Eine Strategie für die Strategiearbeit
Von****Martin Reeves, Claire Love, Philipp Tillmanns
Aus strategischer Sicht hält die Ölindustrie kaum Überraschungen bereit. Natürlich gibt es Veränderungen, manchmal sogar dramatische, aber sie sind recht vorhersehbar. Die globale Angebotsentwicklung hängt zum einen von den geopolitischen Kräften und zum anderen von der Erschließung neuer Quellen ab. Das wissen die Planer. Und sie wissen auch, dass die Nachfrage abhängig von Einkommenssituation, BIP, Wetter und ähnlichen Faktoren steigt und fällt. Weil all diese Faktoren sich der Kontrolle der Unternehmen entziehen und der Einstieg in den Ölmarkt extrem schwierig ist, kann kaum niemand die Spielregeln grundlegend verändern. Also versuchen die Akteure nur, innerhalb dieses recht stabilen Rahmens mit ihren individuellen Kompetenzen und Ressourcen ihre Wettbewerbsposition zu verteidigen und auszubauen.
Die Internetsoftwarebranche wäre für einen Strategen aus der Ölindustrie ein Albtraum. Scheinbar aus dem Nichts kommen ständig neue Innovationen und Wettbewerber auf den Markt, und Unternehmen gewinnen – oder verlieren – dermaßen schnell Volumen und Marktanteile, dass einem schwindlig wird. Schwergewichte wie Microsoft, Google oder Facebook können mit einer neuen Plattform oder einem neuen Standard praktisch über Nacht die Spielregeln grundlegend verändern. In so einem Umfeld erarbeiten sich Unternehmen nur einen Wettbewerbsvorteil, indem sie Signale schneller erkennen und darauf schneller reagieren als die Konkurrenz. Sie müssen sich sofort an Veränderungen anpassen oder ihre technologische Führungsposition nutzen, um die Entwicklung von Nachfrage und Wettbewerb zu beeinflussen.
Strategien, die in der Ölindustrie funktionieren, bieten im deutlich weniger berechenbaren und erheblich dynamischeren Internetsoftwaregeschäft praktisch keine Hoffnung auf Erfolg. Dementsprechend müssen Strategen in diesen beiden Branchen völlig unterschiedliche Kompetenzen mitbringen. Ihre Arbeit unterscheidet sich in den Zeithorizonten, den strategischen Werkzeugen und in der Beziehung zu den Kollegen, die die Strategien letztlich umsetzen müssen. Eigentlich ergibt sich daraus von selbst, dass Unternehmen in solch unterschiedlichen Branchen auch bei Planung, Entwicklung und Umsetzung von Strategien ganz unterschiedlich vorgehen müssen. Doch unsere Untersuchungen haben gezeigt, dass dies allzu häufig nicht der Fall ist.
An mangelndem Willen liegt es nicht. Die Boston Consulting Group hat in einer Umfrage unter 120 Unternehmen herausgefunden, dass sich die Manager sehr wohl bewusst sind, dass sie die Strategieprozesse an ihr individuelles Wettbewerbsumfeld anpassen müssen. Dennoch zeigt die Studie, dass sich in der Praxis viele von ihnen auf Ansätze verlassen, die für ein berechenbares, stabiles Umfeld geeignet sind, auch wenn sie in einem überaus volatilen oder schnelllebigen Sektor tätig sind.
Was hindert diese Führungskräfte daran, ihre Strategiearbeit dem Umfeld anzupassen? Unserer Meinung nach fehlt ihnen ein systematischer Ansatz – eine Strategie für die Strategie. In diesem Beitrag stellen wir einen einfachen Ansatz vor, der vier Strategietypen unterscheidet. Die Einstufung hängt von der Berechenbarkeit im jeweiligen Sektor ab und von der Möglichkeit eines Unternehmens, das Marktumfeld zu verändern. Unternehmenslenkern hilft das Modell, ihren Strategiestil an die individuellen Bedingungen ihrer Branche, ihrer Unternehmensfunktion oder ihres geografischen Markts anzupassen.
