Navigation überspringen
T.Mikolajczyk/Pixabay

Digitalisierung von Archivbeständen

Interview mit der Volkskundlerin Dr. Constanze N. Pomp

Frau Dr. Pomp, welche Erfahrungen haben Sie als Volkskundlerin mit Archiven und dem Thema Digitalisierung gemacht?

Für meine Forschungsarbeit stellte die Digitalisierung von Archivbeständen eine sehr praktische und komfortable Möglichkeit dar, schnell und unkompliziert Zugang zu Quellen zu erhalten. Die Vorteile zeigten sich in der Quellensicherung und Quellennutzung. Erweiterte Nutzungsmöglichkeiten wurden angeboten und die Originalquellen, also die Unikate, konnten geschont werden, indem sie dem Nutzer nicht mehr im Original vorgelegt werden mussten. Im Prinzip wurde dies bereits durch die Mikroverfilmung häufig genutzter Bestände gehandhabt, diese sind bei den Nutzern allerdings unbeliebt.

Für mein Forschungsgebiet lagen leider kaum Digitalisate vor, auf die ich hätte zurückgreifen können. Anders hingegen sah es in Bezug auf historische Zeitungen und Zeitschriften aus. Das Angebot an digitalen Ausgaben der historischen Bestände, z. B. von Universitätsbibliotheken wurde und wird konstant erweitert, was eine freie und nachhaltige Bereitstellung online ermöglicht. Für mich als Nutzerin, die ich explizit auch dieses Quellenmaterial ausgewertet habe, war die Online-Verfügbarkeit natürlich optimal, jederzeit abrufbar und jederzeit zum Abspeichern. In gleicher Weise galt und gilt dies für die Digitalisierung und Bereitstellung wissenschaftlicher Literatur in Online-Diensten.

Können Sie Ihre Erfahrungen - bezogen auf das Archiv als auch auf die Bibliotheken - kurz zusammenfassen?

Ich weiß durchaus die großen Vorteile digitaler Wissensbereitstellung zu schätzen. Für mich lagen sie in der Erleichterung meiner Recherchen, vor allem in der Zeitersparnis, wenn beispielsweise wochenlange Bestellfristen oder Benutzungsbeschränkungen in den Lesesälen entfielen.

Ein Nachteil zeigte sich, wie ich bereits in Bezug auf meine Forschungsarbeit anklingen ließ: Nur, weil die von mir gesuchten Quellen digital nicht verfügbar waren, bedeutete dies nicht automatisch, dass sie nicht existierten. Dieses Problem ist aus dem analogen Bereich bereits bekannt. Eine Gefahr könnte darin liegen, dass digitalisierte Bestände primär wahrgenommen werden, wohingegen nicht digitalisierte Bestände aus dem Blickfeld geraten.

Die Archive streben mittelfristig eine Digitalisierung von Archivgut im Umfang von fünf bis zehn Prozent an, deren Digitalisate anschließend online verfügbar sein sollen. Im Vorfeld werden geeignete Bestände ausgewählt und priorisiert, dieses Verfahren kann einer Zweitbewertung gleichkommen.

Was ist eine besondere Herausforderung?

Problematisch ist eine ressourcenschonende und nachhaltige Digitalisierungsstrategie, d. h. Digitalisierung zieht große Folgekosten nach sich. Der Speicherbedarf für die Archive nimmt immer weiter zu, was zu kostenintensiven dauerhaften Speicherkosten führen wird.

Sind Ihnen besondere Erfahrungen in Bezug auf Archivalien noch in Erinnerung?

