Disruption: Warum radikale Ideen sich schwer durchsetzen
Radikale Ideen lassen sich in Unternehmen oft nur schwer durchsetzen. Eine Studie hat untersucht, woran das liegt – und was die Offenheit für Innovationen steigern kann.
Von Michael O. R. Kröher
Wie fatal es sein kann, eine neue Technologie falsch einzuschätzen, musste der Grundig-Konzern schmerzhaft erfahren: Ende der 1980er Jahre lehnten seine Ingenieure den Ankauf einer gerade erfundenen Datenkompressionssoftware ab. Mit ihr ließen sich Musikdateien leichter speichern und übertragen. Der US-Konzern Apple hingegen erkannte das disruptive Potenzial, das in dem Verfahren steckte. Er entwickelte digitale Abspielgeräte und integrierte Musikprogramme in seine Smartphones. Apple Music wurde zu einem erfreulich rentablen Unternehmenszweig, Apple selbst eines der wertvollsten Unternehmen der Welt. Grundig hingegen meldete im Jahr 2003 Insolvenz an.
Investitionen in radikale Innovationen gehören zu den größten unternehmerischen Wagnissen. Nicht selten wandern erhebliche Summen und Ressourcen in Projekte, die keinen Markt finden. Oder Firmen fördern Disruptionen, die das eigene, etablierte Geschäftsmodell ruinieren – wie die Digitalfotografie, die den Filmhersteller Kodak zugrunde richtete.
Thorsten Grohsjean, Managementprofessor an der Bocconi-Universität in Mailand, hat mit zwei Forschungskollegen und einer -kollegin untersucht, warum sich auch erfahrene Managerinnen und Manager beim Umgang mit disruptiven Ideen schwertun. Sie führten eine mehrjährige Studie bei einem weltweit tätigen Dienstleister durch und Interviews mit mehreren Dutzend Führungskräften. Dabei identifizierten sie die Gründe, warum Gremien in Unternehmen bei Entscheidungen über Innovationen Fehler unterlaufen, und entwickelten Empfehlungen, wie sich dies vermeiden lässt.
Die Probleme bei der Bewertung von Innovationsvorhaben in Unternehmen entstehen laut der Studie vorwiegend aus den folgenden fünf Gründen:
Traditionelles Denken. Die meisten Komitees zur Beurteilung der Ergebnisse von Forschung und Entwicklung (F&E) bestehen aus erfahrenen Managern und Managerinnen. Diese stehen radikalen Ideen allerdings eher skeptisch gegenüber, so die Erkenntnis der Forscher, und bevorzugen lieber Projekte mit einem mittleren Neuerungsgrad.
Diversität. Unternehmen besetzen F&E-Entscheidungsgremien häufig mit Personen, die sich in vielerlei Hinsicht ähneln: dem Geschlecht, der sozialen Herkunft, der Nationalität oder der Ausbildung, um ein paar Merkmale zu nennen. Das bedeutet, dass sie oft auch ähnlich denken und sich in ihren Glaubenssätzen und Vorurteilen gegenseitig bestärken. Damit entfernen sie sich immer weiter von der Meinung der Konsumenten und Konsumentinnen – bei denen die entsprechende Innovation letztlich Anklang finden muss.
Fachwissen. Experten sind in F&E-Gremien gern gesehen – manchmal jedoch täte etwas weniger Expertentum ganz gut. In vielen Innovationskomitees entscheiden beispielsweise vor allem Ingenieure und Naturwissenschaftler, die hauptsächlich auf die technischen Aspekte von Innovationen Wert legen. Sie können aber die Marktbedingungen und die Bedürfnisse der angepeilten Zielgruppen nicht so gut einschätzen wie Fachleute aus anderen Gebieten. So haben Marketingexperten oder Vertriebsverantwortliche oft eine bessere Vorstellung davon, was bei den Kunden und Kundinnen auf Interesse stoßen könnte.
Präsentation. In der Regel stellt in dem Gremium ein Mitglied eine Idee vor, das als Sponsor fungiert. Diese Person versucht zwar in aller Regel, objektiv zu sein. Doch meist kann sie nicht verhindern, dass ihre eigenen Ansichten die Präsentation färben – beispielsweise über den gewählten Tonfall, die Formulierungen oder ihre gezeigten Emotionen. Zudem beeinflusst auch ihre Stellung innerhalb des Gremiums, wie andere Mitglieder den Vorschlag bewerten.