Ihre Herangehensweise bestimmt die Strategie, die Sie entwickeln können. Wenn Sie wissen, welche strategischen Stilrichtungen es gibt und unter welchen Bedingungen der jeweilige Stil am besten funktioniert, können Sie die individuellen Fähigkeiten und Ressourcen Ihres Unternehmens optimal ausschöpfen.
Strategie beginnt in der Regel mit einer Bewertung der eigenen Branche. Und damit sollte auch die Wahl des richtigen Stils beginnen. Zwar spielen für Ihre Strategie eine Vielzahl von Branchenfaktoren eine Rolle, aber nur zwei davon sind entscheidend: Berechenbarkeit (Wie weit in die Zukunft und wie exakt können Sie eine zuverlässige Prognose für Nachfrage, Unternehmensergebnis, Wettbewerbsdynamik und Markterwartungen treffen?) und Formbarkeit (Wie stark können Sie oder Ihre Wettbewerber diese Faktoren beeinflussen?).
Erstellt man mit diesen beiden Variablen eine Matrix, ergeben sich vier grundsätzliche strategische Stilrichtungen: klassisch, adaptiv, prägend und visionär (siehe auch Grafik "Die richtige Strategie für Ihren Markt"). Jeder Stil hat seine eigenen Planungseigenschaften und passt zu einem bestimmten Umfeld. Allzu häufig fassen Führungskräfte bei der strategischen Planung Berechenbarkeit und Formbarkeit zusammen. Sie gehen davon aus, dass Berechenbarkeit und Formbarkeit sich ausschließen. Dann schrumpfen die vier auf nur noch zwei Möglichkeiten: entweder berechenbar und nicht formbar oder nicht berechenbar und formbar. Das ist, wie wir unten zeigen, nicht richtig. Deshalb sollten Unternehmen immer alle vier Optionen berücksichtigen.
Es hat uns nicht überrascht, dass Unternehmen, die ihren Strategiestil an das Umfeld anpassen, in unserer Studie erheblich besser abschneiden als andere. Bei Unternehmen mit dem richtigen Stil war die Rendite für Shareholder über drei Jahre im Durchschnitt um 4 bis 8 Prozent höher als bei Unternehmen, deren strategische Ansätze nicht zum Umfeld passen. Warum das so ist, zeigt ein genauerer Blick auf die vier Stile.
In einem Umfeld, das zwar berechenbar, aber schwer zu beeinflussen ist, bietet der klassische Strategiestil die besten Erfolgschancen. Mit diesem Stil kennen sich die meisten Manager und Business-School-Absolventen hervorragend aus. Das zeigen Ansätze wie das Fünf-Kräfte-Modell, die Blue-Ocean-Strategie oder die BCG-Matrix. Das Unternehmen will unter Ausnutzung seiner individuellen Fähigkeiten und Ressourcen die bestmögliche Marktposition erreichen. Anschließend folgen regelmäßige Planungsrunden, bei denen mit quantitativen Methoden Prognosen bis weit in die Zukunft erstellt werden, mit dem Ziel, die erreichte Marktposition zu festigen und auszubauen. Wenn solche Pläne erst einmal stehen, hält das Unternehmen oft über Jahre daran fest. Die klassische Strategieplanung funktioniert wunderbar als Einzellösung, denn sie erfordert besondere analytische und quantitative Fähigkeiten und die Entwicklung verläuft so langsam, dass ausreichend Zeit für den Informationsaustausch zwischen den einzelnen Abteilungen und Bereichen bleibt.
