„Ein Schriftsteller muss für sein Thema unbedingt Empathie haben“
Interview mit dem Autor Alfons Schweiggert über die Bedeutung der inneren Stimme, das Fühlen mit seinen Figuren und den Schlankheitswahn von Kaiserin Elisabeth.
Herr Schweiggert, welche Rolle spielt für Sie als Autor das Bauchgefühl, und woran erkennen Sie, dass es richtig ist?
Wie bei allen Entscheidungen, die von Bedeutung für mich sind, achte ich schon auf mein Bauchgefühl, auf das legendäre Kribbeln in Bauch, also auf das Zusammenspiel von intuitiven und bewussten Aktivitäten in meinem Körper. Im Grunde verlasse ich mich bei solchen Entscheidungen unbewusst auf Informationen, die ins Gedächtnis eingespeist sind, kombiniere sie mit aktuell wahrgenommenen Informationen, interpretiere dieses Gebräu, wäge das Für und Wider weitgehend automatisch gegeneinander ab, bis sich ein stimmiges Bauchgefühl bei mir einstellt und ich mich dann – hoffentlich richtig – entscheide. Das alles läuft blitzschnell und weitgehend ohne langes Nachdenken ab.
Situationen, in denen ich nicht auf meinen Bauch gehört habe, gab es natürlich auch immer wieder, wenn ich durch starke äußere Eindrücke abgelenkt wurde und statt auf das, was mir mein Bauchgefühl signalisieren wollte, völlig entgegengesetzten Impulsen gefolgt bin. Danach der Ausruf: „Ach, hätt ich doch nur … !!!“
Ein Schriftsteller muss für sein Thema unbedingt Empathie haben und das Denken und Fühlen der von ihm dargestellten Personen mit- und nachempfinden können. Er muss spüren, wie Scham und Neid den Kopf glühen lassen, dass man Traurigkeit im Hals empfindet – „Ich habe einen Kloß im Hals“ – und dass Depressionen Arme und Beine schlapp machen. Er muss erleben können, welche Auswirkungen Wut-, Freude-, Sorge-, Angst- und Ekelgefühle im Körper haben, dass Liebe nicht nur ein Kribbeln im Bauch erzeugen kann, sondern einem das Herz vor Liebeskummer auch bricht usw.
Da fallen mir meine Bücher über den Tragikkomiker Karl Valentin ein, der sich täglich beim Anblick seiner totengerippedürren Figur an die Vergänglichkeit des Lebens erinnerte, weshalb ihn besonders der Anblick korpulenter Frauen begeisterte. Angeblich hatten Taxichauffeure anzuhalten, wenn er auf der Straße eine besonders mollige Dame entdeckte. Er wollte sich ungestört an ihrem Anblick erfreuen. In seinen Jugendstreichen bekannte Valentin diese Vorliebe selbst: „Schon seit meiner Kindheit, als ich zehn Jahre alt war, hatte ich für dicke Frauen etwas übrig. Warum, weiß ich nicht. Wenn mich meine Onkel und Tanten im Scherz fragten: No, Valentin, wen heiratest denn du einmal?, gab ich prompt zur Antwort zurück: Eine ganz dicke Frau! Diese Leidenschaft ist mir glücklicherweise geblieben, denn noch heute nach fünfzig Jahren habe ich den gleichen Geschmack. Für mich geht die Schönheit einer Frau erst mit zwei Zentnern an.“
Kaiserin Elisabeth war trotz ihres Schlankheitswahns ein vom Bauchgefühl geprägter Mensch, auch wenn sie mitunter nicht darauf hörte. Häufig wusste sie jedoch schon bei der ersten Begegnung mit einem Menschen, ob sie ihm vertrauen konnte. Zu ihrem Vorleser Christomanos sagte sie einmal: „Es gibt Menschen, die mir ebenso angenehm sind wie die Bäume und das Meer, weil sie ebenso sind wie die Bäume und das Meer. Das sind die Fischer, die Landleute und die Dorfnarren, Leute, die wenig unter den vielen Menschen sich bewegen und viel mit den ewigen Dingen verkehren: Sie geben mir mehr, als ich ihnen je als Kaiserin geben konnte, deswegen verlasse ich sie immer mit großer Dankbarkeit; sie befreien mich von etwas Fremden und Beengenden, das an mir haftet und mich bedrückt.“