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Alexandra Stefanov

Digitalisierung Made in China: Interview mit der Sinologin Alexandra Stefanov

Alexandra Stefanov war nach ihrem Studium der Sinologie und Transkulturellen Studien in Heidelberg, Tianjin und Shanghai als Projekt- und Eventmanagerin in verschiedenen Unternehmen mit China-Fokus tätig. Seit über 10 Jahren widmet sie sich den Themen chinesische Internetkultur, Innovationen und digitale Trends. Sie ist Gründerin von China Impulse und Co-Autorin des Buchs „Digitalisierung Made in China. Wie China mit KI und Co. Wirtschaft, Handel und Marketing transformiert“. Ihre Vision ist es, möglichst vielen Menschen den Einstieg in die chinesische Digitalwelt zu erleichtern und aufzuzeigen, was wir davon für unsere eigene Digitalisierung in Europa lernen können. Im Rahmen der Digitalisierungs-Initiative der Deutschen Wirtschaft fördert sie auch die Digitalisierung und Innovationen im deutschsprachigen Raum. Weiterführende Informationen: www.china-impulse.de

Das hat in erster Linie damit zu tun, dass China nach den Opiumkriegen zwischen ca. 1840 und 1980 im Vergleich zu anderen Nationen nicht weltführend in der Wirtschaft war und die industrielle Revolution verpasst hat. In dieser Zeit übernahmen die USA eine Vorreiterrolle. 1978 kam zwar die wirtschaftliche Öffnung unter Deng Xiaoping, doch China wurde zunächst die Fabrik der Welt mit Produkten von mäßiger Qualität und billigen Arbeitskräften. Unser heutiges westliches Bild ist noch von dieser Phase geprägt.

Was wir im sogenannten Westen dabei aber oft vergessen, ist, dass China bis ca. 1840 rund 2.000 Jahre lang die führende Wirtschaftsmacht war. Unter der mongolischen Herrschaft war China ab etwa 1215 das größte Land der Erde, vier Mal so groß wie das Römische Reich. Der Buchdruck wurde 500 Jahre vor Guttenberg erfunden und das Schießpulver und Papiergeld kommen ebenfalls aus China. Zu Beginn der Ming-Dynastie gab es um ca. 1430 herum im Reich der Mitte noch vor Kolumbus die größte Schiffsflotte der Welt und die größten Expeditionen des chinesischen Admirals Zheng He.

Nun ist China wieder dabei, eine wichtige Wirtschafts- und Technologiemacht zu werden. Doch die westliche Berichterstattung ist sehr stark auf die Differenzen der politischen Systeme fokussiert und weniger auf die Menschen, die technologischen Fortschritte und die kulturellen Hintergründe. Das führt dazu, dass man aus den Medien nur wenige Aspekte der Entwicklung in diesem riesigen Land mitbekommt. In den letzten Jahren ist China unter Xi Jinping in der Tat sowohl nach außen als auch nach innen autoritärer geworden. Umso wichtiger ist es dabei aber, dass wir uns mit dem Land beschäftigen, hinter die Fassade blicken und Klischees und Vorurteile abbauen.

Seitdem ich mich im Rahmen der Digitalisierungsinitiative der Deutschen Wirtschaft tiefgründiger mit dem Thema Digitalisierung in Deutschland beschäftige, fällt mir immer mehr auf, wie wenig wir uns in Europa mit der chinesischen Digitalwelt auskennen und befassen. Dabei hat China schon 989 Millionen InternetnutzerInnen, hat im Jahr 2019 zum ersten Mal die USA bei der Anzahl der Patentanmeldungen überholt und ist uns bei fast allen digitalen Trends mindestens 5 Jahre voraus.