Die Strategen in Ölunternehmen setzen wie ihre Kollegen in anderen reifen Industrien erfolgreich auf den klassischen Strategiestil. Bei Branchenschwergewichten wie ExxonMobil oder Shell entwickeln hoch qualifizierte Analysten in der Konzernstrategieplanung tagein, tagaus detaillierte Perspektiven für die langfristigen wirtschaftlichen Faktoren, die sich auf die Nachfrage auswirken, und für die technischen Faktoren, die das Angebot bestimmen. Auf Basis dieser Analysen können sie im Upstream-Bereich Förderpläne erstellen, die bis zu zehn Jahre in die Zukunft reichen, und im Downstream-Bereich die Produktionskapazität für bis zu fünf Jahre im Voraus planen. Wenn man bedenkt, wie lange es dauert, neue Ölquellen zu finden und zu erschließen, Produktionsanlagen zu bauen und diese bei optimaler Kapazitätsauslastung am Laufen zu halten, kann es auch gar nicht anders sein. Die Pläne bilden die Grundlage für mehrjährige Finanzprognosen, auf denen die jährlichen Zielvorgaben basieren, bei denen sich das Unternehmen darauf konzentriert, seine Marktposition und Leistung auszubauen. Es muss schon etwas Außergewöhnliches geschehen, zum Beispiel ein langer Krieg am Golf oder eine Reihe von Schließungen großer Raffinerien, damit diese Pläne mehr als einmal pro Jahr aktualisiert werden.
Der klassische Ansatz funktioniert bei Ölunternehmen, weil dort die attraktivste Marktposition und die vielversprechendsten Kompetenzen morgen aller Wahrscheinlichkeit nach noch genauso aussehen wie heute. Aber das ist nicht überall so. In manchen Branchen sorgen globaler Wettbewerb, technologische Innovationen, soziale Rückkopplung und wirtschaftliche Unsicherheit für dauerhaft unberechenbare Rahmenbedingungen. In einem derart schnelllebigen Umfeld ist eine sorgfältig ausgearbeitete klassische Strategie womöglich binnen weniger Monate oder sogar Wochen obsolet.
Hier brauchen Unternehmen einen Ansatz, der sich besser anpassen lässt, damit sie Ziele und Taktiken immer wieder ändern und Ressourcen reibungslos und kurzfristig verschieben, aufstocken oder reduzieren können. In einem derart schnelllebigen, reaktiven Umfeld, wo Prognosen meist falsch und langfristige Pläne praktisch wertlos sind, kann es nicht um Effizienzmaximierung gehen. Flexibilität ist hier das höchste Ziel. Dementsprechend kann es sein, dass die Planungszyklen auf weniger als ein Jahr sinken oder sogar kontinuierlich geplant wird. Pläne sind keine sorgfältig ausgearbeiteten Blaupausen mehr, sondern grobe Hypothesen auf Basis der zum jeweiligen Zeitpunkt besten Daten. Die Strategie muss eng mit dem operativen Betrieb verknüpft oder sogar dort eingebettet sein, um Signale möglichst direkt zu erkennen und Informationsverluste und Verzögerungen zu vermeiden.
Die Modebranche ist ein gutes Beispiel dafür. Die Geschmäcker ändern sich schnell. Marken sind über Nacht in oder out. Dank einer zuverlässigen Daten- und Planungsgrundlage weit im Voraus zu wissen, was man produzieren soll, ist ein Luxus, den Manager der Modebranche nicht kennen. Ihnen bleibt nichts anderes übrig, als ihre Unternehmen darauf auszurichten, kontinuierlich so schnell wie möglich eine Vielzahl von Produkten zu produzieren und am Markt zu testen. Und auf Basis neuer Erkenntnisse müssen sie die Produktion dann ständig anpassen.
