Dr. Wolf-Dietmar Unterweger

Die Wegwerfkuh: Darf man mit Tieren wie mit Waschmaschinen umgehen?

Milch ist nicht gleich Milch

Anlässlich des Weltmilchtags am 1. Juni 2019, der organisiert wird, um international über das Lebensmittel Milch zu informieren, spricht sich Slow Food Deutschland für mehr Wertschätzung und Förderung guter Milch aus bodengebundener Weidehaltung aus, denn Haltungsform, Futter sowie der Verarbeitungsgrad von Milch wirken sich massiv auf den Geschmack sowie auf Umwelt und Klima aus. „Die Milch von Hochleistungs-Milchkühen, die nicht auf der Weide stehen dürfen und mit konzentriertem, und oft importiertem Kraft- und Eiweißfutter wie Soja gefüttert werden, ist geschmacklich etwas völlig anderes als naturbelassene Milch von Weidekühen“, kommentiert Ursula Hudson anlässlich des Weltmilchtags, der von der Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen (FAO) und dem Internationalen Milchwirtschaftsverband (IDF) ins Leben gerufen wurde.

Milch ist nicht gleich Milch – deshalb plädiert die Slow-Food-Vorsitzende dafür, von „Milchen“ im Plural zu sprechen. Außerdem spiele die Verarbeitung der Milch eine große Rolle. „Die hoch verarbeiteten H- und ESL-Milchen, die wir heute vielerorts im Supermarkt finden, haben zumeist keinen individuellen Geschmack und sind nicht mehr als eine weiße Flüssigkeit aus dem Tetrapak. Vom Urlebensmittel Milch hat sich dieses industrielle Produkt vollständig entfernt. Dass es das Adjektiv ‚frisch‘ überhaupt tragen darf, ist purer Hohn, denn hinter dem Aufdruck „Frischmilch“ auf der Packung kann sich auch die hochverarbeitete ESL-Milch verbergen. Die langen Phasen der Lagerung und Kühlung sind mit unserer Vorstellung von Frische eigentlich unvereinbar“, so Hudson.

Die Voraussetzung für „gut, sauber und fair“ bei Milch ist, die Produktionskette zu verkürzen und sie stärker auf lokale Kreislaufwirtschaft auszurichten. Grundsatz für die Milchproduktion sollte sein, externe Kosten wie Umweltbelastungen durch Monokulturen, Landnutzung in Drittländern sowie Treibhausgasemissionen durch den Futtermittelimport zu vermeiden. Die Ernährung der Tiere mit Gras und Klee sowie ein nachhaltiges Weidemanagement bedeutet zwar ein Verzicht auf Hochleistung der Tiere, ist aber nicht nur das Beste für das Wohlbefinden der Kühe und damit für die Milchqualität, sondern trägt auch zum Erhalt der Biodiversität und von Kulturlandschaften bei. Rinder auf der Weide leisten nicht nur das Ungeheure, das für den Menschen nicht zur Kost geeignete Gras in Eiweiß und andere wertvolle Nährstoffe zu verwandeln, sondern das Grasen bringt auch fruchtbare Böden hervor. Beweidung ist auch eine wichtige Maßnahme für den Klimaschutz, denn durch nachhaltige Beweidung tragen Rinder zur Bildung von Humus und so auch zur Speicherung von CO2 im Boden bei, was sich positiv auf das Klima auswirkt.

„Wenn wir das System Milch komplett umbauen und zukunftsfähig machen wollen, bedeutet dies aber gleichzeitig auch, dass wir als Verbraucherinnen und Verbraucher diesen Wandel mittragen. Dazu müssen wir weg vom Image von Milch als ‚Ramschprodukt‘, das billig in Massen gekauft und konsumiert werden kann. Es braucht mehr Wertschätzung und einen reduzierten Genuss von qualitativ guter Milch“, so Hudson. Unterstützenswert sind aus Slow-Food-Sicht daher Milchen, die geschmacklich und ökologisch „bekömmlich“ sind. Es werden auch Betriebe begrüßt, die eine mutter- oder ammengebundene Kälberhaltung anstreben und sich dafür einsetzen, den Kundinnen und Kunden naturbelassene Milch sowie Frischmilch zu liefern. Politisch sollte dieser Umbau der Tierhaltung zum Erreichen von Nachhaltigkeits- sowie Klimazielen höchste Priorität haben (Pressemitteilung Slow Food, 28.5.2019).