Ein besonderes Erlebnis war das Auffinden der unveröffentlichten Ego-Dokumente von August Gruber und seiner Familie. Mit Hilfe derer war es mir möglich, die gesamte Familie auf ihren „Schneeschuh-Studien“ im Nachhinein zu begleiten. Es handelte sich u. a. um Tagebücher, die August Gruber seit seinem 18. Lebensjahr bis zu seinem Tod im Jahr 1938 führte. Der lange Abfassungszeitraum lässt den Lebenslauf von August Gruber rekonstruieren und dokumentieren, und dabei die von Arnold van Gennep geprägten rites de passage, wie Geburt, Geburtstag, Konfirmation, Hochzeit, Tod mitverfolgen. Ich empfinde es heute noch emotional berührend, mitanzusehen, wie bei August Gruber, einen Menschen, den ich über Jahrzehnte auf seinem täglichen Lebensweg beobachten konnte, im Alter von 85 Jahren von Tag zu Tag die Kräfte schwanden. August Gruber quasi bis zu seinem Tod zu begleiten. Hinsichtlich dieser Archivalien ist mir das große Vertrauen der Familie in dankbarer Erinnerung, weil sie mir großzügig das komplette Quellenmaterial zur Verfügung stellte.

Darüber hinaus haben Sie weitere archivalische Felderfahrung ...

Für meine Forschungsarbeit habe ich viele Vereinsarchivalien von Ski-Clubs herangezogen. Da die Vereine über keine Archive verfügten, wurden die Vereinsunterlagen einem langjährigen Vereinsmitglied anvertraut. In der Regel handelte es sich um ältere Herren, die ehrenamtlich die Archivalien in ihrem heimischen Wohnzimmerschrank oder im Keller aufbewahrten. Sie können sich gar nicht vorstellen, auf wie vielen Sofas ich während meiner Forschungszeit saß. Die erste Hürde, die es zu nehmen galt, war, eine persönliche Beziehung zu den älteren Herren aufzubauen. Sie waren einer jungen Wissenschaftlerin gegenüber zwar offen aufgeschlossen, aber doch auch misstrauisch, was man mit den Akten möglichweise „anstellen“ würde.

Inwiefern war hier Einfallsreichtum gefragt?

Ich habe manchmal meine Mutter zu den Terminen mitgenommen. Das hatte gleich mehrere Effekte. Erstens trug das Kennenlernen des familiären Hintergrundes zum Aufbau des Vertrauensverhältnisses bei. Infolge dessen wurde ich als „würdig“ betrachtet, die Vereinsunterlagen überhaupt gezeigt zu bekommen. Zweitens konnte ich mir im Verlauf des Treffens die Archivalien in Ruhe ansehen, während meine Mutter sich mit den Herren unterhielt. Im Vorfeld hatte ich sie darüber informiert, was ich konkret suchte. So konnte sie „zufällig“ das Gespräch auf die infrage kommenden Vereinsarchivalien lenken. Dies führte einmal zu der Situation, dass einer der Herren schelmisch grinste, und mir plötzlich Archivalien zeigte, die er mir bei früheren Besuchen vorenthalten hatte. Noch heute muss ich darüber lachen. Natürlich zeigt sich anhand dieser Anekdote aber deutlich: Als Forscherin war man auch ein bisschen der Willkür der "Archivare" ausgeliefert - was sie nicht bereit waren, zu zeigen, das gab es einfach nicht.

Manche Archivare haben sich manchmal als Gralshüter gesehen, besonders, wenn sie selbst zu diesem Thema forschen wollten. Wie es mir in einem öffentlichen Archiv passiert ist. Der leitende Archivar sagte, es gäbe zu meinem Forschungsschwerpunkt keine Archivalien. Trotz dieser Erfahrungen würde ich sagen, dass es sich hierbei um die ganz normalen Probleme im Feld handelt. Allen Vereinsarchivaren bin ich für Ihre Gastfreundschaft und die Möglichkeit der Einsichtnahme noch heute überaus dankbar.

Was war für die Akteneinsicht oberstes Gebot?

Zeitliche Flexibilität. Im Zuge einer Terminvereinbarung wurde mir einmal erklärt, ich könne nicht kommen, wenn an diesem Tag „fünf Sonnen am Himmel stehen“. Gleichzeitig konnte ich die Sorgen der Vereins-Archivare kennenlernen. Da sich die Herren im betagten Alter befanden, fragten sie sich, wer im Verein ihre Arbeit übernehmen würde bzw. ob dies überhaupt jemand wolle. Ich riet ihnen, die Vereinsunterlagen an öffentliche Archive abzugeben.

Weshalb blutete Ihnen bezüglich der Vereinsarchivalien auch immer das Herz?