Zara setzt auf eine adaptive Strategie. Formale Planungsprozesse gibt es bei dem spanischen Modekonzern kaum. Die strategische Arbeit ist vielmehr in die flexible Lieferkette integriert. Der Konzern unterhält starke Beziehungen zu seinen 1400 Zulieferern, die eng mit den Designern und Vertriebsexperten von Zara zusammenarbeiten. Dadurch kann der Konzern ein Kleidungsstück in zwei bis drei Wochen entwerfen, herstellen und an die Läden ausliefern. Der Branchenschnitt liegt bei vier bis sechs Monaten. So ist Zara in der Lage, mit vielen verschiedenen Looks herumzuexperimentieren und potenziell beliebte Stile in Kleinserien auszuprobieren. Springt der Markt darauf an, lässt sich die Produktion schnell hochfahren. Andernfalls muss nicht viel Ware in Sonderaktionen verschleudert werden (Zara verkauft nur 15 Prozent des Bestands verbilligt, während es bei Wettbewerbern bis zu 50 Prozent sein können). Das heißt, Zara muss nicht vermuten, wie der Geschmack der Kunden im nächsten Monat aussieht. Die Modekette kann schnell und flexibel auf Feedback aus ihren Läden reagieren, neue Angebote ausprobieren und sich den tatsächlichen Bedingungen anpassen.
An die Beziehung zu Planern, Designern, Fertigungsbetrieben und Vertriebssparten stellt dieser Strategiestil ganz andere Anforderungen, als es bei einem Ölkonzern wie ExxonMobil der Fall ist. Dennoch haben die Designer von Exxon und Zara eins gemeinsam: Sie nehmen ihr Wettbewerbsumfeld als unabänderlich hin und wollen sich innerhalb des vorgegebenen Rahmens den bestmöglichen Platz sichern.
In manchen anderen Branchen sind die Rahmenbedingungen dagegen keineswegs in Stein gemeißelt. Internetsoftwareunternehmen wissen das nur allzu gut. In neuen oder jungen und wachstumsstarken Branchen mit niedrigen Einstiegshürden für Marktneulinge ist die Innovationsrate hoch, die Nachfrage lässt sich nur schwer vorhersagen, und die relative Position der Wettbewerber ist ständig im Fluss. Hier können Unternehmen mit innovativen Schritten die Spielregeln der gesamten Branche verändern. Reife Branchen, die ähnlich fragmentiert sind und nicht von einigen wenigen Anbietern dominiert werden oder die stagnieren und dringend einen neuen Impuls brauchen, sind in der Regel ebenfalls formbar.
In so einem Umfeld laufen Unternehmen mit klassischen oder adaptiven Strategien Gefahr, sich unter Wert zu verkaufen, von den aktuellen Ereignissen überrollt zu werden oder die Chance zu verpassen, ihr Schicksal zu bestimmen. Hier bietet sich eine Strategie an, die darauf abzielt, das unberechenbare Umfeld zum eigenen Vorteil zu verändern, bevor es die Konkurrenz tut – und zwar so, dass das Unternehmen immer profitiert, ganz gleich, wie sich die Dinge entwickeln.
Ähnlich wie bei adaptiven Strategien sind die Planungszyklen bei prägenden Strategien kurz, oder es wird sogar kontinuierlich geplant. Flexibilität steht an erster Stelle, es gibt kaum komplexe Prognosemechanismen, und die Strategie wird in der Regel als Portfolio an Experimenten umgesetzt. Anders als Anpasser konzentrieren sich Präger auf den Bereich jenseits der eigenen Unternehmensgrenzen, häufig indem sie ein ganzes Ökosystem an Kunden, Zulieferern und/oder ergänzenden Anbietern gewinnen und attraktive neue Märkte, Standards, Technologieplattformen und Geschäftspraktiken schaffen. Gefördert wird das Ganze durch Marketing, Lobbying und klug gewählte Partnerschaften. In der Anfangsphase der digitalen Revolution nutzten Internetsoftwareunternehmen häufig prägende Strategien, um neue Communities, Standards und Plattformen zu schaffen, die später zur Grundlage für neue Märkte und Geschäftsbereiche wurden.
