Die Orte der Ruhe werden knapp: Das Ende der alten Kaffeehauskultur
In einem Kaffeehaus muss eine Atmosphäre herrschen, als hätte man in den nächsten sieben Wochen keinen Termin.Robert Menasse
Haptisch und analog: Bedeutsame Worte und Dritte Orte
Unser Alltag und die ständige Vernetzung in einer globalisierten Welt sind dafür mitverantwortlich, dass wir gern Dritte Orte besuchen, die eine stabile Verankerung im Komplexitätszeitalter sind. Die Selbstverständlichkeit des Seins, die besondere Atmosphäre von Melange und Kapuziner, von Apfelstrudel und Nußbeugerl, das Ambiente und die Zeitungen sind Kern des Kaffeehaus-Mythos. Hier genossen Dichter, Künstler und Schauspieler ihre „heilige Ruhe“, während sie Zeitung lasen und am Kleinen Braunen nippten. In Österreich hat das Kaffeehaus sozialisierende Wirkung – hier schrieb das Leben Geschichten. Zu allen Zeiten sollten wir uns mit der Frage beschäftigen, wie und wo Kunst entsteht und in welcher räumlichen Umgebung Literaten, Musiker und Künstler leb(t)en und arbeite(te)n.
Ins Kaffeehaus gehen Leute, die allein sein wollen, aber dazu Gesellschaft brauchen.Alfred Polgar
Im Wiener Café Central (heute Palais Ferstel) gingen Sigmund Freud, Hugo von Hoffmansthal, Robert Musil, Franz Kafka, Arthur Schnitzler, Stefan Zweig und Robert Musil ein und aus. Das Kaffeehaus erinnert daran, wie wichtig Dritte Orte und die Bedeutung des Genusses und der (be)greifbaren Dinge wie Bücher, Zeitungen, Manuskripte, Schreibutensilien, Brillen, Musikinstrumente, Möbel oder Geschirr sind. Der Fachausdruck „Dritter Ort“ (Third Place) wurde von Ray Oldenburg in „The Great Good Place" eingeführt. Er ist neben dem eigenen Heim ("Erster Ort") und dem Arbeitsplatz ("Zweiter Ort") von enormer Bedeutung für unsere Identität und das Funktionieren einer Gesellschaft. Dazu gehören städtische Begegnungsräume (gathering spaces), in denen Öffentlichkeit hergestellt wird: Galerien, Bibliotheken, Theater, Buchläden, Kirchen, Museen, aber auch Restaurant und Cafés.
Am Ende unseres Lebens werden wir uns kaum an das Update auf unseren technischen Geräten erinnern - wohl aber an den Besuch einzigartiger und schöner Orte, an denen wir innehalten oder historische und kulturelle Ereignisse Revue passieren lassen konnten.
Mit den Handys und den Immobiliengeschäften verschwand die Gemütlichkeit: 1847 wurde das Café Griensteidl in Wien eröffnet, fünf Jahrzehnte später abgerissen und 1990 im Palais Herberstein wiederbelebt – an der gleichen Stelle. Zwölf Jahre später übernahm der Do&Do-Chef Attila Dogudan das Haus in einem Paket mit der Zuckerbäckerei Demel am Graben und verriegelte es endgültig im Juni 2017. Zum Sterben der Caféhäuser führen zudem immer größere Auflagen (z.B. Umbauten) und Ketten wie Starbucks, die ein echtes Kaffeehaus allerdings nicht ersetzen können. Umso schützenswerter sind jene wenigen Oasen, die uns die Möglichkeit bieten, uns aus der Dauererreichbarkeit auszuklinken.
Man findet sie noch im Bad Ischler Café Ramsauer in der Kaiser-Franz-Josef-Straße. Es ist das älteste durchgängig in Betrieb befindliche Kaffeehaus Österreichs. 1826 wurde es eröffnet, drei Jahre vor der k.u.k. Hofzuckerbäckerei Zauner. Hier findet der Gast auch heute noch Tageszeitungen und feinste Kaffeespezialitäten. Im Ramsauer gehen seit Kaisers Zeiten Künstler und Prominente aus und ein. Heute sitzen sie am selben Tisch, wo einst Johann Strauß zwischen zwei Billard-Partien einige Walzertakte auf seine Manschetten gekritzelt hat. Operettenstars wie Emmerich Kälmän, Michael Tauber oder Robert Stolz waren in der Vergangenheit ebenso Gast wie heute Miguel Herz-Kestranek, Hubert von Goisern und Hubsi Kramar.
Kaffeehäuser sind auch in der Hast der Moderne ein wichtiges Medium, das zwischen dem Künstler, seinem Schaffen und uns eine Brücke baut und damit unser Interesse an Kultur aufs Neue weckt. Verlieren wir es, werden wir auch die Digitalisierung in Zeiten des Umbruchs nicht verstehen und gestalten können. Das Kaffeehaus mag zwar für einige gestorben sein, aber umzubringen ist es nicht.
Weiterführende Literatur:
Sepp Dreissinger: Im Kaffeehaus. Gespräche und Fotografien. Album Verlag. Wien 2017.
Claudia Silber und Alexandra Hildebrandt: Von Lebensdingen: Eine verantwortungsvolle Auswahl. Amazon Media EU S.à r.l. Kindle Edition 2017.
Claudia Silber und Alexandra Hildebrandt: Dinge des Lebens im Zeitalter der Digitalisierung. In: CSR und Digitalisierung. Der digitale Wandel als Chance und Herausforderung für Wirtschaft und Gesellschaft. Hg. von Alexandra Hildebrandt und Werner Landhäußer. SpringerGabler Verlag. Berlin Heidelberg 2017.