Wie ich erläutert habe, werden die Vereinsarchivalien überwiegend privat aufbewahrt. Hier sind die Lagerung und Handhabung natürlich in keiner Weise mit einem Archiv vergleichbar. Die Aufbewahrungsbedingungen waren leider suboptimal. Beispielsweise wurden Zeitungen aus den 1890er Jahren immer wieder vorgelegt und in ihnen herumgeblättert. Das Material war bei Zeitungen und Briefen bereits brüchig geworden. Wenn eine Seite eingerissen war, wurde sie mit einem Tesafilm-Streifen geklebt. Büroklammern befanden sich zum Großteil ebenfalls noch an den Dokumenten und fingen über die Jahre zu rosten an. Viele Briefe, Rechnungen und Postkarten waren in der Vergangenheit gelocht und in Ordner eingeheftet worden. Ich selbst habe erlebt, wie Teile von Archivgut durch einen Wasserschaden unwiederbringlich zerstört wurden. Dies nur in einigen wenigen Stichworten.

Was haben Sie den Vereinen empfohlen?

Dass sie die Bestände in ein Archiv zu geben, damit sie für weitere Forscherinnen und Forscher nachhaltig gesichert werden können. Grundlos wollten sie sich aber nicht von ihren Archivalien trennen. Dies erstaunte mich vor der Tatsache, dass es ohnehin schwierig war, ehrenamtliche Vereinsarchivare als Nachfolger zu finden.

Welche Rolle spielt für Sie das Haptische?

Auch wenn ich selbstverständlich die praktische Seite der Nutzung von Digitalisaten sehr zu schätzen weiß, üben das Archiv und die Quellen in ihrer originalen Überlieferungsform einen besonderen Reiz auf mich aus. Die Empfindung ist eine andere, ob ich z. B. alte Tagebücher oder Briefe in meinen Händen halte, das Papier spüre und ihren Eigengeruch wahrnehme oder am Bildschirm eine gescannte Seite sehe.

Die haptische Ausstrahlung des Tagebucheinbandes, die handschriftlich beschriebenen Seiten des alten Papieres umgeben das Original mit einer geheimnisvollen Aura. Unweigerlich fließen die sensorischen Wahrnehmungen auch in die Auswertung der Quellen mit ein. Durch die physische Nähe zur Quelle scheint die Diskrepanz zwischen Entstehungs- und Sichtungszeit zu verschwimmen. Bei einer Digitalisat ist kein Nachempfinden möglich.

Vielen Dank für das Gespräch.

Zur Person:

Dr. Constanze N. Pomp studierte an der Johannes Gutenberg-Universität in Mainz im Magisterstudiengang das Hauptfach Kulturanthropologie/Volkskunde sowie die Nebenfächer Buchwissenschaft und Christliche Archäologie & Byzantinische Kunstgeschichte. 2014 wurde sie dort promoviert und hatte Lehraufträge am Institut für Film-, Theater- und empirische Kulturwissenschaft. Von 2017 bis 2019 absolvierte sie am TECHNOSEUM Landesmuseum für Technik und Arbeit in Mannheim ihr wissenschaftliches Volontariat. In dieser Zeit arbeitete sie unter anderem bei der Konzeption der Großen Landesausstellung Baden-Württemberg „Fertig? Los! Die Geschichte von Sport und Technik“ mit. Von 2018 bis 2019 war sie im Arbeitskreis Volontariat des Deutschen Museumsbundes (DMB) aktiv. Seit März 2019 ist sie am TECHNOSEUM in der Stabsstelle Freundeskreise und Ehrenamt für die Koordinierung der Ehrenamtlichen zuständig.

Dr. Alexandra Hildebrandt schreibt über Wirtschaft & Management, Nachhaltigkeit, Digitalisierung, Internet & Technologie

Als Publizistin, Herausgeberin, Bloggerin und Nachhaltigkeitsexpertin widme ich mich den Kernthemen Nachhaltigkeit und Digitalisierung. Beim Verlag SpringerGabler habe ich die CSR-Bände zu Digitalisierung, Energiewirtschaft und Sportmanagement herausgegeben sowie "Klimawandel in der Wirtschaft".

Artikelsammlung ansehen