Auf diese Weise hat Facebook binnen wenigen Jahren MySpace überholt. Einer der klügsten Schritte Facebooks war 2007 die Öffnung der Plattform für externe Entwickler. Das brachte alle möglichen Zusatzfunktionen auf die Seite. Wie groß und erfolgreich diese Anwendungen werden würden, konnte Facebook natürlich nicht wissen, aber das war auch nicht nötig. 2008 gab es 33 000 Anwendungen für Facebook. 2010 war die Zahl bereits auf 550 000 gestiegen. Die Branche entwickelte sich, und mehr als zwei Drittel der erfolgreichen Social-Media-Anwendungen waren Spiele. Kein Wunder, dass die beliebtesten, die von Zynga, Playdom und Playfish geschaffen worden waren, auf Facebook zu finden waren und die Website des sozialen Netzwerks bereicherten und erweiterten. Selbst wenn sich die Welt der sozialen Netzwerke im Lauf der Zeit dramatisch verändert, stehen die Chancen gut, dass die beliebtesten Anwendungen weiterhin auf Facebook zu finden sind. Das Onlinenetzwerk hat eine flexible und beliebte Plattform geschaffen und auf diese Weise das Marktumfeld zum eigenen Vorteil geprägt.
Manchmal haben Unternehmen nicht nur die Möglichkeit, die Zukunft mitzugestalten, sondern sie kennen diese Zukunft sogar schon und kön-nen sagen, welchen Verlauf sie nehmen wird. In solchen Fällen sind mutige Strategien gefragt – solche, mit denen Unternehmer völlig neue Märkte schaffen (wie Edison im Bereich der Elektrizität oder Martine Rothblatt mit dem Satellitenradio), oder solche, mit denen Topmanager einem Unternehmen eine völlig neue Vision verpassen. Der indische Unternehmer Ratan Tata versucht das heute mit dem Billigauto Nano. Das sind hohe Wetten auf die Zukunft – nach dem Motto: Erst mal bauen, die Kunden kommen dann schon von selbst.
Ähnlich wie ein prägender Stratege betrachtet ein Visionär das Umfeld nicht als gegeben, sondern als etwas, das sich zum eigenen Vorteil formen lässt. Dennoch hat der visionäre Strategiestil mehr mit dem klassischen zu tun als mit dem adaptiven. Weil das Ziel klar ist, können die Strategen bewusst darauf hinarbeiten, ohne sich viele verschiedene Optionen offenhalten zu müssen. Viel wichtiger ist für sie, dass sie sich die nötige Zeit nehmen, um Ressourcen zu sammeln, das Vorhaben gründlich zu planen und ordentlich umzusetzen, damit die Vision nicht an einer schwachen Implementierung scheitert. Visionäre Strategen müssen den Mut haben, ihren Kurs beizubehalten.
UPS erkannte 1994, dass der wachsende Online-handel eine Goldgrube für Zusteller werden würde. Irgendwie mussten die Angebote aus der virtuellen Welt ja zu den Kunden gelangen. Vielleicht war das auch dem deutlich jüngeren und kleineren Wettbewerber FedEx klar, aber UPS war in der Lage und willens, das nötige Geld dafür in die Hand zu nehmen. In jenem Jahr gründete UPS einen funktionsübergreifenden Ausschuss mit Vertretern aus IT, Vertrieb, Marketing und Finanzen, der sich überlegte, was nötig sein würde, um das Unternehmen zum Erfüllungsgehilfen des globalen E-Commerce zu machen. Dieser Ausschuss war es, der die ehrgeizigen Initiativen entwickelte, mit denen UPS seine Vision verwirklichen konnte. UPS investierte eine Milliarde Dollar pro Jahr, um sein System zur Sendungsnachverfolgung mit den Websites der Onlineanbieter zu verknüpfen, und tätigte Übernahmen, um seine Zustellkapazitäten zu erweitern. Im Jahr 2000 hatte sich die milliardenschwere Wette ausgezahlt: UPS gehörten 60 Prozent des E-Commerce-Zustellmarktes!
