„Eine optimale Arbeitszeit gibt es nicht“
Eine Mehrheit in Deutschland findet, wir müssten wieder härter arbeiten. Für eine wachsende Wirtschaft – aber auch für mehr Zufriedenheit?
Es gibt sie noch, die Verfechter der Viertagewoche. Carsten Graf, Chef der Braunschweiger PSD Bank, ist einer von ihnen. Seine Mitarbeiter müssen seit rund anderthalb Jahren nur noch vier Tage pro Woche ran, ihre Arbeitszeit hat sich von 39 auf 35 Stunden reduziert. Begeistert zieht Graf Bilanz: Die Krankheitstage hätten sich halbiert, die Motivation sei gestiegen, die Geschäftszahlen besser denn je – „ein voller Erfolg“ also.
Stimmen wie die von Graf sind jüngst allerdings leiser geworden, zunehmend übertönt von Rufen aus der Gegenrichtung: nach mehr, nicht weniger Arbeit. Arbeitgeberpräsident Rainer Dulger, Deutsche-Bank-Chef Christian Sewing oder Stephan Weil, SPD-Politiker und Niedersachsens Ministerpräsident: Sie alle fordern mehr Einsatz. Mal appellieren die Rufenden dabei an die deutschen Tugenden, mal an die wirtschaftliche Vernunft.
Doch mitunter denken sie auch an das Wohl der Beschäftigten: „Arbeit ist ein Teil unserer Lebenserfüllung“, schrieb etwa Friedrich Merz im Wahlkampf auf seinem X-Kanal. „Wir müssen wieder eine andere Beziehung zur Arbeit haben. Es kann doch auch Spaß machen!“ Kann es?
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CHEF ALS STIMMUNGSKILLER
Empirisch betrachtet ist Spaß jedenfalls nicht der vorherrschende Gemütszustand bei der Arbeit. Der Nobelpreisträger Daniel Kahneman hat vor 20 Jahren in einer viel beachteten Studie die Emotionen des Alltags vermessen. Die Teilnehmer sollten grob gefasst folgende Frage beantworten: Was haben Sie heute gemacht, und wie haben Sie sich dabei jeweils gefühlt? Das Ergebnis, das in späteren Studien immer wieder bestätigt wurde: Arbeit wird tendenziell negativ erlebt. Insbesondere zwei Dinge sind dabei echte Stimmungskiller: Zeitdruck und direkter Kontakt zum Chef. Freizeitbeschäftigungen wie Sport oder ein Treffen mit Freunden erleben Menschen dagegen meist positiv. Dementsprechend fühlen sie sich am Wochenende insgesamt besser als an Arbeitstagen.
Das spricht nicht gerade dafür, mehr zu arbeiten. Allerdings auch nicht dagegen, meint Bruno Frey. Der Schweizer ist ein Pionier der ökonomischen Glücksforschung. „Wenn wir zwischen weniger oder mehr Arbeit entscheiden, schauen wir nicht auf kurzfristige Empfindungen, sondern auf unsere allgemeine Zufriedenheit.“ Und dabei ergibt sich ein anderes Bild: Menschen sind mit Job deutlich zufriedener als ohne. Struktur, Anerkennung, Sinn, soziale Kontakte und ein gutes Einkommen – all diese Zufriedenheitsfaktoren kann ein Arbeitsplatz bieten.
Die Frage ist aber: Wie viel muss ich dafür arbeiten? Eine Untersuchung der britischen Universitäten Cambridge und Salford mit Daten zu 85.000 Personen resümiert: „Eine Arbeitszeit von acht Stunden pro Woche reicht aus, um die positiven Effekte einer Beschäftigung zu erzielen.“ Es schadet laut der Studie aber auch nicht, länger zu arbeiten. In der doch recht breiten Spanne von 8 bis 48 Stunden pro Woche hatte die Arbeitszeit praktisch keinen Einfluss auf das Wohlbefinden. „Eine optimale Arbeitszeit gibt es nicht“, sagt auch Glücksforscher Frey.
