Eine Brücke zwischen digitaler und physischer Welt
MICHAEL E. PORTER, JAMES E. HEPPELMANN -
Es gibt einen grundlegenden Bruch zwischen dem Wert der vielen digitalen Daten, die uns zur Verfügung stehen, und der physischen Welt, in der wir sie einsetzen: Während unsere Realität dreidimensional ist, bleiben all die Daten, auf die wir uns bei unseren Entscheidungen und in unserem Handeln verlassen, an zweidimensionale Druckseiten und Bildschirme gebunden. Diese Kluft zwischen der realen und der virtuellen Welt begrenzt unsere Fähigkeit, die Flut von Daten und Erkenntnissen zu nutzen, die die Milliarden von intelligenten, vernetzten Produkten in aller Welt produzieren.
Die Lücke kann mithilfe sogenannter erweiterter Realität geschlossen werden. Damit ist eine Reihe von Technologien gemeint, die unter der englischen Bezeichnung Augmented Reality (AR) bekannt sind und unsere physische Umgebung mit digitalen Daten und Bildern überlagern. Die erweiterte Realität steht zwar noch am Anfang ihrer Entwicklung, sie dürfte aber schon bald zum Mainstream werden. Einer Schätzung zufolge werden die AR-Investitionen 2020 die Marke von 50 Milliarden US-Dollar erreichen. Erweiterte Realität wird Unternehmen aller Branchen und viele andere Organisationen erreichen, von Universitäten bis hin zu Sozialunternehmen. Sie wird in den kommenden Monaten und Jahren die Art und Weise, wie wir lernen, Entscheidungen treffen und mit unserer physischen Umwelt interagieren, von Grund auf verändern. Und sie wird verändern, wie Unternehmen ihre Kunden bedienen, Mitarbeiter schulen, Produkte konzipieren und produzieren, ihre Wertschöpfungsketten managen und letztlich auch ihre Wettbewerbsposition definieren.
Wir beschreiben in diesem Beitrag, was erweiterte Realität ist, welche Technologien und Anwendungen dahinterstecken und warum sie so wichtig ist. Ihre Bedeutung wird mit der Verbreitung von intelligenten, vernetzten Produkten exponentiell zunehmen, denn sie verstärkt die Fähigkeit solcher Produkte, einen Mehrwert zu schaffen und den Wettbewerb neu zu definieren. Erweiterte Realität wird die neue Schnittstelle zwischen Mensch und Maschine werden und eine Brücke zwischen der digitalen und der physischen Welt schlagen. Momentan gibt es beim praktischen Einsatz von erweiterter Realität noch Schwierigkeiten, aber Pioniere wie Amazon, Facebook, General Electric, Mayo Clinic und die amerikanische Marine wenden AR bereits an und verzeichnen bedeutende Auswirkungen auf Qualität und Produktivität. Wir bieten Unternehmen in diesem Beitrag einen Fahrplan für die Einführung von erweiterter Realität an und erläutern die zentralen Entscheidungen, die Unternehmen treffen müssen, wenn sie AR in ihre Strategie und ihren operativen Betrieb integrieren.
Vereinzelte AR-Anwendungen gibt es seit Jahrzehnten, aber erst seit Kurzem haben wir die technischen Voraussetzungen, um das Potenzial von erweiterter Realität wirklich auszuschöpfen. Im Grunde wandeln AR-Anwendungen Daten und Analysen in Bilder und Animationen um, die sie über unsere reale Welt legen. Momentan befinden sich die meisten AR-Anwendungen in Apps auf Mobilgeräten, die Bereitstellung verlagert sich aber zunehmend auf sogenannte Wearables, also Geräte, die am Körper getragen oder befestigt werden, zum Beispiel Head-mounted Displays (HMD) oder Datenbrillen. Viele kennen erweiterte Realität aus einfachen Unterhaltungsanwendungen, etwa Snapchat-Filtern oder dem Spiel "Pokémon GO". Es gibt aber sowohl für Verbraucher als auch für Unternehmen erheblich wichtigere Einsatzbereiche. Head-up-Displays, die Navigationsinfos, Kollisionswarnungen und andere Daten direkt ins Sichtfeld des Fahrers projizieren, gibt es inzwischen in Dutzenden Automodellen. Tausende Unternehmen testen für ihre Fabrikarbeiter tragbare AR-Geräte, die Produktions-, Montage- oder Serviceanweisungen in die reale Arbeitsumgebung einblenden. Erweiterte Realität ergänzt oder ersetzt traditionelle Handbücher und Schulungsmethoden in einem immer schnelleren Tempo.
Allgemeiner ausgedrückt, ermöglicht erweiterte Realität eine neue Form der Informationsbereitstellung, die unserer Einschätzung nach erhebliche Auswirkungen darauf haben wird, wie wir Daten strukturieren, verwalten und über das Internet bereitstellen. Das Internet brachte eine neue Art mit sich, Daten zu erheben, zu übertragen und zu nutzen, doch sein Modell für die Speicherung und Bereitstellung von Daten mittels Seiten auf flachen Bildschirmen hat einen erheblichen Nachteil: Die Nutzer müssen zweidimensionale Daten mental in die dreidimensionale Wirklichkeit übertragen. Das ist nicht immer leicht; das wissen alle, die schon einmal versucht haben, mithilfe eines Onlinehandbuchs einen Kopierer zu reparieren. Erweiterte Realität projiziert digitale Daten in Form einer virtuellen optischen Überlagerung direkt auf physische Gegenstände oder Umgebungen und erspart den Nutzern dadurch den mentalen Transfer zwischen der digitalen und der realen Welt. Dadurch sind wir besser in der Lage, Daten schnell und präzise aufzunehmen, Entscheidungen zu treffen und Aufgaben zügig und effizient zu erledigen.
AR-Anzeigen in Autos sind ein gutes Beispiel dafür. Bis vor Kurzem mussten sich Fahrer Straßenkarten auf dem flachen Bildschirm eines Navigationsgeräts ansehen und dann herausfinden, wie sie diese Informationen in der realen Welt umsetzen sollten. Wer etwa die richtige Ausfahrt aus einem viel befahrenen Kreisverkehr sucht, muss abwechselnd auf den Navibildschirm und auf die Straße schauen und das Kartenbild mental mit der richtigen Ausfahrt verknüpfen. AR-Head-up-Displays projizieren die Navigationsbilder direkt auf die Verkehrs- und Straßenumgebung, die der Fahrer durch die Windschutzscheibe sieht. Diese Daten anzuwenden ist mental weniger anstrengend, lenkt nicht vom Verkehr ab und minimiert Fahrfehler, weil sich die Fahrer auf die Straße konzentrieren können .