Drei von vier Managern, die an unserer Befragung teilgenommen hatten, war klar, dass sie je nach Umfeld unterschiedliche Strategiestile anwenden müssen. Doch den tatsächlich angewandten Praktiken nach zu urteilen nutzte offenbar der gleiche Anteil nur zwei strategische Stile: den klassischen und den visionären. Beide passen zu berechenbaren Märkten. Das heißt im Umkehrschluss: Nur jeder vierte war bereit, sich an unvorhergesehene Ereignisse anzupassen oder die Chance zu nutzen, den Markt zum Vorteil des eigenen Unternehmens zu prägen. In Anbetracht der Tatsache, wie unberechenbar die Branchen der Befragten sind, ist dieser Anteil viel zu niedrig.
Die Unterschiede der strategischen Ansätze zu kennen und zu wissen, wann welcher Stil angebracht ist, kann ein Unternehmen, das seinen Strategiestil an das Umfeld anpassen will, ein gutes Stück voranbringen. Vor drei Fallstricken sollten sich die verantwortlichen Strategen aber in Acht nehmen.
1. Falsche Zuversicht
Nur wer zutreffend einschätzen kann, wie berechenbar und formbar der Markt ist, kann den richtigen strategischen Stil auswählen. Wir haben die Wahrnehmung der Manager mit der tatsächlichen Situation verglichen und festgestellt, dass sehr viele dazu neigen, beide Faktoren zu überschätzen. Fast die Hälfte der Befragten waren der Meinung, sie könnten die Unsicherheit ihrer Branche durch eigene Maßnahmen in den Griff bekommen, und mehr als 80 Prozent sagten, das Erreichen ihrer Ziele hänge stärker von eigenen Aktionen ab als von Faktoren, die sie nicht beeinflussen können.
2. Alte Gewohnheiten
Viele Manager erkennen, wie wichtig adaptive Fähigkeiten in unberechenbaren Märkten sind, aber nicht einmal jeder fünfte fühlt sich in diesem Bereich ausreichend kompetent. Zum Teil ist das darauf zurückzuführen, dass sie nur den klassischen Strategiestil gelernt haben – sowohl in ihrer Berufserfahrung als auch an der Business School. Deshalb waren wir nicht überrascht, dass knapp 80 Prozent angaben, ihre strategische Planung beginne mit einer Zielfestlegung, und anschließend werde analysiert, wie sich dieses Ziel am besten erreichen lässt. Rund 70 Prozent sagten, die Genauigkeit einer Entscheidung sei ihnen wichtiger als die Geschwindigkeit, auch wenn sie wussten, dass ihre Branche schnelllebig und unberechenbar ist. Deshalb wird viel Zeit auf unhaltbare Prognosen verschwendet, obwohl ein schnellerer und experimentellerer Ansatz effektiver wäre. Außerdem lassen sich die Manager sehr von Quartals- und Jahresabschlüssen leiten, und das hat erhebliche Auswirkungen auf ihre strategischen Planungszyklen. Fast 90 Prozent sagten, sie entwickelten ihre Strategiepläne auf jährlicher Basis, ungeachtet der tatsächlichen oder gefühlten Veränderungsgeschwindigkeit in ihrer Branche.
3. Unpassende Firmenkultur
Viele Manager erkennen die Bedeutung adaptiver Fähigkeiten, aber diese umzusetzen läuft unter Umständen der Firmenkultur zuwider. Klassische Strategien, die auf Größeneffekte zielen, können wiederum eine Kultur schaffen, in der alles auf Effizienz und das Eliminieren von Variationen ausgerichtet ist. Dies verhindert unter Umständen Experimente und die daraus folgenden Lerneffekte – zwei Dinge, die für eine adaptive Strategie entscheidend sind. Scheitern ist mit Experimentieren untrennbar verbunden. In Firmenkulturen, die Scheitern bestrafen, können sich adaptive und prägende Strategien also nicht besonders gut entfalten.