Fast schon konsequent ist deshalb das Resultat einer politischen Reform in Korea. Im Jahr 2004 begann das Land mit der Einführung einer 40-Stunden-Woche für große Unternehmen. Zuvor lag die gesetzliche Regelarbeitszeit bei 44 Stunden. Zugleich fiel die bis dato übliche Arbeit am Samstagvormittag weg. Forscher erwarteten einen Anstieg der Lebensqualität. Doch es kam anders: „Die Verkürzung hatte keine Auswirkung auf die Arbeits- und Lebenszufriedenheit“, stellten sie fest.
Wenn es den Menschen offenbar egal ist, wie viel sie arbeiten – dann sollten sie sich doch leicht zu mehr Arbeit bewegen lassen, oder? Immerhin stimmt laut einer Allensbach-Umfrage eine klare Mehrheit der Aussage zu, wir müssten in den kommenden Jahren „härter und mehr arbeiten, um unseren Wohlstand zu erhalten“. Offen bleibt allerdings, wer dieses „Wir“ ist. Denn auf individueller Ebene sieht das Ganze schon anders aus. „Die Arbeitszeitwünsche sind in Deutschland stabil“, sagt Susanne Wanger, die seit mehr als 20 Jahren am Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) zur Entwicklung der Arbeitszeit forscht.
Bei ihrer jüngsten Analyse von Daten aus dem Jahr 2021 arbeiteten vollzeitbeschäftigte Männer durchschnittlich gut 42 Stunden pro Woche, ihre Wunschzeit lag bei 37 Stunden. Dabei unterscheiden sich die Altersgruppen kaum. Bei Frauen liegen sowohl die tatsächliche als auch die gewünschte Arbeitszeit rund zwei Stunden niedriger (siehe Grafik). Und je größer die Diskrepanz zwischen Wunsch und Wirklichkeit, desto unzufriedener sind Beschäftigte mit ihrem Job, zeigt die Forschung.
Bei den Vollzeitbeschäftigten ist also nicht viel rauszuholen. Stattdessen steckt das Potenzial laut Wanger woanders: ausgerechnet im Bereich der „Teilzeitkultur“, über den all jene, die fordern, die Ärmel hochzukrempeln, gerne schimpfen. Da gibt es noch Menschen, die mehr arbeiten würden, wenn sie könnten. „Das betrifft insbesondere Frauen mit Kindern und Minijobber“, so Wanger. „Die wollen und können meist nicht in Vollzeit wechseln, aber eben ein paar Stunden mehr arbeiten.“ Aufsummiert ergäbe sich eine enorme zusätzliche Arbeitskraft: rund 1,4 Millionen Vollzeitstellen.
ARBEITSZEIT: VERTRAUEN ZAHLT SICH AUS
Doch die Rahmenbedingungen sind entscheidend: etwa die Minijobregeln oder die steuerlichen Erwerbsanreize für Ehepartner. Und natürlich die Kinderbetreuung. So ergab eine IAB-Studie, dass der Ausbau der Kitaplätze infolge des seit 2013 geltenden Rechtsanspruchs die wöchentliche Arbeitszeit von Müttern im Schnitt um fünf Stunden erhöht hat. Eine andere Untersuchung kommt zu dem Schluss, dass Mütter mehr arbeiten, wenn Homeoffice möglich ist. Effektives Gedöns.
Ökonom Frey, 83 Jahre alt, nennt noch eine weitere Gruppe, die mehr arbeiten könne und wolle: „Das größte Potenzial liegt bei den Pensionären.“ Frey plädiert deshalb für flexiblere Renteneintrittsregeln. Ohnehin scheint Flexibilität ein Schlüssel zu sein: Studien zeigen, dass Beschäftigte zufriedener sind, wenn sie selbst über ihre Arbeitszeit bestimmen können.
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