Die sieben Bestimmungen Ludwigs II. – und was junge Menschen daraus lernen können
Ludwig wusste bereits als Kronprinz, dass er als ältester Sohn König Maximilians II. dazu berufen war, seinem Vater nach dessen Tod im Königsamt zu folgen. Doch es war nicht nur diese eine Berufung, die zu erfüllen er sich verpflichtet sah, er fühlte sich zu mehr bestimmt.
Wie alle bayerischen Könige, die 112 Jahre lang (1806 bis 1918) Bayern regierten, glaubte auch Ludwig II. an die göttliche Vorsehung und empfand sich als König von „Gottes Gnaden“. Er fühlte sich als ältester Sohn seines Vaters König Max II., der ebenfalls überzeugt war, von Gott zu seinem Königsamt berufen zu sein, persönlich von „Gottes Gnaden“ zum König berufen. Gott gegenüber sei er deshalb für sein gesamtes politisches und privates Handeln verantwortlich und nach seinem Tod habe er diesbezüglich Gott auch Rede und Antwort zu stehen. Deshalb sah sich Ludwig II. unter ständigem Druck, in jeder Hinsicht ein gottgefälliges Leben führen zu müssen.
Richtig, seine zweite große Berufung entdeckte Ludwig II. bereits in der Jugend. Von Richard Wagners Gesamtkunstwerk – geformt aus Text, Musik und Ausstattung – begeistert, wollte er dessen Opern zum Leben verhelfen und wurde so zum Entdecker und Mäzen Wagners und Pate für viele von dessen berühmten Opern. Er rettete den verschuldeten Komponisten nicht nur, sondern legte ihm alles zu Füßen, sein Geld, seinen Thron, seine Liebe. Als Wagner 1883 in Venedig starb, schrie der König: „Die Leiche gehört mir! […] Den Künstler, den heute die Welt betrauert, habe ich gerettet.“ Schon 16 Jahre zuvor war sich der König sicher, selbst dem Tode geweiht zu sein, „wenn das Entsetzliche eintritt, wenn mein Stern nicht mehr strahlt, wenn Er dahin ist, der treu geliebte Freund; ja dann ist auch meine Zeit aus, denn dann, dann darf ich nicht länger mehr leben.“ Und so war es auch. Wagners Tod versetzte dem König den Todesstoß. Nur drei Jahre später folgte ihm Ludwig ins Grab.
Die dritte große Berufung, nämlich „Baumeister“ zu sein, entdeckte Ludwig schon als Kind. Er liebte es, mit Bauklötzen zu bauen. Später wurde er dann „Archi-Tekt“, im Sinne von „árchein“, das heißt „der Erste sein, der Führer sein“ über die „téchne“, womit jede „Kunstfertigkeit“ gemeint ist. Der „Archi-Tekt“ Ludwig verfolgte die einzelnen Stadien der Entstehung seiner Schlösser mit höchster Aufmerksamkeit und prüfte kritisch alle Arbeiten. Er sah sich als der seine Bauwerke bis in alle Einzelheiten bestimmende und prägende Geist, der nicht nur sämtliche architektonischen Details vorschrieb, sondern auch noch deren Wirkung auf die Psyche vorherplante. Das Bauen war bekanntlich seine Hauptlebensfreude. Wer ihm diese verweigern wollte – und das wollte man in den letzten Lebensjahren immer mehr –, verurteilte ihn zum Tod.
Nein, auch hinsichtlich des Naturschutzes nahm er eine Vorreiterrolle ein, seine vierte Berufung. „Nichts ist stärkender für Geist und Körper als viel in Gottes freier Natur sich zu bewegen; dort oben auf freier Bergeshöhe ist die Seele dem Schöpfer näher, schöner und erhabener ist es da als im Qualm der Städte, wo die wahren Freuden ihren Sitz wahrlich nicht haben.“ Ludwig schützte die Natur vor gedankenloser oder mutwilliger Zerstörung und hemmungsloser Ausplünderung, erlaubte die Entfernung morscher Bäume nur unter der Bedingung, dass Nachpflanzungen erfolgen. Durch den Ankauf der Insel Herrenwörth im Chiemsee verhinderte er, dass ein Stuttgarter Holzhändlerkonsortium 1873 den prachtvollen Hochwald auf der Insel abholzte. Ebenso erwarb er ein „Naherholungsgebiet“ mit sieben Quellen bei Starnberg, das ein Schweizer kaufen und sperren lassen wollte. 1878 verweigerte er den Bau einer Eisenbahn von Kempten über den Fernpass ins Inntal: „Man soll mir die idyllische Einsamkeit und die romantische Natur, deren Schönheit im Winter noch ungleich größer ist als im Sommer, nicht durch Eisenbahnen und Fabriken stören.“