Die erweiterte Realität erobert den Privatkundenmarkt, aber im industriellen Kontext steigert sie die Leistungsfähigkeit der Menschen noch deutlicher. Die amerikanische Werft Newport News Shipbuilding, die Flugzeugträger für die US-Marine konstruiert und produziert, setzt erweiterte Realität gegen Ende des Fertigungsprozesses ein, um Stahlbauten zu markieren, die nur für die Produktion errichtet wurden, aber nicht zum fertigen Schiff gehören und wegmüssen. Früher hatten die mit der Prüfung betrauten Ingenieure ständig das tatsächliche Schiff mit den komplexen 2-D-Bauplänen abzugleichen. Dank erweiterter Realität sehen sie jetzt bei ihrem Blick auf das Schiff die endgültige Konstruktion als optische Überlagerung der Realität. Das hat die Prüfdauer um 96 Prozent verkürzt – von 36 Stunden auf nur noch 90 Minuten. Im Allgemeinen bringen AR-Anwendungen bei Fertigungsaufgaben Zeiteinsparungen von 25 Prozent und mehr.
In unserem Beitrag "Wie smarte Produkte den Wettbewerb verändern" (Harvard Business Manager, Dezember 2014) haben wir erläutert, dass Nutzer dank der Verbreitung von intelligenten, vernetzten Produkten in unserem Wohn-, Arbeits- und Fertigungsumfeld diese Produkte in Echtzeit überwachen, fernsteuern und individualisieren und die Produktleistung mit Echtzeitdaten verbessern können. In manchen Fällen sind intelligente, vernetzte Produkte dank ihrer Fähigkeiten auch völlig autonom.
Erweiterte Realität steigert den Mehrwert, den diese Fähigkeiten schaffen, massiv. Insbesondere verbessert sie die Visualisierung und damit den Zugang zu neuen Überwachungsdaten. Sie erleichtert darüber hinaus, Anweisungen und Anleitungen für den Betrieb von Produkten entgegenzunehmen und zu befolgen, und sie verbessert auch die Interaktion mit den Produkten und deren Steuerung.
AR-Anwendungen liefern eine Art Röntgenblick und offenbaren interne Funktionen, die sonst schwer zu erkennen wären. Beim Medizintechnikhersteller AccuVein wandelt AR-Technologie die Wärmemuster der Venen eines Patienten in ein Bild um, das auf die Haut projiziert wird. Die Venen sind dadurch für medizinisches Personal einfacher zu finden, und das führt zu einer deutlichen Verbesserung bei Blutabnahmen und anderen Gefäßeingriffen. Mit erweiterter Realität ist die Wahrscheinlichkeit, dass die Nadel auf Anhieb richtig sitzt, mehr als dreimal so hoch wie ohne, und es sind 45 Prozent weniger "Eskalationen" (zum Beispiel Hilfe herbeizurufen) nötig.
Bosch Rexroth, ein weltweit aktiver Anbieter von Antriebs- und Steuerungstechnik für die Fertigungsindustrie, setzt auf erweiterte Realität, um das Design und die Fähigkeiten seines intelligenten, vernetzten Hydraulikaggregats CytroPac besser zu visualisieren. Eine AR-Anwendung zeigt den Kunden eine 3-D-Darstellung der internen Pumpe und der Kühlmöglichkeiten in unterschiedlichen Konfigurationen. Und demonstriert, wie die Teilsysteme ineinandergreifen.
Erweiterte Realität definiert Unterricht, Schulungen und Coaching bereits neu. Diese entscheidenden Aufgaben, um die Produktivität einer Belegschaft zu erhöhen, sind typischerweise kosten- sowie arbeitsintensiv und erzielen uneinheitliche Ergebnisse. Schriftlichen Montageanleitungen zu folgen ist zum Beispiel oft schwierig und zeitaufwendig. Die traditionellen Lehrvideos sind nicht interaktiv und lassen sich nicht an die individuellen Lernbedürfnisse anpassen. Persönliche Schulungen sind wiederum teuer und setzen voraus, dass sich Schulungsteilnehmer und -leiter an einem gemeinsamen Ort treffen, unter Umständen regelmäßig. Und wenn in der Praxis eine andere Ausrüstung eingesetzt wird als in der Schulung, brauchen die Anwender möglicherweise zusätzliche Schulungen, um das Gelernte auf ihren Arbeitsalltag zu übertragen.
AR-Anwendungen lösen diese Probleme: Sie erläutern die jeweilige Aufgabe in Echtzeit vor Ort Schritt für Schritt – sei es die Montage eines Produkts, der Betrieb einer Maschine oder das Bedienen eines Lagersystems. Komplexe 2-D-Darstellungen eines Verfahrens in einem Handbuch werden zu interaktiven 3-D-Hologrammen, die den Nutzer Schritt für Schritt durch das jeweilige Verfahren begleiten und so eindeutig sind, dass der Nutzer kaum noch etwas interpretieren oder mittels seiner Vorstellungskraft ergänzen muss.
Der Flugzeugbauer Boeing hat mit AR-basierten Schulungen die Produktivität und Qualität komplexer Fertigungsprozesse drastisch verbessert. In einem Versuchsprojekt nutzte Boeing erweiterte Realität, um Schulungsteilnehmer durch die 50 Schritte zu leiten, die nötig sind, um einen 30 Teile umfassenden Abschnitt einer Flugzeugtragfläche zu montieren. Dank der erweiterten Realität benötigten die Schulungsteilnehmer für die Aufgabe 35 Prozent weniger Zeit als Schulungsteilnehmer, die mit traditionellen 2-D-Zeichnungen und schriftlicher Dokumentation arbeiteten. Außerdem stieg bei den Mitarbeitern, die keine oder wenig Erfahrung hatten, die Zahl derer, die die Aufgabe beim ersten Mal richtig erledigten, um 90 Prozent.
AR-Geräte können auch das, was ein Nutzer vor Ort sieht, an einen Experten in der Zentrale senden. Damit kann der Experte dem Mitarbeiter sofort zur Seite stehen, ohne vor Ort sein zu müssen. Das verbessert nicht nur die Leistung der Arbeiter, sondern senkt auch die Kosten. Lee Company, ein Unternehmen, das Gebäudesysteme verkauft und wartet, unterstützt seine Außendienstmitarbeiter bei Installationen und Reparaturen mit AR-Anwendungen. Ein Experte, der nicht mit vor Ort ist, sieht dank der Technologie genau das, was der Außendienstmitarbeiter vor Augen hat, kann ihn durch die nötigen Arbeitsschritte begleiten und ihm sogar Anweisungen in sein Sichtfeld einblenden. Diese Form der Echtzeitexpertenunterstützung von der Zentrale aus hat Lees technische Auslastung erheblich gesteigert. Und weil die Mitarbeiter seltener mehrfach zu einem Kunden fahren müssen, spart Lee pro Monat und Techniker mehr als 500 Dollar an Personal- und Reisekosten. Das Unternehmen hat errechnet, dass es für jeden Dollar, den es in erweiterte Realität investiert hat, 20 Dollar Rendite erwirtschaftet.
Wenn wir mit Produkten interagieren, tun wir dies normalerweise über physische Steuerelemente wie Knöpfe, Griffe und seit einiger Zeit auch mithilfe integrierter Touchscreens. Mit der wachsenden Verbreitung von intelligenten, vernetzten Produkten weichen diese physischen Steuerelemente zunehmend Apps für Handys und Tablets, über die die Anwender die Produkte fernsteuern können.