Vor diesem Hintergrund habe ich im Mai 2020 China Impulse ins Leben gerufen, weil ich aus eigener Erfahrung von meinen bisherigen China-Aufenthalten weiß, wie überfordernd die Geschwindigkeit des chinesischen technischen Fortschritts sein kann. Ich habe dieses Projekt gestartet, um zu sehen, wie andere China-SpezialistInnen am Puls der Zeit bleiben und mit den Entwicklungen in Chinas Digitalwelt mithalten. Das Projekt hat sich zu einer Interviewserie entwickelt, in der ich 22 ExpertInnen aus Bereichen wie Unternehmensberatung, PR- und Marketing, Start-up-Gründung, Innovationsforschung und Chinawissenschaften interviewt habe, die sich mit Chinas Digitalwelt auskennen und erfolgreich mit den digitalen Themen dort Schritt halten.

Nach der Ausstrahlung der Interviewreihe habe ich zusammen mit Prof. Dr. Claudia Bünte, einer meiner Interviewpartnerinnen, beschlossen, die wertvollen Insights aus den Gesprächen zu einem Buch zu verfassen, mit dem Ziel, mehr Verständnis für die Digitalisierung „Made in China“ zu schaffen. Das Buch wirft ein Schlaglicht auf die aktuelle, rasante Entwicklung der Digitalisierung in China und beleuchtet, welche Implikationen dieser dynamische Fortschritt auch für ManagerInnen in Deutschland hat. Die 22 ExpertInnen teilen ihr Wissen und ihre Erfahrungen und geben Hinweise dazu, was die Transformation in China auch für die europäische Wirtschaft bedeuten kann. Als Textinterviews im Buch und als Videointerviews via QR-Codes.

Die Grundlage der chinesischen Digitalisierung bilden die Offenheit der Bevölkerung gegenüber digitalen Anwendungen und die Akzeptanz neuer Technologien. Da China sehr schnelllebig ist und sich in den letzten 40 Jahren vollkommen gewandelt hat, werden Veränderungen viel eher akzeptiert als in anderen Ländern. Die Risikobereitschaft, sich auf Neues einzulassen und die Offenheit der Bevölkerung führen zu einer starken Technikaffinität und zur Neugierde, digitale Produkte und Services auszuprobieren. Die Leute sind aufgeschlossen und sehen die moderne Technologie als Chance, nicht als Gefahr.

China ist heute ein mobile-only Land mit fast 1 Milliarde InternetnutzerInnen, von denen 99,7% mit dem Smartphone online sind. Vor allem der SARS-Ausbruch im Jahr 2002 hat dazu beigetragen, dass das Internet in China schnell zu einem Massenmedium wurde und dass sich Smartphones gut etablieren konnten. So haben die ChinesInnen das Desktop-Zeitalter praktisch übersprungen und haben das Internet direkt mobil erlebt. In diesem Zusammenhang haben auch die QR-Codes, die heute aus dem chinesischen Alltag nicht mehr wegzudenken sind, eine wichtige Rolle gespielt. Sie haben eine mühelose Online-Offline-Integration ermöglicht und haben dabei mitgewirkt, dass viele Alltagsprobleme durch mobile-only Anwendungen digital gelöst wurden.

Neben den Strategien und Investitionen der chinesischen Regierung, die die Weiterentwicklung der Digitalisierung vorantreiben, ist der „Convenience“-Gedanke innerhalb der Bevölkerung ein weiterer Faktor, der dazu beiträgt, dass die Digitalisierung voranschreitet. Gerade in den riesigen chinesischen Metropolen schätzen die Menschen alles, was sich gut im Alltag integrieren lässt, ihnen das Leben erleichtert und Zeit spart.

Es wird oft angenommen, dass China keinen Datenschutz hat. Die Wahrheit ist, dass China oft erst entwickelt und danach reguliert, sodass Daten einfach anders geschützt werden als im Westen. In der kollektivistischen chinesischen Gesellschaft ist das Gemeinwohl wichtiger als das einzelne Individuum und eine vertrauenswürdige Gesellschaft ist bedeutender als die Privatsphäre des Einzelnen. So ist der Datenschutz in China eng mit den Themen Sicherheit und Vertrauen verbunden. Das führt dazu, dass sich die chinesische Bevölkerung bisher wenige Gedanken um die Sammlung ihrer Daten machte. Das wiederum war eine gute Grundlage für die schnelle Entwicklung der Digitalisierung und vor allem der Künstlichen Intelligenz in China.

