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Die Welt der Otrovertierten: Was es bedeutet, nicht dazuzugehören

Der New Yorker Psychiater Dr. Rami Kaminski prägte den Begriff "Otroversion" für einen dritten Persönlichkeitstyp neben Introvertierten und Extravertierten. In seinem aktuellen Buch „Wie schön es ist, nicht dazugehören zu müssen“ (im Original: The Gift Of Not Belonging) erklärt er, warum Otrovertierte auch ohne Gruppe ein erfülltes Leben führen können.

Das Persönlichkeitsmerkmal der Nichtzugehörigkeit

In meinem Innern gibt es einen Ort, an dem ich ganz allein lebe, und dort erneuere ich meine nie versiegenden Quellen.“
Pearl S. Buck

Viele Menschen definieren sich durch ihre Zugehörigkeit zu einer Gruppe. Es gibt aber auch Menschen, die mittendrin sind, aber sich einem Kollektiv nicht zugehörig fühlen. Für sie prägte der New Yorker Psychiater Dr. Rami Kaminski den Begriff Otroversion. Er leitet sich vom spanischen Wort otro ab und bedeutet "anders". Eine solche Lebenshaltung wird häufig pathologisiert und ist mit zahlreichen Vorurteilen (Einzelgängertum, Nichtteilhabe, Einsamkeit oder soziale Inkompetenz) verbunden. Dabei seien wir von Geburt an „unaffiliated“ (ohne Zugehörigkeit). Doch Erziehung, Schule und kulturelle Einflüsse lehren uns, Teil einer Gemeinschaft zu werden, so Kaminski. Hinzu kommt, dass die Verteidigung des Außenseitertums in keine Gesellschaft passt, die von Anpassung, Teamwork, Networking und „Normalität“ durchdrungen ist. Doch wo Zugehörigkeit ins Extreme kippt, entsteht ein gefährliches „wir gegen sie“: Außenseiter werden belächelt, bedrängt oder gemobbt („moral outsourcing“). Wenn Menschen ihr Gewissen in der Gruppe ablegen, kann das fatale Folgen haben. Mit seiner Neuschöpfung füllt Kaminski das Vakuum zwischen den klassischen Kategorien „Introversion“ und „Extraversion“, die dem am besten erforschten Persönlichkeitsmodell zugeordnet sind: die Big Five. Das Modell entwickelten US-Forscher vor ca. 100 Jahren. Als psychologisches Konzept geht es ursprünglich auf den Psychoanalytiker C. G. Jung zurück. Neben der Extraversion umfasst das Big-Five-Modell weitere folgende vier Persönlichkeitsfaktoren:

  • Offenheit für Erfahrungen (Einfallsreichtum, Neugier, Abwechslung)

  • Gewissenhaftigkeit (Zielstrebigkeit, Pflichtbewusstsein)

  • Verträglichkeit (Rücksicht, Kooperationsfähigkeit, Empathie)

  • Neurotizismus (Labilität, Verletzlichkeit).

Extravertierte Menschen sind aktiv und gesellig, sie benötigen die Liebe und Anerkennung anderer und schöpfen die Energie aus Gruppen und Begegnungen, passen sich an und erleben Zugehörigkeit als Quelle von Lebenskraft, Freude und Identität. Introvertierte gehören zwar zur Gemeinschaft, schöpfen aber ihre Energie aber aus dem Rückzug. Sie sind eher ruhig, bedacht und ernsthaft. Viele Eigenschaften der Introvertierten fließen in den Persönlichkeitstyp von Kaminski ein. Er setzt einen neuen Rahmen, auch wenn das Bild schon bekannt ist. Otroversion vergleicht er gern mit Linkshändigkeit: Man kann alles tun, was auch andere können, und meist fällt es auch überhaupt nicht auf. Problematisch wird es erst, wenn Betroffene gezwungen werden, die andere Hand zu verwenden. Dann stößt man zwangsläufig auf Schwierigkeiten, die Rechtshänder nie erleben.

Was Otrovertierte ausmacht:

Sie nehmen nur so viel Welt in sich auf, wie sie auch verarbeiten können. Was sich nicht produktiv verwerten lässt, wird einfach vernachlässigt, um die eigene Aufgabe so gut wie möglich zu erfüllen.

Sie ziehen oft Kraft aus der Rolle des Beobachters (nicht des Teilnehmers) und finden klare Verbindungen, anstatt sich auf eine breite soziale Anerkennung zu verlassen.

Ihre Stärke ist das unabhängige Denken, das durch keine Strömung oder Institution beeinflusst sei.

Sie suchen intensive Einzelbeziehungen.

Als Fokussierte können sich mit einer Aufgabe intensiv und leidenschaftlich beschäftigten und nehmen alles andere um sie herum kaum wahr.

Otrovertierte spüren, wenn Gruppendenken kippt: „Sie schlagen Alarm, wenn Toleranz in Fanatismus umschlägt.“ (Kaminsksi)

Sie sind häufig überdurchschnittlich empathisch, kreativ und eigenständig.

Das Ziel ihrer menschlichen Entwicklung ist die ehrliche Beziehung zu sich selbst.

Problematisch ist für sie die gesellschaftliche Erwartungsnorm, sich einer Gruppe anpassen zu müssen.

Sie sind frei vom Gruppendenken.