Erweiterte Realität hebt die Benutzerschnittstelle auf eine neue Ebene. Über ein am Kopf getragenes AR-Gerät, Gesten und Sprachbefehle steuern die Nutzer ein virtuelles Bedienfeld, das die AR-Anwendung direkt auf das Produkt projiziert. Schon bald werden Anwender mit Datenbrillen einfach auf ein Produkt schauen oder zeigen und es dann über ein virtuelles Bedienfeld steuern. Mit einer Datenbrille ausgerüstet, können Fabrikarbeiter durch ihren Maschinenpark gehen, die Leistungsparameter überprüfen und jede einzelne Maschine einstellen und nachjustieren, ohne sie physisch zu berühren.
Das Interaktionspotenzial der erweiterten Realität steht bei kommerziellen Produkten noch ganz am Anfang, aber es ist revolutionär. Der Reality Editor, eine von der Gruppe Fluid Interfaces am MIT entwickelte AR-App, lässt erahnen, wie schnell die Entwicklung voranschreitet. Der Reality Editor ermöglicht es, ein intelligentes, vernetztes Produkt auf einfache Art und Weise mit einem interaktiven AR-Erlebnis zu verknüpfen. Wenn Nutzer dann ein Smartphone oder Tablet auf ein intelligentes, vernetztes Produkt richten (oder irgendwann das Produkt mit einer Datenbrille betrachten), "sehen" sie die digitalen Schnittstellen und Fähigkeiten, die sich programmieren lassen, und verknüpfen diese Fähigkeiten mit Gesten, Sprachbefehlen oder sogar mit einem anderen intelligenten Produkt. Mit dem Reality Editor ist es zum Beispiel möglich, dass ein Nutzer die Farb- oder Helligkeitssteuerung einer intelligenten Glühbirne sieht und diese über Sprachbefehle wie "hell" oder "Ambiente" aktiviert. Möglich wäre auch, dass unterschiedliche Einstellungen der Birne mit Knöpfen an einem intelligenten Lichtschalter verknüpft sind, den der Nutzer nach Belieben platzieren kann.
Die diesen Möglichkeiten zugrunde liegenden Technologien werden derzeit noch entwickelt, aber die Präzision von Sprachbefehlen in unruhigen Umgebungen wird besser, und die Erfassung von Gesten und Blicken macht große Fortschritte. General Electric (GE) hat bereits Sprachsteuerungen für AR-Erlebnisse getestet, mit denen Arbeiter komplexe Verkabelungsprozesse bei Windrädern vornehmen können, und eine Produktivitätssteigerung von 34 Prozent erzielt.
Die virtuelle Realität (VR), prominente Schwester der erweiterten Realität, ist eine ergänzende, aber eigenständige Technologie. Während AR digitale Daten über die physische Welt legt, ersetzt VR die physische Realität durch eine computergenerierte Umgebung. Die virtuelle Realität eignet sich speziell für den Unterhaltungsbereich, sie kann aber auch Arbeitsumgebungen nachbilden, etwa zu Schulungszwecken. Das bietet sich vor allem bei gefährlichen oder abgelegenen Einsatzbereichen an. Wenn Arbeiter nicht an der eigentlichen Maschine ausgebildet werden können, weil diese nicht zur Verfügung steht, können VR-Technologien eine virtuelle Umgebung mit Hologrammen der Maschine bereitstellen. Bei Bedarf liefert die virtuelle Realität mit Simulationen also eine vierte Fähigkeit, die die AR-Kernfunktionen Visualisieren, Anleiten und Interagieren ergänzt.
Erweiterte Realität wird in der Wirtschaft viel stärker genutzt werden als virtuelle Realität. In manchen Fällen ermöglicht aber die Kombination der beiden Technologien, dass die Anwender geografische, zeitliche oder größenbedingte Hürden überwinden können, wenn die relevanten Arbeitsumgebungen weit entfernt sind, in der Vergangenheit oder in der Zukunft liegen oder zu klein oder zu groß sind, um sie direkt zu erfahren. Menschen in virtuellen Umgebungen zusammenzubringen kann darüber hinaus das Verständnis, die Zusammenarbeit, die Kommunikation und die Entscheidungsfindung verbessern.
Ford schafft mit VR-Technologien eine virtuelle Werkstatt, in der Ingenieure von unterschiedlichen Standorten in Echtzeit an Hologrammen von Fahrzeugprototypen zusammenarbeiten können. Die Teilnehmer können um diese 3-D-Hologramme in Originalgröße herumlaufen und in sie hineingehen, um Details wie die Position des Lenkrads, den Winkel des Armaturenbretts oder die Position von Instrumenten und Bedienelementen zu klären, ohne einen teuren physischen Prototypen bauen und alle Beteiligten an einem gemeinsamen Standort zusammenziehen zu müssen.
Das amerikanische Heimatschutzministerium geht noch einen Schritt weiter und kombiniert AR-Anweisungen mit VR-Simulationen, um Erst- und Katastrophenhelfer für den Einsatz bei Notfällen wie Explosionen zu schulen. Das senkt die Kosten und in Fällen, in denen Übungen in realen Situationen gefährlich wären, auch das Risiko. Der Energiekonzern BP blendet AR-Schulungsabläufe in VR-Simulationen ein, die Bohrumfeldfaktoren wie Temperatur, Druck, Topografie und Meeresströmungen nachbilden, Teams bei ihrer Arbeit anleiten und Übungen für koordinierte Notfallmaßnahmen ermöglichen, ohne hohe Kosten oder Risiken zu verursachen.
Erweiterte Realität schafft im Wesentlichen auf zweierlei Weise einen Mehrwert: zum einen, indem sie ein Teil von Produkten wird, und zum anderen, indem sie die Leistung entlang der Wertschöpfungskette verbessert – von der Produktentwicklung über die Fertigung bis hin zur Vermarktung, zum Service und zu vielen weiteren Bereichen.
Die Fähigkeiten von AR passen zum wachsenden Bestreben der Unternehmen, die Benutzerschnittstellen und die Ergonomie von Produkten zu verbessern. Die Art und Weise, wie Produkte den Anwendern wichtige Informationen zum Betrieb und zur Sicherheit übermitteln, ist zu einem wichtigen Differenzierungsmerkmal geworden. (Das zeigt sich unter anderem daran, dass Mobilgeräte-Apps bei Produkten wie den Audioplayern von Sonos Bildschirme ergänzen oder ersetzen.) AR dürfte solche Schnittstellen schnell verbessern.
AR-Head-up-Displays, die erst seit Kurzem in Autos angeboten werden, gibt es in hochwertigen militärischen Geräten wie Kampfjets schon seit Jahren, und sie haben sich auch in Passagiermaschinen etabliert. Solche Anzeigen sind für die meisten Produkte zu teuer und zu groß, aber Wearables wie Datenbrillen sind eine innovative Schnittstelle, die allen Fertigungsunternehmen eine breite Palette an Möglichkeiten bietet. Mit einer Datenbrille sehen die Nutzer eine AR-Anzeige auf jedem Produkt, das damit kommunizieren kann.