In den letzten Jahren protestieren die chinesischen BürgerInnen allerdings immer mehr gegen Unternehmen, die ihre personenbezogenen Daten sammeln und ausnutzen und sie klagen diese wegen Datenmissbrauch an. So werden auch immer wieder neue Gesetze zur Erhöhung der Datensicherheit erlassen. Seit dem 01.01.2021 gibt es in China ein Zivilgesetzbuch, das unter anderem die Nutzung von persönlichen Daten regelt und dazu führt, dass sich der Datenschutz in China der DSGVO annähert. Privatsphäre wird allerdings nicht als ein persönliches Recht, sondern als Staatsgut angesehen. Daten sind somit immer mehr vor Privatunternehmen und anderen Staaten geschützt, stehen aber der chinesischen Regierung weiterhin zur Verfügung.

Doch trotz der Entwicklungen im letzten Jahr ist der Datenschutz noch nicht so streng reguliert wie in Europa, weswegen in China Plattform-Ökosysteme und plattformübergreifende App-Nutzungen immer noch florieren und dazu beitragen, dass sich eine viel komplexere und mächtigere Digitalwelt entwickeln kann als im Westen.

Im Jahr 2019 überholte China mit 58.990 zum ersten Mal die USA bei der Anzahl der Anmeldungen und gelang an die Spitze des Welt-Rankings. Chinesische Produkte und Technologien verwandeln sich also Schritt für Schritt von „Made in China“ zu „created in China“ und das Reich der Mitte steigt von der Werkbank der Welt zur Innovationsfabrik und Ideenwerkstatt der Welt auf. Somit ist uns China in den Bereichen digitale Ökosysteme, E-Mobilität, autonomes Fahren und KI ganz klar mehrere Jahre voraus.

China hat beispielsweise einen expliziten und sehr detaillierten KI-Fünf-Jahresplan ausgearbeitet mit dem Ziel, bis 2030 weltführend bei KI zu sein. Dieses Ziel wird durch hohe staatliche Investitionen vorangetrieben. Das IDA Science and Technology Policy Institute berechnet aus zwei Veröffentlichungen ein Gesamtinvest in KI von sechs Milliarden US-Dollar in 2018. Dagegen wirken die 3,3 Milliarden US-Dollar, die die deutsche Regierung bis 2025 über acht Jahre verteilt in KI investieren will, vergleichsweise gering. Pro BürgerIn und Jahr gibt China für die Grundlagenforschung von KI zwar in etwa so viel Geld aus wie Deutschland – aber Chinas Gesamtbevölkerung ist rund 17-mal größer als die Bevölkerung Deutschlands.

Staatliche Förderung und die Offenheit der Bevölkerung gegenüber neuen Technologien führen dazu, dass sich auch die Themen E-Mobilität und autonomes Fahren in China schnell durchsetzen und zum Alltag gehören. Durch die vielen Staus, den Lärm und die Luftverschmutzung in den chinesischen Metropolen ist der Druck groß, Lösungen für diese Probleme zu finden. Deshalb wird im Bereich E-Mobilität in China extrem viel investiert. Shenzhen beispielsweise gilt weltweit als Modellstadt der E-Mobilität. In den letzten Jahren wurden dort alle Taxis und Busse auf Elektrofahrzeuge umgestellt, was dazu geführt hat, dass sich die Luftqualität verbessert hat und sogar vierspurige Straßen extrem leise geworden sind.

Zudem fahren in chinesischen Großstädten wie Peking und Guangzhou, nach zahlreichen Pilotprojekten, seit diesem Jahr sogar fahrerlose Taxis von Baidu und WeRide auf den Straßen. Die Robotaxi-Dienste werden von den Fahrgästen über Apps bestellt und viele sind bereits ohne Sicherheitsfahrer unterwegs. Auch Tech-Unternehmen wie Huawei und Xiaomi investieren in Technologien für Elektromobilität und autonomes Fahren und planen, womöglich noch in diesem Jahr, eigene Elektroautos auf den Markt zu bringen. Somit sind KI, E-Mobilität und autonomes Fahren nur einige Beispiele für die zahlreichen Technologie-Bereiche, in denen China den Westen bereits überholt hat.