Zeitpunkt. Schließlich kommt es auch aufs Timing an. Die Forschung zeigt, dass die Reihenfolge von Projektentscheidungen und die Uhrzeit einen erheblichen Einfluss auf die Bewertung der Projekte haben können. Beispielsweise sprechen Richter vor Essenspausen härtere Urteile aus als danach – bei Innovationsgremien in Unternehmen wird es kaum anders aussehen. Die Forscher analysierten in ihrer Untersuchung auch die Auswirkungen der Reihenfolge auf 763 Entscheidungen von Innovationsgremien. Dabei zeigte sich unter anderem: Fiel eine Entscheidung zugunsten eines Projekts, wurde das nächste Vorhaben, das es zu bewerten galt, mit hoher Wahrscheinlichkeit abgelehnt. Zu diesem Ergebnis kam es auch dann, wenn die Reihenfolge der vorgestellten Projekte zufällig festgelegt wurde.
Ideen objektiv bewerten
George Heilmeier, von 1975 bis 1977 Direktor der Defense Advanced Research Projects Agency (DARPA) beim US-Verteidigungsministerium, entwickelte einen Fragenkatalog, mit dem die Einrichtung über die Förderung von Anträgen entscheidet. Im amerikanischen Original umfasst dieser als "Heilmeier-Katechismus" bekannte Katalog acht Fragen, die Bundesagentur für Sprunginnovationen hat ihn auf 16 Fragen erweitert. Der ursprüngliche "Katechismus" fragt:
Was genau wollen Sie angehen? Beschreiben Sie Ihr Projekt ohne Einsatz von Jargon.
Wie wird dieses benannte Problem heute gelöst, und wo liegen die Grenzen dieses Verfahrens?
Was ist bei Ihrer Vorgehensweise neu, und warum glauben Sie, dass Sie damit Erfolg haben werden?
Wen kümmert das? Also: Welchen Unterschied wird es machen, wenn Sie Erfolg haben?
Welche Risiken gibt es?
Was wird die Entwicklung kosten?
Wie lange werden Sie brauchen?
Womit lässt sich der Prozess zwischendurch und am Ende sein Erfolg überprüfen?
Die wichtigste Strategie für den Umgang mit Innovation ist die Versachlichung des Entscheidungsprozesses. Unternehmen können dies zum Beispiel dadurch erreichen, dass sie die Ideengeber komplett anonymisieren, ihre Zusammenhänge innerhalb und außerhalb der Firma entfernen. Zudem sollten sie die Einreichungen standardisieren. Beantworten zum Beispiel alle Vorschläge zunächst die zentralen Fragen des "Heilmeier-Katechismus" der DARPA – einer Forschungseinrichtung des US-amerikanischen Verteidigungsministeriums –, so verbessert das die Chancengleichheit (siehe "Ideen objektiv bewerten").
Die wichtigste Einzelmaßnahme ist dann eine größere Diversität der Entscheider. Alte und Junge, Frauen und Männer, Vertreter und Vertreterinnen aus unterschiedlichen Unternehmensbereichen, sowohl mit technischem als auch nicht technischem Hintergrund sowie von unterschiedlicher Herkunft, sollten mitentscheiden können. Dann hat das Unternehmen deutlich bessere Chancen, eine disruptive Idee unter den eingereichten Innovationsvorschlägen zu entdecken – und diese dann auch in ein erfolgreiches Produkt umzusetzen.
"Innovation wird immer schwierig zu bewerten sein", sagt Studienautor Grohsjean, "aber durch die Schaffung eines offeneren, fließenderen und kollaborativeren Prozesses können Unternehmen die wahren Goldschätze entdecken."
Quelle: Thorsten Grohsjean, Linus Dahlander, Ammon Salter, Paola Criscuolo: "Better Ways to Green-Light New Projects", MIT Sloan Management Review, Dezember 2021
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Den Blick weit öffnen und nach außen richten
Rafael Laguna de la Vera, Gründungsdirektor der Bundesagentur für Sprunginnovationen, über den schwierigen Umgang mit radikalen Innovationen in Unternehmen.
Harvard Business Manager: Herr Laguna, was zeichnet nach Ihren Erfahrungen einen guten Innovationsmanager aus?