Wenn Sie mit einer Datenbrille etwa in eine Küche blicken, ist ein virtuelles Display denkbar, das Ihnen die Backofentemperatur, die Restlaufzeit des Küchenweckers und das Rezept, nach dem Sie gerade backen, anzeigt. Wenn Sie sich Ihrem Auto nähern, kann Ihnen eine AR-Anzeige signalisieren, dass es verschlossen ist, dass der Tank fast voll und der Luftdruck im linken hinteren Reifen zu niedrig ist.
Da eine AR-Benutzerschnittstelle rein softwarebasiert ist und über die Cloud bereitgestellt wird, lässt sie sich personalisieren und kann sich kontinuierlich weiterentwickeln. Die Zusatzkosten, um so eine Schnittstelle anzubieten, sind gering, und für die Produkthersteller ergibt sich ein erhebliches Einsparpotenzial, wenn die traditionellen Knöpfe, Schalter und Bedienfelder wegfallen. Jeder Hersteller sollte sich die disruptive Kraft vor Augen führen, die solche Benutzerschnittstellen der nächsten Generation auf sein Angebot und seine Wettbewerbspositionierung ausüben können.
Wie sich AR auswirkt, zeigt sich inzwischen in allen Bereichen der Wertschöpfungskette, an bestimmten Stellen ist die Entwicklung aber schon weiter vorangeschritten als an anderen. Anwendungen für Visualisierungen und Anleitungen entfalten momentan die größte Wirkung auf die operativen Abläufe der Unternehmen; die Interaktionsfähigkeiten der erweiterten Realität sind hingegen noch in der Testphase.
PRODUKTENTWICKLUNG– CAD-Software zum Erstellen von 3-D-Konstruktionsmodellen gibt es schon seit 30 Jahren, aber bisher beschränkten sich diese Modelle auf die zweidimensionalen Fenster auf einem Computerbildschirm; das erschwert das ganzheitliche Konstruieren. Mit erweiterter Realität lassen sich 3-D-Modelle als Hologramme direkt in die physische Welt projizieren. So können Ingenieure Konstruktionen leichter bewerten und verbessern. Wenn es zum Beispiel um eine Baumaschine geht, kann AR-Technologie ein 3-D-Hologramm in Originalgröße auf den Boden "stellen"; die Ingenieure können um das Modell herumgehen, darunter- und darüberschauen und sogar hineinsteigen, um die Sichtachsen und die Ergonomie der Konstruktion im 1:1-Maßstab und in der späteren Umgebung zu testen.
Erweiterte Realität macht es auch möglich, physische Prototypen für einen Abgleich mit CAD-Modellen zu überblenden. Volkswagen nutzt diese Technik bei digitalen Konstruktionsprüfungen und macht auf diese Weise jegliche Abweichung zwischen der aktuellen Konstruktionsstufe und dem Prototyp optisch sichtbar. Das verbessert die Qualitätssicherung, bei der die Ingenieure früher mühsam 2-D-Skizzen mit den Prototypen vergleichen mussten. Außerdem ist das AR-Verfahren zehnmal schneller.
Wir gehen davon aus, dass schon bald AR-fähige Geräte wie Smartphones und Datenbrillen mit ihren integrierten Kameras, Beschleunigungsmessern, Navigationsfunktionen und anderen Sensoren als Grundlage für das Produktdesign genutzt werden, denn diese Geräte können genau Aufschluss darüber geben, wann, wo und wie die Nutzer ein Produkt tatsächlich einsetzen. So lässt sich zum Beispiel herausfinden, wie häufig eine bestimmte Reparatursequenz abläuft. Dadurch wird die AR-Schnittstelle zu einer wichtigen Datenquelle werden.
FERTIGUNG– Fertigungsprozesse sind oft komplex, umfassen Hunderte oder gar Tausende von Schritten, und Fehler sind teuer. AR kann den Arbeitern am Fließband oder an der Montagelinie die richtigen Daten zum richtigen Zeitpunkt bereitstellen; das senkt die Fehlerquote, erhöht die Effizienz und verbessert die Produktivität.
AR-Systeme können aber auch Daten aus Automatisierungs- und Steuerungssystemen, von sekundären Sensoren und Anlagenverwaltungssystemen erfassen und wichtige Überwachungs- und Diagnosedaten zu jeder Maschine und zu jedem Prozess visualisieren. Daten zu Effizienz und Fehlerquoten im Kontext zu sehen hilft den Wartungstechnikern, Probleme besser zu verstehen, und veranlasst Arbeiter, proaktive Wartungen einzuleiten, die teure Ausfallzeiten verhindern können.
Iconics, ein Spezialist für Automatisierungssoftware für Fabriken und Gebäude, integriert erweiterte Realität inzwischen in die Benutzerschnittstellen seiner Produkte. AR-Interfaces stellen relevante Informationen dort zur Verfügung, wo sie am besten beobachtet und verstanden werden können, und ermöglichen so eine effizientere Überwachung von Maschinen und Prozessen.
LOGISTIK– Die Lagerhaltung macht Schätzungen zufolge rund 20 Prozent aller Logistikkosten aus. Das Herausnehmen von Artikeln aus dem Regal ist dagegen für 65 Prozent der Lagerhaltungskosten verantwortlich. In den meisten Lagerhäusern gehen die Arbeiter immer noch eine auf Papier gedruckte Liste durch und suchen dann die gewünschten Artikel. Diese Vorgehensweise ist langsam und fehlerintensiv.
Der Logistikkonzern DHL und immer mehr andere Unternehmen setzen auf erweiterte Realität, um die Kommissionierung effizienter und präziser zu gestalten. AR-Anweisungen lotsen die Arbeiter an den Lagerort der jeweiligen Artikel und schlagen dann den kürzesten Weg zum nächsten Produkt vor. Bei DHL hat dieser Ansatz die Fehlerquote gesenkt, die Motivation der Arbeiter erhöht und die Produktivität um 25 Prozent verbessert. Jetzt führt das Unternehmen die AR-gesteuerte Kommissionierung weltweit ein und testet, wie diese Technik auch in anderen Bereichen der Lagerhaltung helfen kann, zum Beispiel bei der optimalen Anordnung von Gütern und Maschinen in strukturierten Layouts. Intel setzt in der Lagerhaltung ebenfalls auf erweiterte Realität und hat damit die Kommissionierzeit um 29 Prozent verbessert und die Fehlerquote auf Werte nahe null gesenkt. Zudem erreichen neue Intel-Mitarbeiter dank der AR-Anwendung von Anfang an eine um 15 Prozent kürzere Kommissionierzeit als Arbeiter mit einer herkömmlichen Ausbildung.
MARKETING UND VERTRIEB–Erweiterte Realität definiert Showrooms und Produktdemonstrationen neu und schafft ein völlig neues Kundenerlebnis. Wenn die Kunden vor dem Kauf virtuell sehen können, wie Produkte in der Realität ausschauen oder funktionieren, haben sie realistischere Erwartungen, mehr Vertrauen in ihre Kaufentscheidung und sind am Ende zufriedener mit dem Produkt. Langfristig könnte AR den Bedarf an physischen Ladengeschäften und Showrooms weiter reduzieren.