Das Jahr 2020 wurde in China als das Jahr der Massenverbreitung von 5G bezeichnet und es wird geschätzt, dass das Reich der Mitte bis 2025 40% der weltweiten 5G-User haben wird. Mit Shenzhen hat es bereits jetzt die erste Stadt der Welt mit einer vollständigen 5G-Abdeckung. Neben den Smart Cities und dem autonomen Fahren ist 5G besonders für die Entwicklung des Industrial Internet of Things eine Schlüsseltechnologie: Hunderte von Farmen und Fabriken haben in ganz China schon neue 5G-Agrartechnologien und intelligente 5G-Produktionsanlagen mit unbemannten Gabelstaplern eingeführt.

Weitere Grundlagen der Digitalisierung, die sich extrem schnell entwickeln, sind die Themen KI und Big Data. In diesem Zusammenhang ist die Gesichtserkennung ein Top-Thema, das auch in China zunehmend kontrovers diskutiert wird. Der Convenience-Gedanke trägt dazu bei, dass die Gesichtserkennung größtenteils als Mittel begrüßt wird, das den Alltag erleichtert (z.B. beim Bezahlen im Supermarkt oder zum Entsperren von Türen). Auf der anderen Seite werden in der Bevölkerung aber immer mehr Bedenken hinsichtlich des Schutzes der Privatsphäre laut.

Neben den oben bereits erwähnten Bereichen E-Mobilität, autonomes Fahren und KI sehe ich aktuell in China die folgenden Top-Themen, die früher oder später auch in den Westen kommen werden:

  • New Marketing und New Retail (in Zusammenhang mit Livestreaming, virtuellen Influencern, Social Commerce und dem Consumer-to-Manufacturer-Modell)

  • Cashless Payment und die digitale Währung

  • KI-basierte Ärzte und Roboter (beispielsweise in Krankenhäusern und Restaurants)

Dazu ein kurzer Abschnitt aus dem Buch „Digitalisierung Made in China“: „KI wird in vielen Bereichen, die Menschen beherrschen, entwickelt. Künstliche Intelligenz kann heute schon sehen, riechen, anfassen, schmecken, lesen, schreiben, rechnen, sprechen – die Liste ist lang. Anders als ein Mensch lernt Künstliche Intelligenz diese Teilfähigkeiten aber nicht gleichzeitig, sondern in getrennten Systemen. Computer Vision sieht z.B. in der Regel ‚nur‘, aber spricht nicht gleichzeitig. Diese Trennung ist zu Beginn der praktischen Anwendung von KI vor einigen Jahren nötig gewesen, damit ein Computer überhaupt in der Lage ist, EINE dieser menschlichen Fähigkeiten im Laufe der Zeit zu erlernen.

Daher spricht man auch von ‚schwacher‘ KI, also der Fähigkeit, eine Funktion menschlicher Leistungen nachzubilden. Die sogenannte ‚starke‘ KI, also eine KI, die mehrere Systeme gleichzeitig kombiniert, kann etwas sprechen, sehen und anfassen. Interessant ist, dass viele der o.g. Anwendungen erst in den 2000er-Jahren programmiert wurden und auch erst vor ein paar wenigen Jahren für eine breite Öffentlichkeit erste Erfolge sichtbar wurden. Diese Erfolge - etwa, dass ein Computer einen Hund von einem Muffin unterscheiden kann - wirkten zunächst noch sehr fehlerhaft und ungenau. Aber, anders als ein Mensch, lernt KI exponentiell. D.h. es beginnt gefühlt sehr langsam, die Lernerfahrung wird aber immer schneller, und zum Schluss überholt eine KI die menschlichen Fähigkeiten nicht nur rasant schnell (exponentiell), sondern schlägt sie auch um Längen. Menschen neigen dazu, exponentielles Wachstum zu unterschätzen.“ Der Tag, an dem eine Maschine alle Fähigkeiten, die ein Mensch hat, nachbilden kann, könnte also schneller kommen als sich das viele von uns heute vorstellen können.