Ja, seine fünfte Berufung sah er darin, sich für den Frieden einzusetzen. Kriege waren ihm geradezu ein Gräuel. Wer glaubt, man dürfe aus dem von Ludwig II. im Juli 1870 an den Preußenkönig aufgegebenen Telegramm, in dem es heißt: „Mit Begeisterung werden meine Truppen […] den Kampf (gegen Frankreich] aufnehmen“ eine Kriegsbegeisterung ableiten, der irrt gewaltig. Am 24. März 1871 erklärte der König seiner ehemaligen Erzieherin Baronin Leonrod den Grund für seine Mitwirkung am Krieg 1871: „In Bayerns Interesse lag es, daß ich so handelte, denn hätte ich jene so schweren Opfer für die Krone wie für das Land nicht gebracht, so wären wir über kurz oder lang (was mit Bestimmtheit vorauszusagen war) zu noch viel größeren, schmerzlicheren gezwungen worden, ohne daß der Schein der Freiwilligkeit zu retten gewesen wäre, und dies hätte unsere ganze politische Zukunft und unsere Stellung im neuen Reiche verdorben. – Ach, es sind traurige, entsetzensvolle Zeiten, die wir zu durchleben haben, in meiner kurzen Regierungsepoche nun schon zwei unselige Kriege! Sehr hart für einen Fürsten, der den Frieden liebt! Das rauhe Kriegshandwerk, lange ge¬übt, verwildert die Sitten der Menschen, macht sie unfähig, große, erhabene Ideale zu fassen, stumpft sie ab für geistige Genüsse, denn diese allein sind imstande, dauernd zu fesseln, diese allein gewähren wahre Wonne und innere Befriedigung.“ Ludwig hasste und verachtete als „Friedenfürst“ den Militarismus und Kriege zur Lösung von Problemen, auch wenn er damit den preußischen „Kriegsfürsten“ Bismarck und Wilhelm unterlag, die ihn zur Mitwirkung an Kriegen regelrecht zwangen.
Das ist völlig richtig. Deshalb war er auch ein Verfechter bayerischer Eigenständigkeit. Er hasste es, dass andere – in diesem Fall das machtgeile Preußen – sich erfrechten, die Eigenständigkeit Bayerns nach und nach zu beschneiden. Er fühlte sich deshalb berufen, so weit wie nur möglich die Eigenständigkeit seines Landes zu bewahren. 1885 beklagte er sich beim bayerischen Innenminister „über die allmählich eintretende Verpreußung und geistige Militarisierung der bayerischen Bevölkerung“. Doch diese war nicht mehr aufzuhalten. Immer wieder formulierte Ludwig II., was er von jener „räuberischen Hohenzollern-Bagage“ und jenem „verbrecherischem Gesindel“ hielt. „Vor Preußens Krallen wolle uns Gott bewahren“, flehte er leider vergeblich und hellsichtig erkannte er, dass die preußischen Truppen „jene verdammten, preußenfreundlichen, deutschschwindlerischen Ideen im ohnehin schon angesteckten Bayernvolk noch mehr verbreiten werden“ und die Eigenständigkeit Bayerns und seine eigene Position damit schwächten.
Zumindest fühlte er sich berufen, genauer gesagt gezwungen, sich mit der von Staat und Kirche unterstützten scheinheiligen Doppelmoral auseinanderzusetzen. Während er in der Kindheit noch völlig ungehemmt feminines Verhalten zeigen konnte, so etwa beim Verkleiden als Klosterfrau oder beim Spiel in Puppenküchen, wuchs in ihm in der Jugend das Gefühl des Andersseins und damit verbundenen Ausgeschlossenseins, was seinen Hang zum Einzelgängertum förderte. Angesichts der kirchlichen Vorschrift, dass ihn nur völlige moralische Makellosigkeit zu einem Königtum von Gottes Gnaden legitimiere, erschien ihm seine Homosexualität bald als unverzeihliche Todsünde. Den Kampf mit dem Anderssein, der ihm zeitlebens unendlich viel Kraft kostete, gewann er nicht. Er war weder zu einer souverän gelebten Homosexualität noch zu einer Heterosexualität fähig. Es verwundert nicht, dass Ludwig II. heute, da Homosexualität großenteils endlich akzeptiert wird, von Homosexuellen verehrt wird. Er scheiterte zwar in dem verzweifelten Kampf, den er führte, wurde aber in der Schwulenbewegung zu einem Idol: Lass dich weder von Kirche und Staat in deinem Wesen unterdrücken! Wehre dich dagegen! Oute dich! Kämpfe für deine Rechte, die dir niemand nehmen darf!
Aus den eben genannten sieben Bestimmungen, die Ludwig II. für sich entdeckte und aus den Aufgaben, denen er sich mehr oder weniger erfolgreich widmete, können junge Menschen für sich vor allem eines ableiten, wie unendlich wichtig es ist, sich nicht in die Schar der Mitläuferinnen und Mitläufer in unterschiedlichen Bereichen einzuordnen und darin unterzugehen, sondern zuallererst auf sich selbst zu hören, notfalls gegen den Strom zu schwimmen und dafür auch Entbehrungen oder sogar Anfeindungen in Kauf zu nehmen, geht es doch um das eigene viel zu kurze Leben, das es verdient, dass man ihm einen Sinn gibt, den man nur selbst finden kann.
„Wer nach vorne sehen will, muss von hinten nach vorne denken …“
Alfons Schweiggert: Der Ludwig-II.-Prozess. Die Schuldigen an der Königskatastrophe. Volk Verlag, München 2022.