Produkte, die sich individuell konfigurieren und mit unterschiedlichen Funktionen ausstatten lassen, sind in der Lagerhaltung kompliziert und teuer. Hier ist erweiterte Realität ein besonders wertvolles Marketingtool. Der Baustoffhersteller Azek nutzt erweiterte Realität, um seinen Kunden zu zeigen, wie seine Platten und Bodenbeläge in verschiedenen Farben und Ausstattungsvarianten aussehen. Die Kunden können die Simulationen auch gleich in der richtigen Umgebung betrachten: Wenn sie sich ein Haus durch ein Smartphone oder Tablet anschauen, kann die AR-App zum Beispiel eine Terrasse mit einem bestimmten Belag hinzufügen. Das nimmt den Kunden einen Großteil ihrer Unsicher-heit bei der Auswahl und verkürzt den Verkaufszyklus.
Im Onlinehandel können Kunden mit AR-Apps Hologramme von Produkten herunterladen. Der Onlinemöbelhändler Wayfair und auch Ikea bieten Tausende 3-D-Produktabbildungen und Apps, mit denen sich diese Darstellungen als virtuelle Realität in Räume projizieren lassen. So können die Kunden testen, wie sich ein Möbel oder Dekoartikel bei ihnen zu Hause macht. Ikea sammelt über seine App auch wichtige Daten zu Produktpräferenzen in unterschiedlichen Regionen.
AFTER-SALES-SERVICE–Hier kann erweiterte Realität in enormem Umfang das wertschöpfende Potenzial von intelligenten, vernetzten Produkten freisetzen. AR-Anwendungen helfen Kundendienstmitarbeitern auf ähnliche Weise wie Arbeitern in der Fabrik: Sie zeigen Predictive-Analytics-Daten an, die vom Produkt selbst erhoben wurden, und führen den Servicemitarbeiter visuell durch die notwendigen Reparaturschritte. Dabei sind sie mit Experten in der Zentrale verbunden, die die Vorgehensweisen bei Bedarf optimieren können. Eine AR-Übersicht kann dem Kundendienstmitarbeiter zum Beispiel zeigen, dass ein bestimmtes Teil einer Maschine vermutlich in den nächsten vier Wochen ausfällt; diesem Problem kann der Techniker dann zuvorkommen, indem er das Teil sofort auswechselt.
Beim europäischen Telekomunternehmen KPN tragen Servicemitarbeiter sowohl bei Fernwartungen als auch bei Reparaturen vor Ort Datenbrillen und bekommen den Wartungsverlauf des Produkts, Diagnosen und standortbezogene Datenübersichten als erweiterte Realität eingeblendet. Diese AR-Anzeigen bewirken, dass die Techniker besser entscheiden können, wie ein Problem zu lösen ist, und haben dadurch die Gesamtkosten für die Serviceteams um 11 Prozent gesenkt, die Arbeitsfehlerquoten um 17 Prozent verbessert und die Reparaturqualität erhöht.
Beim Drucker- und Kopiergerätehersteller Xerox stehen die Außendienstmitarbeiter per AR-App mit Experten in Verbindung, traditionelle Servicehandbücher und Telefonsupport gibt es nicht mehr. Die Quote der auf Anhieb gelösten Probleme stieg um 67 Prozent, die Effizienz der Techniker verbesserte sich um 20 Prozent. Gleichzeitig sank die durchschnittliche Zeit für die Lösung eines Problems um zwei Stunden und mit ihr der Personalbedarf. Inzwischen geht Xerox noch einen Schritt weiter und verbindet die Experten in der Zentrale auch direkt mit den Kunden. Dadurch ist die Quote der Probleme, die die Kunden selbst lösen können, ohne dass ein Servicemitarbeiter vorbeikommt, um 76 Prozent gestiegen. Außerdem sanken sowohl die Reisekosten für Xerox als auch die Ausfallzeiten der Kunden. Da ist es kein Wunder, dass die Kundenzufriedenheit bei Xerox inzwischen bei 95 Prozent liegt.
PERSONALWESEN–AR-Pioniere wie DHL, die amerikanische Marine und Boeing haben bereits herausgefunden, welche Vorteile es bringt, Mitarbeiter mithilfe von erweiterter Realität Schritt für Schritt durch Arbeitsabläufe zu leiten, und zwar dann, wenn die Arbeiten anfallen – also on demand. Mit erweiterter Realität lassen sich Anweisungen auf die Erfahrung eines bestimmten Arbeiters abstimmen, oder sie kann berücksichtigen, dass ein bestimmter Fehler besonders häufig vorkommt. Mitarbeiter, die immer wieder die gleichen Fehler machen, können verpflichtet werden, unterstützende AR-Systeme zu verwenden, bis sich die Arbeitsqualität verbessert. In manchen Unternehmen müssen neue Beschäftigte dank AR-Unterstützung in bestimmten Aufgaben fast nicht mehr geschult werden, und die Anforderungen an neue Mitarbeiter sind gesunken.
Das ist vor allem für den Paketzusteller DHL von Vorteil, denn in diesem Geschäft gibt es besonders ausgeprägte saisonale Auftragsspitzen, bei denen das Unternehmen darauf angewiesen ist, Aushilfs- und Zeitarbeitskräfte schnell einzustellen und effektiv schulen zu können. Mit Echtzeitschulungen und praktischen Anleitungen zum Navigieren in Lagerhäusern und zum richtigen Verpacken und Sortieren von Waren haben AR-Anwendungen DHLs Bedarf an traditionellen Schulungsleitern gesenkt und dafür gesorgt, dass neue Mitarbeiter schneller angelernt werden.
Die erweiterte Realität wird massive Auswirkungen darauf haben, wie Unternehmen konkurrieren. Wie wir bereits in unseren früheren HBM-Beiträgen erläutert haben, verändern intelligente, vernetzte Produkte die Struktur aller Branchen und das Wesen des Wettbewerbs in diesen Branchen. Dies führt oft zu einer Ausweitung und Verschiebung der Branchengrenzen. Smarte, vernetzte Produkte eröffnen Fertigungsunternehmen neue strategische Möglichkeiten. Das reicht von der Auswahl der Funktionen und Produktmerkmale über das Management der Datenrechte und der Datensicherheit bis zu einer möglichen Erweiterung der Produktpalette und einem Einstieg in den Markt für intelligente Systeme.
Die wachsende Verbreitung der erweiterten Realität und die Möglichkeiten, die sie als Schnittstelle zwischen Menschen und intelligenten, vernetzten Produkten bietet, werfen einige neue strategische Fragen auf. Die Antworten hängen zwar vom Geschäft und den individuellen Umständen eines Unternehmens ab, eines gilt aber für alle Firmen: Die strategische Bedeutung der erweiterten Realität nimmt immer weiter zu. Fünf grundlegende Fragen gilt es hier zu klären.
