Durch welche Brille siehst Du die Welt? ?

Durch welche Brille siehst Du die Welt? ?

Spätestens in Streitsituationen zeigt sich: Das, was um uns herum passiert, nimmt jeder anders wahr. Wahrnehmung ist immer subjektiv. Wir alle sehen die Welt durch eine Art Brille. Wie ein Filter beeinflusst sie, was wir sehen (und was nicht). Unsere Erfahrungen, Erwartungen, Wünsche, Werte & Meinungen bestimmen, wie wir die Welt wahrnehmen.

Warum wir Nachfolger*innen so handeln, wie wir handeln

Meine Geschichte als Nachfolgerin beginnt an jenem Tag vor einigen Jahren, an dem ich morgens als duale Studentin aufstand – und abends als Stiftungsvorstand und Geschäftsführerin ins Bett ging. Mit 21 Jahren! Ursprünglich wollte ich gar nicht in das Familienunternehmen einsteigen. Und dennoch entschied ich mich am Ende für die Nachfolge. Warum? Weil etwas in mir sagte: „Du bist für unsere Mitarbeitenden und das Wohl der Organisation mitverantwortlich.“

Woher diese innere Stimme oder das Bauchgefühl kam, darüber habe ich mir lange Zeit keine Gedanken gemacht – bis ich im Sommer dieses Jahres vor einer grünen Pinnwand beim Nachfolgecamp des Wittener Instituts für Familienunternehmen (WIFU) stand. Die Aufgabe lautete sinngemäß: Durch welche Unternehmerbrille siehst du die Welt?

Mentale Modelle

Wir Menschen betrachten die Welt durch eine „mentale Brille“, durch einen Filter, der die Summe unserer Erlebnisse, Einflüsse und Erfahrungen ist. Diese Brille beherbergt unser Selbstverständnis, unsere Haltung und Werte, mit denen wir auf die Dinge blicken. Wer in einer Unternehmerfamilie aufwächst, kommt schon im Kindesalter mit unternehmerischen Themen in Kontakt: Am Essenstisch, im Urlaub, beim Geburtstag – das Unternehmen begleitet uns, seit wir denken können. Wir Unternehmerkinder werden also mit der mentalen Brille unserer unternehmerisch tätigen Vorfahren sozialisiert.

Das WIFU definiert vier unterschiedliche mentale Modelle bei Unternehmerfamilien:

  1. Die patriarchale Logik

  2. Die operativ tätige Familie

  3. Die aktive Eigentümerfamilie

  4. Die Investorenfamilie

Basierend auf diesen mentalen Modellen treffen Familienunternehmer*innen Entscheidungen: Wie wird das Familienvermögen verwaltet? Welche Rolle spielt die Familie in der Organisation? Wer leitet das Unternehmen?

Zum Beispiel: In der patriarchalen Logik ist der Kopf der Familie auch der Kopf des Unternehmens. Bei der operativ tätigen Familien gilt „Im Team sind wir stark“. Das Unternehmen wird durch mehrere Personen geführt, wichtig ist, dass immer eine Person aus der Familie Teil der Geschäftsführung ist. Das Selbstverständnis der aktiven Eigentümerfamilie ist, in den Kontroll- oder Aufsichtsratsgremien zu sitzen und nicht in der operativen Gesellschaft mitzuarbeiten. Bei der Investorenfamilie stehen die Rendite und das Vermögenswachstum des Familienvermögens im Fokus.

Die innere Stimme nimmt Gestalt an

Vor der grünen Pinnwand des WIFU, mit Blick auf die mentalen Modelle, wurde mir meine damalige Entscheidung zur Nachfolge mit einem Schlag noch klarer. Ich konnte mir plötzlich erklären, warum meine innere Stimme und mein Verantwortungsbewusstsein sich doch für das Familienunternehmen und den Mitarbeitenden entschieden: Ich bin mit dem mentalen Modell der operativ tätigen Familie sozialisiert worden. In meinem Unterbewusstsein war es also eine Selbstverständlichkeit, dass jemand aus der Familie in der Geschäftsführung sein muss. Mein Bruder war zu jung. Also blieb nur noch ich. Mir kam damals überhaupt nicht in den Sinn, dass auch eine externe Person diesen Posten hätte besetzen können.

Wahrnehmung und Wirklichkeit

Diese kleine Aktivität im Nachfolgecamp des WIFU war für mich und für die anderen Teilnehmenden sehr aufschlussreich. Am Ende blieb ich aber auch mit Fragen vor der Pinnwand zurück: Ist dieses mentale Modell das, was wirklich zu mir und meinem Familienbetrieb passt? Will ich es beibehalten? Oder passt ein anderes besser? Am Ende dieses inspirierenden Tages gab es sehr viele nachdenkliche Gesichter.

Welche Brille trägst du?

Du kommst aus einer Unternehmerfamilie? Dann geh bitte einmal in dich und überleg dir: Welches Selbstverständnis gegenüber der Firma gibt es in deinem Familienkreis? Wurde bei einer Nachfolge in deiner Familie das mentale Modell beibehalten – oder hat es gewechselt?

Ich freue mich auf deine mentale Brille, Nachfolge-Geschichten und Anregungen!

#Wahrnehmung #Erfahrungen #Erziehung #MeinFamilienbetrieb

Johanna Schirmer schreibt über Job & Karriere, Wirtschaft & Management, Konsumgüter & Handel

»Johanna hat im Schleudergang gelernt, was es heißt ein Unternehmen zu führen.« Quelle: Harvard Business Manager, 08/2022

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