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Ein Leben ohne Freunde ist möglich - aber sinnlos?

Wird Freundschaft heute überschätzt?

Der Philosoph Friedrich Nietzsche hatte keine. Whitney Houston auch nicht, weil sie davon überzeugt war, dann weniger Probleme zu haben. Menschen ohne Freunde misstrauen einer behaglichen Gemeinschaft, die aus ihrer Sicht nur ein sicheres Herdengefühl vermittelt. Wärmende Einflüsse von außen lösen in ihnen ein unbehagliches Gefühl aus, weil ihre schützenden Kältemauern ins Wanken geraten könnten. Wer sich heute dazu bekennt, keine Freunde zu brauchen oder kein guter Freund zu sein, wird häufig kritisiert. Vor allem von jenen, die auf ihrem eigenen Freundschaftsglück beharren. Sie berücksichtigen nicht, dass beispielsweise auch ein Baum bei aller Geselligkeit zutiefst individualistisch ist. Das zeigt sich darin, dass er sich immer dann, wenn es um Tod oder Leben geht, instinktiv zugunsten des eigenen Überlebens oder das seiner Nachkommen entscheidet – ein Baumleben lang. Vor allem Kreative und Melancholiker, die aus ihrem Inneren schöpfen, brauchen das Alleinsein mit sich selbst. Der Dichter Durs Grünbein beschrieb dieses Gefühl in seinem Gedichtzyklus „Das pessimistische Alter“:

„Wozu Gesellschaft, solang man mit Angel und Buch

An Flußauen sitzen kann, allein mit der Zeit?

Besser ein Hecht beißt, als daß ein alter Bekannter

Faule Witze erzählt, die man alle schon kennt.

Konzentrier dich auf’s Wasser.“

Werden Freundschaft und ihre Lobpreisung heute auch überschätzt? Ist sie für viele nicht auch eine Flucht vor der weltabgewandten Seite? Ist sie wirklich das Wichtigste im Leben oder einfach nur eine schöne Beigabe, für die man dankbar sein kann, wenn man sie erfahren darf? Ist Sinn nicht wichtiger als Freundschaft? Weshalb schlägt ein scharfer Gegenwind vor allem jenen entgegen, die sich freiwillig der Freundschaft verweigern?

Im Abseits

Nach der Lektüre des Buches von Katja Kraus „Freundschaft. Geschichten von Nähe und Distanz“ (2015), in dem sie Gespräche mit Prominenten aus verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen führt, verfestigen sich diese Fragen immer mehr. Die Autorin zeigt hier die Polarität des Lebens, die Spannung zwischen positiven und negativen Seiten, besonders an zwei Personen: dem ehemaligen Ex-Nationalspieler Christoph Metzelder und dem Werber Jean-Remy von Matt. Es bleibt nach der Lektüre dieser beiden Kapitel ein befremdliches Gefühl zurück. Aber auch Verständnis. Vieles ist stimmig und nachvollziehbar, und dann bleibt am Ende doch ein bitterer Rest:

Der Ex-Fußballer mag es nicht, jemanden um etwas zu bitten. Das ist unter anderem ein Grund, weshalb er sich nicht für einen guten Freund hält. „Er vermutet, dass seine selbststrenge Haltung auch sein Umfeld davon abhält, sich mit Anliegen an ihn zu wenden“, schreibt Katja Kraus. Er setzt auf seine individuelle Selbstverantwortung. Wer soll die Dinge tun, wenn nicht er selbst? Seine Angelegenheiten macht er deshalb mit sich allein aus und erwartet das auch von anderen: „Er habe eine emotionale Firewall um sich herum gebaut.“ Warum seine Sorgen mit anderen teilen und sie damit zusätzlich belasten? Er beschäftigt sich nicht mit dem Maß dessen, was Freunden zumutbar ist, sondern vertraut sich lieber gar nicht erst an. Geselligkeit ist für ihn eher „zivilisatorische Verpflichtung als ein Herzenswunsch.“

In seinem Autonomieanspruch liegt nach Ansicht der Autorin eine schützende Unantastbarkeit und Unerreichbarkeit, die ihn von Menschen entfernt. Und sie liefert dazu auch gleich den entsprechenden Hintergrund: Seine Eltern trennten sich, als er klein war. Seine Mutter zog die vier Jungs alleine groß und stellte ihr eigenes Leben dafür zurück. Die Kinder mussten funktionieren und wollten keine zusätzliche Belastung für sie sein. „Immer das Beste aus sich herausholen, Leistung bringen, das ist seine Form der Dankbarkeit dafür.“ Einen besten Freund hatte er in seiner Schulzeit nicht, weil die Tage sehr durchorganisiert waren. Der Sport forderte ihn, „aus seiner schützenden Isolation herauszutreten“. Auf dem Spielfeld sah er sich sogar lieber als Teil der Mannschaft denn als Solist. Diese Erfahrungen gaben seinem Leben Struktur und das Gefühl, wichtig zu sein und gebraucht zu werden. Es wurde gestärkt durch Anerkennung und Bedeutung.

Der Unberührbare

Ein erfülltes Leben, das über sich selbst hinausweist, braucht Nähe, Zuwendung und Berührung. Sie trägt nicht nur zur Stärkung des Immunsystems, sondern auch zur Entstehung von Bindung und Geborgenheit bei. Wo es dem Leben an Berührung fehlt, dörrt es aus. Vor diesem Hintergrund ist es schwer, Zugang zu finden zum Kapitel über den Werber Jean-Remy von Matt, der zu seinem ehemaligen Geschäftspartner Holger Jung mit der Zeit eine „Art Freundschaft“ empfand, „in jedem Fall aber eine kongeniale Symbiose.“ Sein Führungsverhalten entspricht einer gepflegten Distanz. Mit „Anfassbarkeit“ kann er im Gegensatz zum Regisseur, Schauspieler und Intendanten Jürgen Flimm (dem ebenfalls ein eigenes Kapitel gewidmet ist und für den zur Freundschaft auch Berührung gehört), nicht viel anfangen.

Die Beschreibung enthält alles, was es zu begreifen gibt ohne dass seine Geschichte erzählt werden muss: „Wenn man den Mangel als wesentlichen Antriebsfaktor erfolgreicher Menschen begreift, ist es naheliegend, auch eine brüchige Selbstliebe zu unterstellen. Eine Form des Selbstzweifels, der die ernstgemeinte Zugewandtheit von anderen stets in Frage stellt. Der die Fokussierung auf die professionelle Rolle notwendig macht, um damit das Persönliche fernzuhalten. Begegnungen, die eine selbstregulierbare Entfernung als Schutzmechanismus brauchen. Der Zweifelnde wählt den Rückzug als Methode, um in der Initiative des Anderen den Beweis der Wertschätzung zu bekommen.“

Ein Buch über Nähe und Distanz hinterlässt auch Brüche und viele dunkle Stellen, aber gerade diese sind es, die vielleicht zum Nachdenken anregen und dazu führen, Themen, die auf den ersten Blick selbstverständlich erscheinen, differenzierter zu betrachten, weil sie auch eine Rückseite haben.

Dr. Alexandra Hildebrandt schreibt über Wirtschaft & Management, Nachhaltigkeit, Digitalisierung, Internet & Technologie

Als Publizistin, Herausgeberin, Bloggerin und Nachhaltigkeitsexpertin widme ich mich den Kernthemen Nachhaltigkeit und Digitalisierung. Beim Verlag SpringerGabler habe ich die CSR-Bände zu Digitalisierung, Energiewirtschaft und Sportmanagement herausgegeben sowie "Klimawandel in der Wirtschaft".

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