1. Welche AR-Möglichkeiten gibt es in der Branche, und in welcher Reihenfolge sollten Unternehmen versuchen, sie zu nutzen? Unternehmen müssen die potenzielle Wirkung von AR-Anwendungen auf die Kunden, die Fähigkeiten der Produkte und die Wertschöpfungskette abschätzen.
2. Wie verbessert erweiterte Realität die Produktdifferenzierung? Erweiterte Realität eröffnet eine Reihe von Differenzierungsmöglichkeiten. Sie kann ergänzende Erlebnisse schaffen, die die Fähigkeiten von Produkten ausbauen, den Kunden zusätzliche Informationen bereitstellen und die Produkttreue erhöhen. AR-Schnittstellen, die die Funktionalität oder die Benutzerfreundlichkeit eines Produkts verbessern, können wirksame Alleinstellungsmerkmale sein – ebenso wie solche, die den Produktsupport, den Service und die Betriebszeit oder Verfügbarkeit eines Produkts deutlich verbessern. AR-Anwendungen, die Unternehmen Rückmeldung geben, wie Kunden ein Produkt einsetzen, können weiteres Differenzierungspotenzial aufzeigen. Welcher Differenzierungsansatz der richtige ist, hängt von der bestehenden Unternehmensstrategie, vom Verhalten der Wettbewerber und von der Geschwindigkeit des technischen Fortschritts ab, besonders bei physischen Produkten.
3. Wo bewirkt erweiterte Realität die größten Kostensenkungen? AR-Anwendungen ermöglichen ein neues Effizienzniveau, das jedes Unternehmen anstreben muss. Sie können die Kosten für Schulungen, Service, Montage, Konstruktion und andere Bereiche der Wertschöpfungskette massiv senken. Darüber hinaus können sie auch die Fertigungskosten erheblich reduzieren, weil sie häufig physische Schnittstellen ersetzen.
Jedes Unternehmen wird AR-basierte Kostensenkungsinitiativen auf die strategische Positionierung abstimmen müssen. Hersteller von komplexen Premiumprodukten sollten die überragende und kostengünstige Schnittstelle der erweiterten Realität ausnutzen, während viele Massenmarkthersteller sich auf operative Effizienz entlang der Wertschöpfungskette konzentrieren sollten. Bei Konsumgütern und im Einzelhandel sind marketingorientierte Visualisierungsanwendungen der naheliegendste Einstieg. In der Fertigung zahlt sich die AR-Funktion als Medium für Anleitungen am schnellsten aus, weil sie Ineffizienzen in Konstruktion, Produktion und Service beseitigt. Die Interaktionsfähigkeiten der erweiterten Realität stehen noch am Anfang ihrer Entwicklung, werden aber in allen Branchen wichtig sein, deren Produkte individuell konfigurierbar sind und komplexe Steuermöglichkeiten aufweisen.
4. Sollte das Unternehmen die Konzeption und Umsetzung von erweiterter Realität zu einer internen Kompetenz ausbauen oder reicht Outsourcing oder ein externer Partner? Viele Unternehmen haben Schwierigkeiten, die nötigen Fachkräfte für die AR-Entwicklung zu finden, denn diese sind Mangelware. Besonders gefragt sind Kompetenzen im Konzipieren von Nutzererlebnissen oder -schnittstellen (UX-/UI-Design). Digitale 3-D-Daten müssen so dargestellt werden, dass sie leicht verständlich sind und als Handlungsgrundlage dienen können; Unternehmen müssen aufpassen, dass das AR-Erlebnis nicht nur beeindruckt, sondern auch nützt, sonst ist es wertlos. Wirksame AR-Erlebnisse brauchen überdies die richtigen Inhalte, deshalb ist das Erstellen und Managen von Content eine zentrale Kompetenz, die Unternehmen jetzt brauchen. Außerdem sind fähige Mitarbeiter entscheidend, die digitale Modelle erstellen und in AR-Anwendungen umsetzen können.
Wir gehen davon aus, dass die Unternehmen allmählich eigene AR-Teams aufbauen – genau wie sie in den 90er und 2000er Jahren Teams zum Erstellen und Verwalten von Onlineauftritten eingerichtet haben. Diese Mitarbeiter müssen die Infrastruktur für das neue Medium schaffen und AR-Inhalte entwickeln und pflegen. Viele Unternehmen haben inzwischen begonnen, interne AR-Kapazitäten aufzubauen, aber noch haben nur wenige das nötige Kompetenzniveau erreicht.
Bei vielen ist noch nicht entschieden, ob es sinnvoller ist, eigens AR-Mitarbeiter einzustellen und auszubilden oder sich externe Software- und Servicepartner zu suchen. Einige Unternehmen haben gar keine andere Wahl, als AR-Fachkräfte als strategisches Kapital zu betrachten, weil die erweiterte Realität in ihrem Bereich massive Wettbewerbsauswirkungen haben dürfte. Diese Unternehmen investieren naturgemäß in die Gewinnung und Ausbildung solcher Mitarbeiter. Wenn jedoch erweiterte Realität für die Wettbewerbspositionierung zwar wichtig, aber nicht ausschlaggebend ist, können Unternehmen auch externe Software- und Servicespezialisten engagieren und deren Personal und Technologie nutzen.
Die Schwierigkeiten sowie der zeitliche und finanzielle Aufwand für den Aufbau der gesamten von uns beschriebenen AR-Palette sind erheblich, und in jeder einzelnen Komponente entstehen Spezialisierungen. In der Anfangsphase, als erweiterte Realität neu aufkam, gab es nur eine begrenzte Zahl an Technologie- und Serviceanbietern, und die Unternehmen haben intern die entsprechenden Fähigkeiten aufgebaut. Inzwischen bilden sich aber spezialisierte AR-Anbieter mit Fertiglösungen heraus, mit denen interne AR-Abteilungen immer schwerer mithalten können.
5. Wie wird erweiterte Realität die Stakeholderkommunikation verändern? Erweiterte Realität ergänzt die bestehenden Ansätze in der Print- und Digitalkommunikation und kann sie in einigen Fällen sogar ersetzen. In unseren Augen ist erweiterte Realität aber deutlich mehr als nur ein neuer Kommunikationskanal. Sie ist eine völlig neue Methode, mit Menschen in Kontakt zu treten. Denken Sie daran, wie einfach sich Informationen und Anleitungen über AR-Apps vermitteln lassen.
Das Internet begann als Werkzeug zum Austausch von technischen Berichten und hat letztlich die menschlichen Interaktionen in Wirtschaft, Bildung und Gesellschaft revolutioniert. Wir rechnen damit, dass die erweiterte Realität das Gleiche in der Kommunikation bewirkt: Veränderungen, die wir uns heute noch gar nicht vorstellen können. Unternehmen werden kreativ darüber nachdenken müssen, wie sie diesen neuen Kanal am besten nutzen können.
DIE PRAXIS GESTALTEN
AR-Apps kommen bereits in Pilottests und in Produkten entlang der gesamten Wertschöpfungskette vor – und sowohl die Zahl als auch die Vielfalt der Anwendungen wird weiter zunehmen.
