Die Reise für das perfekte Selfie - Pixabay

Die Welt im Selfie: Reisen im Zeitalter des Tourismus

Der Tourismus ist zur wichtigsten Industrie unseres Jahrhunderts geworden. In den letzten 15 Jahren haben sich die Einnahmen der Tourismusbranche mehr als verdoppelt. Von ihr hängt die Automobilindustrie, das Bauwesen sowie der Wohn-, Straßen- und Autobahnbau ab. Vor diesem Hintergrund bezeichnet der italienische Journalist und Historiker Marco d'Eramo den Tourismus als wichtigste Industrie des 21. Jahrhunderts und unsere Epoche sogar als „Zeitalter des Tourismus“. In seinem Buch „Die Welt im Selfie“ besichtigt er es und widmet sich folgenden Fragen:

  • Worin besteht die Aktivität, die wir Tourismus nennen, genau?

  • Was tun sich Menschen für einen Selfie alles an?

  • Was zeichnet den touristischen Blick aus?

  • Was treibt Touristen an? Warum betreiben sie einen so großen Aufwand? Was haben sie davon?

  • Warum möchten wir beim Reisen nicht allein sein?

  • Sind die Selfies vor Sehenswürdigkeiten und die vielen Millionen Einträge auf Tripadvisor wirklich Zeichen moderner "Selbstunsicherheit" oder ironisches Genießen der eigenen Entfremdung?

  • Wie kommt es, dass die Inszenierung der Touristenstadt ihre unverwechselbare Theatralität verleiht?

  • Warum verwandeln sich einzigartige Wahrzeichen der Geschichte heute in endlos vervielfältigbare Kopien?

Verlust der Nachhaltigkeit im Tourismus

Rückblickend wird aber auch gezeigt, dass im modernen Verständnis der Tourismus eine Erfindung des 19. Jahrhunderts ist und dank der Revolution des Verkehrs- und Kommunikationswesens im 20. Jahrhundert erst richtig in Bewegung kam. Auf das Unternehmen von Thomas Cook (1808-1892) geht die erste organisierte Exkursion (1841) zurück, die erste Gruppenreise (1845) und die erste organisierte Reise um die Welt (1872) zurück. Mit dieser Dynamik wurde die einstige Sommerfrische zum modernen Urlaub.

„Reisen ist offensichtlich unser Traum vom Entkommen. Weil wir uns aus dem, was uns festhält, selbst nicht herauslösen können, soll die Urlaubsreise uns verwandeln“, schreibt der Journalist und ergänzt: „Tut sie aber nicht.“ Seine Recherchen, Kommentare und Reflexionen widmen sich vor allem dem Verlust der Nachhaltigkeit im Tourismus, jedoch ohne den Begriff zu nennen. Vielleicht, weil vieles heute nicht mehr nachhaltig ist – nicht einmal mehr unsere Neugier. Mit dem zunehmenden Tourismus kamen auch Überdruss und Selbsthass der Reisenden in die Welt, wie eindrucksvoll belegt wird. So klagte John Ruskin bereits 1857 über die Zerstörung der Städte und Landschaften durch ihre enthusiastischen Besucher. Einige Jahrzehnte früher kritisierte Stendhal die Engländer und Russen in Florenz, die die Stadt zu einem "Museum voller Ausländer" machten.

Der Autor erläutert auch Unterschied zwischen Handbüchern – in denen es darum ging, den Blick des Reisenden auf bestimmte Gegenstände und Ereignisse zu lenken („man erklärte das Wie, nicht das Wohin des Reisens und Schauens“) - und Reiseführern, in denen erörtert ist, wohin man gehen sollte, wie man am besten hinkam und zu welchem Preis. „Der Prozess des Einsammelns von Markern gewinnt letztendlich die Oberhand über den Prozess des Reisens und wird zu dessen Hauptzweck.“ Die Vielzahl von Markern führt dazu, dass das Unechte echt wird - und sobald dies in den Medien reproduziert worden sind, erwerben sich Orte ihre Aura. Bei Touristen führt das vielfach zu Ent-Täuschungen, weil sie nicht die Orte besucht haben, sondern nur die Reiseführer.

