternehmen aufmerksam wird, den Hintergedanken an „Vintage" zu wecken. Ihr wurde jedoch schnell klar, dass diese erste Eingebung, so sehr sie für die eigenen Anfänge stimmte, inzwischen nicht mehr zutrifft. Auch die Netzaktivistin, Autorin und Feministin und Bloggerin Teresa Maria Bücker twittert als „Fräulein Tessa“und ist auch auf Instagram unter diesem Namen zu finden.
„Ich habe zwar auch für Skeptiker die grundlegende Berechtigung, diesen ‚Titel' zu tragen, da ich nicht verheiratet bin. Jedoch bin ich über 30, habe eine kleine Tochter, lebe in einer Lebensgemeinschaft und überhaupt, sei der Begriff nicht furchtbar frauenfeindlich, die ‚kleine', nicht ernst zu nehmende Frau?!? Und wie vernünftig ist solch ein Spiel mit Worten in der Geschäftswelt, macht man sich dort nicht unseriös, eben nicht ernst zu nehmen, wenn man von den klassischen Anreden abweicht?" Vielleicht waren es gerade diese Kritiken, die sie dazu bewogen haben, beim „Fräulein" zu bleiben, obwohl sie zwischendurch häufig darüber nachgedachte, das zu ändern und auf „Frau Dovermann" umzuschwenken. Aber das „Fräulein" steht für sie doch für mehr, als ihr zunächst bewusst war: Nicht mehr für die profane Unterscheidung zwischen „jung" und „alt" oder „verheiratet" und „unverheiratet". Da stimmt sie mit den feministischen Bewegungen überein:
Aber es ist das, was sie beim Flaneur-Magazin macht: Sie nimmt auf, was ihr das Leben an Material gibt und versucht unter Einbeziehung von allem, was ihr in den Weg kommt, das Schönste und Beste daraus zu machen (im Falle des Flaneurs v.a. auch unter Einbeziehung von Nostalgie). Es ist für Miriam Dovermann wie mit Kleidern, die schön sind und in denen sie sich hübsch und weiblich fühlt. Im Gegensatz zu ihren Vorfahrinnen kann sie frei entscheiden, wie sie sich kleidet, ihre meine Freiheit ist grenzenlos, und sie muss auch keine untergeordnete Stellung zum Mann beziehen, wenn sie das Schöne von früher und das Schöne von heute vereint: „Diese Freiheit empfinde ich übrigens als wahrhaft feministisch, denn erst wenn ich wirklich die Wahl - sagen wir zwischen Hose und Kleid treffen darf - und mir keiner (weder Mann noch Frau) dort hineinredet, bin ich wirklich frei."
Sie mochte das Wort Fräulein einfach - möglicherweise weil sie eine Träumerin ist und bleiben will und sich vor dem erwachsenen „Frau D." sträubt. Es entspricht ihrem Selbstbild am besten und ist ihre Art, „das Spiel, das sich Leben nennt, als solches zu begreifen und zu spielen". Am Ende sammelt sich alles Namentliche (ob Frau oder Fräulein) in dem, was auch Max Raabe als Wahrheit im Kern bezeichnet und was dem Tun von „Fräulein Dovermann" zugrunde liegt: Ihre Antwort auf Kants Frage „Was soll ich tun?" (2017)
Karl-Markus Gauß: Der Alltag der Welt. Zwei Jahre, und viele mehr. Paul Zsolnay Verlag, Wien 2015.
Alexandra Hildebrandt: Manieren 21.0: Warum gutes Benehmen heute wieder salonfähig ist. Kindle Edition 2022.