Jedes Unternehmen braucht einen Implementierungsfahrplan, der skizziert, wie die Organisation die Vorteile der erweiterten Realität geschäftlich nutzen will und wie sie die nötigen Fähigkeiten entwickelt, um den Anwendungsbereich für AR auszuweiten. Wenn Unternehmen überlegen, in welcher Reihenfolge und wie schnell sie unterschiedliche AR-Funktionen umsetzen wollen, müssen sie dabei sowohl die technischen als auch die erforderlichen organisatorischen Kompetenzen im Blick haben, die sich je nach Kontext unterscheiden. Im Wesentlichen müssen sich Unternehmen die folgenden fünf Fragen stellen.
1. Welche Entwicklungsfähigkeiten sind erforderlich? Nicht alle AR-Erlebnisse sind gleich komplex. Anwendungen, mit denen Menschen Produkte in unterschiedlichen Konfigurationen und Umgebungen visualisieren können – wie die AR-Erlebnisse von Ikea, Wayfair und Azek –, lassen sich relativ einfach aufsetzen. Die Unternehmen müssen lediglich die Verbraucher dazu bringen, bestimmte Apps herunterzuladen und zu nutzen, und dazu braucht es nur ein mobiles Endgerät.
Anleitungs-Apps wie die von Boeing und GE in der Fertigung sind schwieriger zu bauen und anzuwenden. Sie erfordern die Fähigkeit, dynamische digitale 3-D-Inhalte zu entwickeln und zu pflegen, und sie sind oft in hohem Maße auf am Kopf getragene Bildschirme oder Datenbrillen angewiesen, die noch am Anfang ihrer Entwicklung stehen.
Am schwierigsten zu entwickeln sind Apps, die interaktive Erlebnisse schaffen, die sowohl Verbrauchern als auch Unternehmen einen erheblichen Mehrwert bieten. Sie verwenden noch nicht vollständig ausgereifte Technologien wie Sprach- oder Gestenerkennung und müssen mit der Steuersoftware von intelligenten, vernetzten Produkten verknüpft werden. Die meisten Unternehmen beginnen mit statischen Visualisierungen von 3-D-Modellen, aber sie sollten die notwendigen Fähigkeiten entwickeln, um schnell in dynamische Anleitungserlebnisse einzusteigen, die eine größere strategische Wirkung entfalten.
2. Wie sollen Organisationen Inhalte schaffen? Jedes AR-Erlebnis, vom einfachsten bis zum ausgefeiltesten, benötigt Content. In manchen Fällen ist es möglich, bestehende digitale Inhalte umzufunktionieren, zum Beispiel Produktdesigns. Mit der Zeit müssen die Unternehmen aber komplexere, dynamische und kontextabhängige Erlebnisse von Grund auf neu schaffen, und das erfordert besonderes Fachwissen.
Einfache Anwendungen, wie ein AR-optimierter Möbelkatalog, erfordern nur simple Produktdarstellungen. Komplexere virtuelle Anleitungen, etwa solche, die bei der Reparatur von Maschinen eingesetzt werden, erfordern hingegen präzise und hochgradig detaillierte digitale Produktdarstellungen. Die bekommen Unternehmen, indem sie entweder CAD-Modelle aus der Produktentwicklung anpassen oder Digitalisierungstechnologien wie 3-D-Scanner einsetzen. Hoch entwickelte AR-Erlebnisse brauchen auch eine Anbindung an Echtzeitdaten aus unternehmensweiten Geschäftssystemen, statistischen Prozesssteuerungen oder externen Quellen und müssen diese in den AR-Content einbinden. Um das AR-Portfolio zu vergrößern, sollten Unternehmen prüfen, welche digitalen 3-D-Bestände in CAD-Software und anderen Systemen vorliegen, und in digitale Modellierungskapazitäten investieren.
3. Wie erkennen AR-Anwendungen die physische Umgebung? Um digitale Daten präzise auf physische Gegenstände projizieren zu können, müssen AR-Technologien sie erkennen können. Am einfachsten funktioniert dies über eine Standortbestimmung des AR-Geräts, zum Beispiel über Satellitennavigation, und das Anzeigen relevanter Informationen zu diesem Standort, ohne die Daten an einem bestimmten Objekt zu verankern. Das ist dann ein "nicht registriertes" AR-Erlebnis. Die Head-up-Navigationsanzeigen in Autos funktionieren in der Regel nach diesem Prinzip.
Höherwertige "registrierte" Erlebnisse verankern die Daten an bestimmten Objekten. Das lässt sich über Markierungen wie Strichcodes, Logos oder Auszeichnungen erreichen, die auf dem Objekt angebracht sind und die der Nutzer mit einem AR-Gerät erfasst. Eine leistungsstärkere Alternative arbeitet mit Technologie, die Objekte erkennt, indem sie deren Form mit einem Katalog an 3-D-Modellen abgleicht. So können zum Beispiel Techniker bei Wartungsarbeiten sofort die Anlagen erkennen, für die sie verantwortlich sind, und mit diesen Anlagen aus jedem Winkel interagieren. Markierungen sind für den Anfang eine gute Lösung, aber die Geräte werden sehr schnell immer besser darin, Formen zu erkennen, und Organisationen müssen lernen, sie zu nutzen, wenn sie die wertvollsten AR-Anwendungen einsetzen wollen.
4. Welche AR-Hardware ist nötig? AR-Erlebnisse für den breiten Verbrauchermarkt sind in der Regel auf Smartphones ausgelegt und nutzen aus, dass diese Geräte einfach zu bedienen und weit verbreitet sind. Für höher entwickelte Erlebnisse setzen Unternehmen Tablets ein, die einen größeren Bildschirm, eine bessere Grafik und eine höhere Rechenleistung bieten. Da die Marktdurchdringung von Tablets aber geringer ist, bieten Unternehmen das Tablet häufig gleich mit an. Bei bestimmten höherwertigen Anwendungen, zum Beispiel in Flugzeugen oder Autos, bauen die Hersteller eigene AR-Head-up-Displays in ihr Produkt ein. Das ist allerdings ein teurer Ansatz.
Irgendwann werden aber alle AR-Anwendungen für Service, Fertigung und sogar für die Bedienung von Produkten am Kopf getragene Displays erfordern, damit die Nutzer die Hände frei haben. Noch ist diese Technologie nicht ausgereift und teuer, aber wir rechnen damit, dass Datenbrillen in den kommenden Jahren zu einem alltäglichen Gegenstand werden und dazu beitragen, dass die Möglichkeiten der erweiterten Realität sich voll entfalten. Microsoft, Google und Apple bieten inzwischen AR-Technologien an, die auf ihre jeweiligen Geräte zugeschnitten sind. Die meisten Unternehmen sollten jedoch einen plattformübergreifenden Ansatz wählen, der es den Nutzern ermöglicht, AR-Erlebnisse auf unterschiedlichen Telefonen und Tablets zu nutzen, und sie sollten dafür sorgen, dass sie auch Datenbrillen unterstützen, wenn sie auf den Markt kommen.