Tötet Tourismus die Städte auf subtilere Weise?

Das Urbild des modernen Touristen war der Flaneur, dem es nicht nur um physisches Schlendern, sondern auch eine neue (Gang-)Art des Denkens ging. Im Komplexitäts- und Digitalisierungszeitalter ist davon nicht mehr viel übriggeblieben, denn auch die Touristenstädte sind längst nicht mehr das, was sie einmal waren. Für die meisten Einheimischen sind sie inzwischen „unlebbar“ geworden. Kulturpessimismus ist durchaus angebracht, denn der Tourismus tötet die Städte auf subtilere Weise, „indem er ihr das Innenleben wegnimmt, sie innerlich entleert wie bei einer Mumifizierung und sie als eine Art Stadtpräparat zu einem riesigen Themenpark macht“. Disneyland lässt grüßen. Hinzu kommt: Wo Touristen sind, werden noch mehr Touristen angezogen.

Ein von Marco d'Eramo angesprochener und in den Medien kaum reflektierter Aspekt ist das schädliche Etikett „Weltkulturerbe“ (engl. World Heritage), das von der Unesco vergeben wird: Wo immer es aufgeklebt ist, „stirbt die Stadt und endet buchstäblich als Präparat.“

Mit Claude Lévi-Strauss fasst er die vergängliche Einzigartigkeit unserer Welterfahrung am Ende zusammen: „In einigen hundert Jahren wird am selben Ort ein anderer Reisender ebenso verzweifelt wie ich all den Dingen nachtrauern, die ich heute hätte sehen können und die mir entgangen sind. Als Opfer eines doppelten Unvermögens verletzt mich alles, was ich sehe, und ich werfe mir unablässig vor, nicht genau genug hinzuschauen.“

Weiterführende Informationen:

  • Verbraucher, denen eine nachhaltige Lebensweise auch im Urlaub am Herzen liegt, können sich an Zeichen wie dem "TourCert-Siegel" oder "Viabono" orientieren. Besonders umweltschonend geht es in Unterkünften zu, die das "EU-Eco-Label" für Beherbergungsbetriebe und Campingdienste vorweisen. "Bett+Bike"-zertifizierte Unterkünfte sind speziell auf die Bedürfnisse von Fahrrad-Urlaubern ausgerichtet. Wanderer können bei der Planung ihrer Routen auf das Zeichen "Qualitätsweg Wanderbares Deutschland" achten.

  • Marco d'Eramo: Die Welt im Selfie. Eine Besichtigung des touristischen Zeitalters. Aus dem Italienischen von Martina Kempter. Suhrkamp Verlag, Berlin 2018.

  • Alexandra Hildebrandt: Urlaub. Das Gute in der Nähe finden. Amazon Media EU S.à r.l. Kindle Edition 2017.

Zum Thema CSR, Digitalisierung und Tourismus:

  • Carsten Seeliger und Georg Welbers: Digitalisierung im touristischen Vertrieb – Mit Omnichannel bestimmt endgültig der Kunde die Regeln.

  • Christian Smart: Kundenakzeptanz humanoider Roboter und digitaler Technologien – wie Roboter Reisen künftig entspannter und kundenorientierter machen.

  • Beide in: CSR und Digitalisierung. Der digitale Wandel als Chance und Herausforderung für Wirtschaft und Gesellschaft. Hg. von Alexandra Hildebrandt und Werner Landhäußer. SpringerGabler Verlag. Berlin Heidelberg 2017.

Dr. Alexandra Hildebrandt schreibt über Wirtschaft & Management, Nachhaltigkeit, Digitalisierung, Internet & Technologie

Als Publizistin, Herausgeberin, Bloggerin und Nachhaltigkeitsexpertin widme ich mich den Kernthemen Nachhaltigkeit und Digitalisierung. Beim Verlag SpringerGabler habe ich die CSR-Bände zu Digitalisierung, Energiewirtschaft und Sportmanagement herausgegeben sowie "Klimawandel in der Wirtschaft".

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