Laguna: Dass er kein Manager ist. Radikale Innovationen, sogenannte Disruptionen, kann man nicht managen, wie man etwa eine Lieferkette oder eine Unternehmensfinanzierung organisiert. Sogenannte Sprunginnovationen brauchen Führungspersönlichkeiten, die ihre Vision mitreißend verbreiten und für ihre Projekte brennen. Von denen kann es in größeren Unternehmen gern mehrere geben, die möglichst zur Firmenführung gehören.
Woran erkennt man eine radikale Neuerung, die Sie in Ihrer Agentur "Sprunginnovation" nennen?
Sie wirkt auf den ersten Blick verrückt. Ohne ein wenig Verrücktheit ist sie wahrscheinlich keine Disruption. Bei genauerer Betrachtung stellt man dann fest: Sie tritt vielen auf die Füße – im eigenen Unternehmen, in der Branche, im Markt, in der Gesellschaft. Sie macht auch viel kaputt, bevor sie Neues aufbaut. Dadurch ist sie auch in einem gewissen Sinn gnadenlos. Der sogenannte Heilmeier-Katechismus, dessen Anwendung auch die neue Studie von Thorsten Grohsjean und seinen Co-Autoren empfiehlt, liefert einfache Fragen zur Identifikation echter Disruptionen. Wer sich dann an die ebenfalls einfachen Antworten hält, die sich aus den Fragen ergeben, hat gute Chancen, eine Disruption zu erkennen.
Was sollten Unternehmen tun, um innovativer zu werden, um Disruptionen zu finden und für sich zu nutzen?
Sie sollten nicht nur die eigene Pipeline betrachten, sondern ihren Blick möglichst weit öffnen und nach außen in fremde Technologieentwicklungen richten. Das kann gelingen, indem man in geeignete, spezialisierte Venture-Fonds investiert und Abgesandte in die Beiräte der spannendsten Firmen schickt, in die der Fonds investiert. Oder indem man selber Innovationspreise ausschreibt. Das Preisgeld sollte dann aber nicht zu klein bemessen sein, also nicht nur ein paar Tausend Euro betragen.
Welche Probleme sehen Sie noch beim Erkennen und Umsetzen disruptiver Innovationen in Deutschland?
Vielerorts herrschen Denk- und Frageverbote. In großen Bereichen unserer Autoindustrie und in vielen anderen Unternehmen, die Produkte produzieren, darf oder soll zum Beispiel nicht über Innovationen im Servicebereich nachgedacht werden, da Dienstleistungen in der Regel kein skalierbares Geschäftsmodell seien. Dabei erzielt Apple seit Jahren die höchsten Zuwachsraten mit Services.
In der Studie kritisieren die Autoren die Zaghaftigkeit und Zögerlichkeit von Gremien, wenn es darum geht, radikale Innovationen zu erkennen und umzusetzen. Warum ist das so?
Gremien entscheiden politisch. Wer dort einmal überdurchschnittlich bedacht wird, muss im Gegenzug den Zukurzgekommenen beim nächsten Mal etwas abgeben. Diese Ausgewogenheit verhindert radikale Kurswechsel, neue Strategien.
Wenn es in Deutschland so schwer ist, mit radikalen Innovationen erfolgreich zu sein, gibt es dann hierzulande überhaupt Unternehmen mit disruptivem Potenzial?
Selbstverständlich. Allen voran Biontech und Curevac, die mit der mRNA-Technologie eine echte Disruption vorantreiben. Ihre neuen Wirkstoffe taugen nicht nur zur Impfung gegen Infektionskrankheiten wie Covid-19 und künftig noch viele andere; sie sollen auch Krebs auf eine neue, vielversprechende Art bekämpfen können. Auch die Lasertechniken von Trumpf und Zeiss haben enormes Innovationspotenzial – etwa bei der Chipherstellung, bei quantenoptischen Computern und sogar bei Kernfusion, die als Energiequelle der Zukunft gilt. Die kann jetzt durch Trumpf-Laser gezündet werden.  "Ohne ein wenig Verrücktheit ist eine Neuerung wahrscheinlich keine Disruption." © HBm 2022
Autor
Michael O. R. Kröher ist Redakteur des Harvard Business managers.
Dieser Artikel erschien erstmals in der Mai-Ausgabe 2022 des Harvard Business managers.