Die Wegwerfkuh

Der Titel des Buches von Tanja Busse verweist nicht nur darauf, wie unsere Landwirtschaft Tiere verheizt, Bauern ruiniert und Ressourcen verschwendet, sondern auch auf uns selbst und eine Hochleistungsgesellschaft, in der Effizienz das Ergebnis einer falschen Rechnung ist. Unterm Strich bleiben gehetzte und erschöpfte „Mitglieder einer Leistungsgesellschaft“, die im Burn-out enden. Das Buch lädt dazu ein, sich wieder mehr darüber Gedanken zu machen, ob es vielleicht nicht klüger sein könnte, etwas Leistungsdruck aus dem System zu nehmen, um damit effizienter, nachhaltiger und tiergerechter zu wirtschaften. Der Schlüssel dafür liegt in einer Entkopplung von Wertschöpfung und Naturverbrauch. Eine Kultur, die die Natur nutzt, ohne ihr Schaden zuzufügen, ist an Effizienzsteigerung gar nicht interessiert, denn ihre Mitglieder befinden darüber, was sie für ihre Vorstellung von einem guten Leben brauchen und bestimmen danach, was sie für einen Mitteleinsatz benötigen. Nachhaltiges Wachstum beginnt zuerst im Kopf: „vom Denken in linearen Produktionsketten zum Design von Stoffkreisläufen“ (Ralf Fücks).

Die gezüchteten „kraftfutterverwertende Hochleistungskühe“, von denen jede einzelne mehr Milch gibt als ihre vier Urgroßmütter zusammen, sind zugleich das Spiegelbild einer Gesellschaft, in der das Wegwerfen zum Prinzip gehört: „Alles, was nicht in die Handelsklassen passt, sortieren Verarbeiter und Händler aus. Und am Ende der Kette stehen die Konsumenten, die jedes achte gekaufte Lebensmittel in den Müll werfen.“ Das war der Anlass für das Buch von Tanja Busse, in dem sie sich der Frage widmet, ob die Wegwerfkuh ein Managementfehler ist oder die Folge einer Wirtschaftsform, deren Akteure auf der Jagd nach neuen Leistungsrekorden vom Weg abgekommen sind: „Rechnet es sich in der modernen Landwirtschaft, Tiere wegzuwerfen? So wie es sich in der modernen Konsumgesellschaft rechnet, kaputte Waschmaschinen wegzuwerfen und sich neue zu kaufen, weil sich die Reparatur nicht lohnt?“

Natürliche Stoffkreisläufe: Mist statt Müll

Immer wieder wird im Buch darauf verwiesen, dass die alte Landwirtschaft Stoffkreisläufe kannte, in der es Mist gab, aber keinen Müll. „Etwa zehntausend Jahre lang haben die Menschen eine solare Landwirtschaft betrieben, die weder Energieinput von außen brauchte noch Abfälle produzierte. Dann fanden die Chemiker Haber und Bosch heraus, wie man Stickstoff aus der Luft gewinnen und zu Kunstdünger verarbeiten kann. Damit begann die große Energieverschwendung der Landwirtschaft, die bis zum heutigen Tag anhält. Längst sind die Böden so überdüngt, dass überall dort, wo zu viele Tiere gehalten werden, Stickstoff ins Grundwasser sickert.“ Nein, Tanja Busse plädiert nicht dafür, die Vergangenheit wieder heraufzubeschwören, in der das Vieh im Winter im Stall beinahe verhungert wäre. Vielmehr geht es ihr darum, sich heute auch an das bäuerliche Erbe zu erinnern, zu dem es beispielsweise auch gehört, dass junge Kälber nicht einfach getötet werden.

Verstärkt berichten auch die Medien über das Thema, aber leider nicht immer differenziert (mit Ausnahme der Fachmedien im Biobereich): „Antibiotika-Gefahr aus dem Stall“ (Schrot & Korn 5/2015), „Aufbruch im Stall“ (DIE ZEIT 14/2015) oder „Kälber für die Tonne“ (DER SPIEGEL 18/2015). Das Buch von Tanja Busse ist vor diesem Hintergrund besonders wichtig, weil es auch dazu einlädt, sich mit Begriffen und Themen tiefer auseinanderzusetzen und sich nicht mit ihrer Oberfläche zufriedenzugeben. Dazu gehören auch viel gebrauchte Begriffe aus der Managementsprache - beispielsweise Resilienz.

Das Wort bezeichnet im Kontext von Tanja Busse nämlich das Gegenteil von dem, was die Intensivlandwirtschaft mit ihren vielfältigen Risiken praktiziert: „Ein Kalb, das im Alter von wenigen Wochen über Stunden und Tage transportiert wird, um dann mit vielen anderen Kälbern aus vielen anderen Ställen auf engem Raum eingepfercht zu werden, ist nicht resilient, sondern anfällig. Es braucht Antibiotika, um auf den Beinen zu bleiben. Und wenn die neue, schärfere Gesetzgebung die Antibiotikagaben einschränkt, hat die Branche ein Problem (das Kalb sowieso). Eine Kuh, die sehr jung ihr erstes Kalb bekommt, um als Hochleistungssportlerin in der Produktion zu gelten, ist Krankheiten gegenüber nicht widerstandsfähig.“ Wie es anders geht, zeigen Wolf-Dietmar und Philipp Unterweger in ihrem Buch „ECHTE BAUERN retten die Welt!“