Es ist zwar nicht ideal, pauschal von „den Deutschen“ und „den Chinesen“ zu sprechen, man kann aber sagen, dass wir im sogenannten Westen China immer noch als Copycat sehen. Wir denken oft, dass die ChinesInnen wenig innovativ sind, dass sie viel kopieren und wenig Kreatives erschaffen. Dabei vergessen wir oft, dass China schon vor Tausenden von Jahren viele Erfindungen hervorgebracht hat und dass dort teilweise andere Konzepte und Vorstellungen von Innovation und Kreativität herrschen.

Innovation basiert in China beispielsweise auf Prinzipien wie zuerst nachahmen, später erfinden. Nachahmung ist in der chinesischen Kultur tief verwurzelt und auch das chinesische Schulsystem ist auf das Auswendiglernen fokussiert. Es werden die Ansichten vertreten: man lernt durch Kopieren und „Übung macht den Meister“. Erst wenn man perfekt kopiert und sich durch das Lernen verbessert hat, kann man etwas Eigenes erschaffen. Die Nachahmung wird so zum notwendigen Schritt, um auf die nächste Ebene zu gelangen und ein Produkt besser zu machen als das Original. Das Kopieren entwickelt sich Schritt für Schritt zu einer inkrementellen Innovation.

Ja, die Super-App wurde zuerst als chinesische Version von WhatsApp bekannt, jetzt ist sie aber viel mehr als das, nämlich eine Zusammensetzung aus WhatsApp, Instagram, Facebook, Twitter, Apple Pay, Uber, Google Maps und vieles mehr. Aus dem westlichen Original ist durch anfängliches Kopieren ein komplettes Ökosystem geworden, das dem westlichen Vorbild weit voraus ist. Jetzt ist Facebook dabei, WeChat zu kopieren und einzelne Funktionen, wie beispielsweise die WeChat Official Accounts, im Westen einzuführen. So wird der ursprüngliche Produktentwickler und Urheber selbst zum Kopierer.

Das soll natürlich keine Patentverletzungen und Piraterie von eins zu eins kopierten Produkten rechtfertigen. Was wir aber in diesem Zusammenhang von China lernen können, ist der Pragmatismus und die Idee, dass wir das Rad nicht neu erfinden müssen, sondern dass wir auch Produkte verbessern und weiterentwickeln sollten, die es schon gibt.

China hat sich in den letzten 40 Jahren enorm gewandelt, was dazu geführt hat, dass viele junge ChinesInnen heute ein geringes Gefühl der Vorhersehbarkeit verspüren. Sie können sich schwer vorstellen, wie die Zukunft aussehen wird, wodurch sie einen höheren Fokus auf kurzfristige als auf langfristige Ergebnisse setzen. Das bedeutet nicht, dass sie sich überhaupt nicht um die Zukunft oder um eine langfristige Planung kümmern. Doch ihre Risikoaversion ist höher und das prägt die Art und Weise, wie sie handeln und Verpflichtungen eingehen.

Außerdem spielt die Mentalität eine wichtige Rolle. Dabei hilft es, wenn wir uns die Kulturdimensionen von Geert Hofstede anschauen, auch wenn diese Annahmen sehr pauschal sind. Einer der Werte in Hofstedes Dimensionen ist die Unsicherheitsvermeidung. Dieser Wert sagt aus, wie bedroht sich eine Gesellschaft von ungewissen oder unbekannten Situationen fühlt. Auf Hofstedes Skala ist der Wert für die Unsicherheitsvermeidung in Deutschland doppelt so hoch wie in China.

Ein niedriger Wert wie in China deutet darauf hin, dass neue Ideen mit Neugier betrachtet werden und dass viel ausprobiert wird. Flexibilität, Pragmatismus und Agilität führen dazu, dass die Menschen sehr aktionsgetrieben sind. In diesem Zusammenhang herrscht in China eine ausgeprägte Trial-and-Error-Kultur und dementsprechend eine andere Fehlerkultur als in Deutschland. UnternehmerInnen sind es gewohnt, schnell zu agieren und sie sind bereit, eventuell entstehende Probleme erst im Nachhinein zu lösen.