5. Sollten Sie Software entwickeln oder ein Content-Publishing-Modell wählen? Viele früh entwickelte AR-Erlebnisse basieren auf einer eigenständigen Software-App, die die Nutzer samt digitalem Inhalt auf ein Handy oder Tablet herunterladen. Dieser Ansatz bietet ein zuverlässiges, hochauflösendes Erlebnis und ermöglicht Apps, die keine Internetanbindung erfordern. Das Problem ist nur: Bei jeder Änderung des AR-Erlebnisses müssen Entwickler die App umprogrammieren, und das kann zu teuren Engpässen führen.
Eine neue Alternative setzt auf kommerzielle AR-Publishing-Software, mit der Unternehmen AR-Inhalte erstellen und über die Cloud bereitstellen können. Dann können die Nutzer das AR-Erlebnis on demand herunterladen und dazu eine allgemeine App nutzen, die auf einem AR-Gerät läuft. Wie bei einer Website lassen sich die AR-Inhalte in diesem Modell aktualisieren oder ergänzen, ohne die Software zu verändern. Bei großen Informationsmengen und häufigen Änderungen ist das ein bedeutender Vorteil. Das Content-Publishing-Modell wird sich durchsetzen, je mehr Geräte und Produkte eine Interaktion und Steuerung in Echtzeit über erweiterte Realität anbieten. Wer die AR-Technologie in seinem Unternehmen skalieren will, muss Content-Publishing-Fähigkeiten aufbauen.
Die digitale Revolution entfesselt mit vernetzten Produkten und der fortschreitenden Datenexplosion die Produktivität und sorgt in der gesamten Wirtschaft für neue Wertschöpfung. Die Beschränkung besteht inzwischen nicht mehr in einem Mangel an Daten und Wissen, sondern betrifft die Fähigkeit, sich anzupassen und die vorhandenen Ressourcen zu nutzen. Mit anderen Worten: Die Schnittstelle zwischen Daten und Mensch ist der Engpass. Erweiterte Realität entwickelt sich zu einer der führenden Lösungsmöglichkeiten für diese Herausforderung.
Unterdessen wirft das schnelle Voranschreiten von maschinellem Lernen und Automatisierung ernste Zweifel daran auf, dass die Entwicklung für den Menschen wirklich positiv ist. Wird es noch ausreichend Arbeitsplätze für alle geben, vor allem für Menschen ohne höhere Bildung und viel Wissen? Werden Menschen in einer Welt der künstlichen Intelligenz und der Roboter zum Auslaufmodell?
Der Schluss, dass neue Technologien die Chancen für den Menschen verringern, liegt nahe. Doch neue Erfindungen haben menschliche Arbeit schon seit Jahrhunderten ersetzt, und sie haben dennoch zu mehr Beschäftigung geführt, nicht zu weniger. Die Technologie hat unsere Produktivität und unseren Lebensstandard massiv verbessert. Sie hat neue Angebote hervorgebracht, die neue Bedürfnisse erfüllen und neue Arten von Arbeitern erfordern. Viele der heutigen Berufe haben mit Produkten und Leistungen zu tun, die es vor hundert Jahren noch nicht gab. Die Geschichte lehrt uns, dass die digitale Revolution, die wir gerade erleben, eine neue Welle der Innovationen und neue Arten von Arbeit mit sich bringen wird, die wir uns heute noch nicht vorstellen können.
Über die Rolle des Menschen in der Zukunft gibt es viele Missverständnisse. Menschen haben einzigartige Stärken, die Maschinen und Algorithmen nicht so schnell kopieren können. Wir verfügen über hoch entwickelte motorische Fähigkeiten, die weit besser sind als die aktuellen Fähigkeiten von Robotern und die es uns ermöglichen, die feinmotorischen Tätigkeiten auszuführen, die zum Beispiel beim Austauschen eines Maschinenteils oder bei der Verkabelung eines Windrads erforderlich sind. Selbst relativ einfache Tätigkeiten wie Blutabnehmen, Gartenpflege oder Reifenwechseln erfordern menschliche Geschicklichkeit, die nicht automatisierbar ist. Der Mensch ist in der Lage, sich mit seinen kognitiven Fähigkeiten sofort an neue Situationen anzupassen; Menschen können die Art, wie sie Informationen interpretieren, Probleme lösen, Urteile fällen und Maßnahmen ergreifen, an die jeweiligen Bedingungen anpassen. Menschen besitzen Flexibilität, Vorstellungskraft, Intuition und Kreativität, die auf absehbare Zeit für Maschinen unerreichbar sein werden.
Die Fortschritte in der künstlichen Intelligenz und in der Robotik sind zwar beeindruckend, aber wir glauben, dass das Zusammenspiel von maschinellen Fähigkeiten und den besonderen menschlichen Stärken zu deutlich mehr Produktivität und Wertschöpfung führt, als es einer der beiden Faktoren allein könnte. Was wir brauchen, um dieses Potenzial auszuschöpfen, ist eine leistungsstarke Schnittstelle zwischen Mensch und Daten, die eine Brücke schlägt zwischen der physischen und der digitalen Welt.
Wir betrachten erweiterte Realität als eine Innovation von historischer Bedeutung, die genau dies leisten kann. Sie hilft den Menschen, ihre Fähigkeiten zu erweitern und das neue digitale Wissen und die neuen maschinellen Fähigkeiten voll auszunutzen. Sie wird das Lernen und das Entwickeln neuer Fähigkeiten von Grund auf verändern und den Menschen ermöglichen, komplexe Aufgaben ohne langwierige und teure herkömmliche Anleitungen zu erledigen – etwas, das viele heute nicht können. Erweiterte Realität versetzt die Menschen in die Lage, die digitale Revolution und ihr Potenzial voll auszuschöpfen.
VON MICHAEL E. PORTER, JAMES E. HEPPELMANN
MICHAEL E. PORTER ist Professor an der Harvard Business School. Der Begründer des Strategiemodells der fünf Wettbewerbskräfte beschäftigt sich seit einigen Jahren mit den Auswirkungen neuer Technologien auf die Ausrichtung von Unternehmen. JAMES E. HEPPELMANN ist President und CEO von PTC, einem führenden Hersteller von Industriesoftware.
ZUSAMMENFASSUNG
DIE TECHNIK
Mithilfe erweiterter Realität können digitale Bilder und Daten auf reale Gegenstände projiziert werden. Dadurch stellt die Technologie Daten direkt in den Kontext, in dem wir sie brauchen, und wir sind besser in der Lage, die Informationen aufzunehmen und als Handlungsgrundlage zu nutzen.
DIE ANWENDER
Pioniere wie GE, Mayo Clinic und die amerikanische Marine setzen erweiterte Realität ein, um ihre Produktivität, die Qualität ihrer Produkte und Leistungen und ihre Wissensvermittlung zu verbessern. Erweiterte Realität kombiniert die Stärken der Menschen mit denen der Maschinen und wird auf diese Weise eine massive Erhöhung der Wertschöpfung bewirken.
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