Sie leben aus ihrem Inneren heraus, handeln nach ihrer eigenen Überzeugung und sind frei von äußeren sozialen Zwängen.

Sie bewegen sich frei zwischen sozialen Kontexten und bevorzugten Unabhängigkeit von gesellschaftlichen oder religiösen Bindungen.

Sie sehen die Welt aus ihrer eigenen Perspektive und gestalten ihr Leben nach eigenen Wünschen, statt den Erwartungen anderer zu folgen.

Sie sehen ihren Platz am Rand des Geschehens.

Sie sind „sanfte Rebellen“.

Sie legen Wert auf ehrliche, authentische Verbindungen.

Sie erleben sich beständig als Nicht-Zugehörige und weigern sich, sich zwingend nach den Normen und Ritualen der Mehrheit zu verhalten.

„Otherness“ (Andersartigkeit) ist keine Persönlichkeitsstörung, sondern ein besonderes Persönlichkeitsmerkmal. Der Autor bezeichnet sich selbst als otrovertiert: In seiner Kindheit war er beliebt und kontaktfreudig, hatte Freunde und mochte die Schule. Innerlich fühlte er sich allerdings anders und täuschte seine lockere, unbekümmerte Verbundenheit mit Altersgenossen nur vor: „Ich hatte keine Leidenschaft für Sport, Musikbands, Partys. Ich tat zwar so, als wäre ich Fan einer Mannschaft, ging zu Rockkonzerten, jubelte mit, aber ich hatte keinen Spaß daran. Auch zu Sommercamps oder Ausflügen ging ich nur, um dazuzugehören. Mit der Zeit fiel es mir aber immer schwerer, eine Persönlichkeit aufrechtzuerhalten, die nicht wirklich ich selbst war, nur um beliebt zu sein.“ Als er Psychiater erkannte er, dass es vielen Menschen ähnlich geht. Vor diesem Hintergrund schuf er den (Kunst-)Begriff „Otroversion“.

Er wünscht sich für die Zukunft, dass Menschen, die nicht dazugehören, eine andere Perspektive auf ihr Leben erhalten, ihre Gaben im eigenen Otrovertiertsein erkennen, um sich von Selbstzweifel und Anpassungsdruck zu befreien. 2023 gründete Kaminski deshalb das "Otherness Institute", um die Forschung zum Thema voranzubringen. Er gründete auch das TIIPS Institut zur Optimierung verfügbarer Behandlungen in Medizin und Psychiatrie. Zu seinen zahlreichen Auszeichnungen gehören der "Exemplary Psychiatrist Award" der National Alliance for the Mentally Ill und der "Physician of the Year Award" des Mount Sinai Hospital in New York City. In seinem aktuellen Buch arbeitet Kaminski mit zahlreichen literarischen und philosophischen Referenzen (von Franz Kafka über Albert Camus bis zu Frida Kahlo), um zu belegen, dass die Produktivität des Außenseitertums tief in unserer Kulturgeschichte verwurzelt ist. Nicht erwähnt ist der Modedesigner Karl Lagerfeld (1933-2019), der diesem Persönlichkeitstyp ebenfalls zuzuschreiben ist: Er bezeichnete sich einmal als das Ergebnis dessen, was er gewollt und beschlossen hat zu sein:

Ich bin mein Anfang und mein Ende, und was ich erreichen möchte, bestimme ich selbst."
Karl Lagerfeld

Auch stellte er immer wieder seine Beobachterrolle heraus: „Ich bin der Professor, der das Insekt betrachtet, nicht das Insekt selbst.“ Zeitprobleme kannte er nicht, weil er kaum ausging. Er lebte sehr gut mit sich allein. Das war für ihn der absolute Luxus: nur zu machen, was er wollte und in Ruhe arbeiten zu können: „Ich bin wahnsinnig gern allein, da kann ich meine Batterien aufladen, lesen, zeichnen, nicht auf die Uhr schauen.“ Auch Weihnachten gehörte nur ihm: Er lud niemanden ein und ging auch nicht aus dem Haus Tür. Silvester genauso: „Das ist ja noch schlimmer, auf einer Party mit vielen Leuten, denen man allen ein gutes neues Jahr wünschen muss, wo die einem total egal sind. Nein, nein, nein. Da höre ich doch lieber zu Hause meine Musik…“  Auch Gruppenzwängen hat er sich nie unterordnen wollen: „Die Leute wollen immer mit einem sprechen. Die Deutschen sind die schlimmsten. Das ist unmöglich. Man kann sich nicht mehr konzentrieren, man wird ständig unterbrochen.“

Das Buch:

  • Rami Kaminski: Wie schön es ist, nicht dazugehören zu müssen. Aus dem Englischen von Marion Zerbst. Kailash, Wilhelm Goldmann Verlag, München 2025.

Weiterführende Informationen:

Dr. Alexandra Hildebrandt schreibt über Wirtschaft & Management, Nachhaltigkeit, Digitalisierung, Internet & Technologie

Als Publizistin, Herausgeberin, Bloggerin und Nachhaltigkeitsexpertin widme ich mich den Kernthemen Nachhaltigkeit und Digitalisierung. Beim Verlag SpringerGabler habe ich die CSR-Bände zu Digitalisierung, Energiewirtschaft und Sportmanagement herausgegeben sowie "Klimawandel in der Wirtschaft".

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