Gepaart mit der Tatsache, dass Unternehmertum staatlich gefördert wird und dass es in den letzten Jahren viele Erfolgsgeschichten von Vorbildern wie Jack Ma und Pony Ma gegeben hat, sind UnternehmerInnen in China also tendenziell mutiger als in Deutschland. Mit dem Hintergedanken, dass China die letzten fast 200 Jahre verpasst hat, haben die UnternehmerInnen auch die nötige Motivation, schnellstmöglich auf der Weltbühne aufzuholen.

Ich sehe drei Hauptgründe für diese Entwicklung:

1. Die Mentalität

In China spielen, wie bereits weiter oben erwähnt, die Agilität und Flexibilität eine große Rolle. Auf der einen Seite wird sehr langfristig geplant – zum Beispiel mit den Fünf-Jahres-Plänen der Regierung oder den Zehn-Jahres-Initiativen wie Made in China 2025. Auf der anderen Seite treten im Laufe der Umsetzung oft Planänderungen ein, während das Hauptziel aber immer im Auge behalten wird. Das Zusammenspiel aus langfristigen Visionen, flexiblen Anpassungen und Einfach-Machen-Mentalität führt dazu, dass sich die chinesische Digitalwelt kontinuierlich weiterentwickelt. Agilität ist nicht nur ein Buzzword, sondern sie wird im Alltag wirklich gelebt.

Außerdem sind die ChinesInnen bei der Gestaltung von Produkten eher pragmatisch als perfektionistisch. Für einen Produkt-Launch wird nicht gewartet, bis das Ergebnis perfekt ist, sondern ein Minimum Viable Product (MVP) wird einfach auf den Markt gebracht und anhand von Kundenfeedback verbessert und erweitert. Während einige Produkte dabei keinen Erfolg haben, wird aus Fehlern schnell gelernt und es werden wieder neue Produkte entwickelt.

2. Die technologische Entwicklung

Die technologische Entwicklung wird in China durch hohe staatliche Investitionen gefördert und durch die Offenheit, Neugierde und Risikobereitschaft der Bevölkerung vorangetrieben.

Zudem führen die geopolitischen Spannungen und das Tech-Decoupling zwischen China und den USA dazu, dass China einen starken Drang verspürt, sich im Technologiesektor von anderen Ländern unabhängig zu machen. Die chinesischen UnternehmerInnen sind dabei immer stolzer auf die eigenen technologischen Entwicklungen und motivierter eigene digitale Plattformen und Produkte von hoher Qualität zu entwickeln.

3. Die großen Datenmengen

China hat mit 1,4 Milliarden Einwohnern die größte Bevölkerung der Welt, von denen fast eine Milliarde InternetnutzerInnen sind. Daraus entsteht eine sehr große Menge an Nutzungsdaten, die analysiert werden können und die der künstlichen Intelligenz dabei helfen, zu lernen und sich weiterzuentwickeln. Wenn diese Daten und Informationen miteinander verknüpft werden, können in allen Bereichen bessere und passgenauere Kundenangebote generiert werden. Diese Daten bilden außerdem die Grundlage für erfolgreiche Unternehmen, die sich die Erkenntnisse aus dem chinesischen Markt in Zukunft auch in anderen Märkten zunutze machen können.

Alexandra Stefanov, Claudia Bünte, Till-Hendrik Schubert: Digitalisierung Made in China. Wie China mit KI und Co. Wirtschaft, Handel und Marketing transformiert. ExpertInneninterviews / Beispiele / Praxistipps. Norderstedt (Books on Demand) 2021.

Dr. Alexandra Hildebrandt schreibt über Wirtschaft & Management, Nachhaltigkeit, Digitalisierung, Internet & Technologie

Als Publizistin, Herausgeberin, Bloggerin und Nachhaltigkeitsexpertin widme ich mich den Kernthemen Nachhaltigkeit und Digitalisierung. Beim Verlag SpringerGabler habe ich die CSR-Bände zu Digitalisierung, Energiewirtschaft und Sportmanagement herausgegeben sowie "Klimawandel in der Wirtschaft".

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