Die Lösung liegt im Herzen

Das Buch ist nicht nur hervorragend recherchiert, sondern bereichert auch die Nachhaltigkeitsdebatte und ist zugleich eine Gebrauchsanweisung zum guten Leben. Niemals phrasenhaft, niemals mit erhobenem Zeigefinger, sondern berührend im Erzählen von Geschichten, auf die wir nicht verzichten können, weil wir sonst auf uns selbst verzichten würden. Bloße Fakten reichen nach Ansicht von Tanja Busse nicht aus, um Nachhaltigkeitsthemen zu vermitteln. Ohne starke Bilder im Kopf und wahrhaftige Geschichten, wie Ernährung und Landwirtschaft in Zukunft sein sollten und „welche Rolle wir alle dabei spielen möchten“, spüren wir nicht, dass sie uns persönlich angehen.

Sie ist davon überzeugt, dass kleine Schritte der richtige Weg sind. Dazu gehört es beispielsweise, einmal in der Woche gutes Fleisch zu essen, statt jeden Tag Billigwürste in sich hineinzustopfen. Das ist für viele Menschen überzeugender als ein Verbot. Der ökologische Gestus des „Du darfst nicht“ bewirkt eher das Gegenteil. Eine Lösung liegt allerdings nicht im technischen Bereich. Sie ist viel einfacher zu finden: in unserem Herzen. „Wir sollten Überlegungen zur Finanzierbarkeit und ökonomischen Machbarkeit einen Moment ausblenden und von dem ausgehen, was wir uns wünschen“, schreibt Tanja Busse. Ihrer Ansicht nach sind es gerade Tierrechtler und Veganer, die eine große Erzählung von der Zukunft unseres Essens und der Landwirtschaft haben: „Kein Tier soll mehr leiden. Die Tiere sind unsere Freunde. Wir werden sie nicht mehr quälen. Sie haben ein Recht darauf, anständig behandelt zu werden.“

Leider gibt es allerdings einen „rhetorischen Dreiklang“, den die Autorin in ihren Recherchen und Vorträgen immer wieder spürte und auch heute noch erlebt. Die fortschritts- und technikorientierten Anhänger der modernen Landwirtschaft wehren alle kritischen Bemerkungen geradezu reflexhaft ab:

  1. Der Landwirt ist realistisch und sachlich.

  2. Der Kritiker ist emotional, unsachlich und hat keine Ahnung.

  3. Er urteilt aufgrund von romantischen Vorstellungen und/oder Ideologien, die nichts mit der echten Welt zu tun haben.

Nach Ansicht von Busse sind die Verbände und viele Landwirte sehr damit beschäftigt, Kritik aus den Medien und der Öffentlichkeit abzuwehren, „dass sie darüber den kritischen Blick auf ihre Branche völlig verloren haben“. Dennoch macht dieses Buch Hoffnung, denn es kommen auch die verantwortungsbewussten Konsumenten ins Spiel, die ihren Teil zu einer nachhaltigen Wende beitragen und als Wähler „Rahmenbedingungen für diesen Wandel von der Politik einfordern müssen“. In diesem Spannungsfeld muss nach Tanja Busse auch die Debatte über die Zukunft unserer Landwirtschaft angesiedelt werden - nicht vor den Hoftoren eines einzelnen Landwirts.

Ihr Buch sollte im besten Wortsinn „aufgelesen“ werden – es findet sich auch in den Zeilen des Philosophen Peter Sloterdijk: „Das bloße Weitermachen ist kriminell, die bloße Verzichtsethik ist naiv. Dazwischen liegen die intelligenten Wege.“

Weitere Informationen:

Echte Bauern

Die Menschheit braucht lokale Antworten auf globale Probleme: Interview mit Dr. Wolf-Dietmar Unterweger und Dr. Philipp Unterweger

Wolf-Dietmar und Philipp Unterweger: ECHTE BAUERN retten die Welt! Leopold Stocker Verlag, Graz 2018.

Dr. Alexandra Hildebrandt schreibt über Wirtschaft & Management, Nachhaltigkeit, Digitalisierung, Internet & Technologie

Als Publizistin, Herausgeberin, Bloggerin und Nachhaltigkeitsexpertin widme ich mich den Kernthemen Nachhaltigkeit und Digitalisierung. Beim Verlag SpringerGabler habe ich die CSR-Bände zu Digitalisierung, Energiewirtschaft und Sportmanagement herausgegeben sowie "Klimawandel in der Wirtschaft".

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