Haben Unternehmen die Voraussetzungen der vier Strategiestile verstanden, ist es häufig ganz einfach, diese Fallstricke zu umgehen. So hilft es zum Beispiel schon sehr, sich darüber im Klaren zu sein, dass adaptive Planungshorizonte nicht unbedingt gut zum Rhythmus der Finanzmärkte passen. Und die Gefahr, mit dem falschen Ansatz loszulegen, lässt sich vielleicht schon durch die Erkenntnis bannen, dass es bei prägenden und visionären Strategien darum geht, den Markt zu verändern, statt sich im vorhandenen Umfeld eine optimale Position zu erkämpfen.
Außerdem hilft es, mehr auf Kennzahlen zu achten. Unternehmen stecken zwar jedes Jahr viel Energie in Prognosen, aber es ist erstaunlich, wie selten sie im Folgejahr überprüfen, ob sich die Vorhersagen auch erfüllt haben. Wir empfehlen, die eigenen Prognosen in regelmäßigen Abständen zu überprüfen. Wenn Sie sich ansehen, wie häufig und in welchem Umfang es Wettbewerbern gelingt, ihre Marktposition in Bezug auf Umsatz, Gewinn und andere Leistungskennzahlen zu verändern, können Sie objektiv beurteilen, wie berechenbar Ihre Branche ist. Die Formbarkeit eines Marktes lässt sich am besten einschätzen, wenn man sich Reifegrad, Konzentration, Innovationsquote und die Rate der technologischen Veränderungen in der Branche anschaut.
Wenn Sie den Strategiestil Ihres Unternehmens auf die Plan- und Formbarkeit Ihrer Branche abstimmen, dann passt auch die Strategie selbst zum wirtschaftlichen Umfeld. In der Praxis kommt es vor, dass einzelne Konzernbereiche oder Teilmärkte bei Plan- und Formbarkeit von der Gesamtbranche abweichen. Doch die Strategen dieser Bereiche oder Teilmärkte können dieselben Fragen stellen, um den passenden Strategiestil zu finden: Wie berechenbar ist das Umfeld der Sparte? Und inwieweit lässt sich dieses Umfeld ändern? Die Antworten weichen unter Umständen deutlich ab. Wir schätzen zum Beispiel, dass das Geschäftsumfeld in China fast doppelt so formbar und unberechenbar ist wie in den USA. Deshalb sind in China prägende Strategien oft die sinnvollste Lösung.
Auch die verschiedenen Funktionen in einem Konzern spielen sich vor einem Hintergrund ab, der jeweils unterschiedliche Planungsansätze erfordert. In der Autobranche zum Beispiel dürfte der klassische Ansatz sehr gut funktionieren, um die Produktion zu optimieren, aber nicht, um das digitale Marketing in Schwung zu bringen. Diese Abteilung kann ihr Umfeld vermutlich deutlich stärker prägen und verändern (das ist schließlich das Ziel von Werbung). Kampagnen Jahre im Voraus zu planen wäre hier nicht besonders zielführend.
Wenn einzelne Unternehmensbereiche oder Konzernfunktionen einen anderen strategischen Stil erfordern als das Gesamtumfeld des Unternehmens, müssen Sie sehr wahrscheinlich mehrere Strategiestile gleichzeitig umsetzen. Auch das wissen die Manager aus unserer Studie sehr genau. 90 Prozent der Befragten wollen ihre Fähigkeiten verbessern, mehrere Strategiestile gleichzeitig anzuwenden. Am einfachsten, aber auch am wenigsten flexibel ist eine strukturelle Lösung: Funktionen, Regionen oder Geschäftsbereiche, die sich in ihren Strategiestilen unterscheiden, werden separat geführt. Mehr Flexibilität in vielfältigen oder schnelllebigen Märkten ergibt sich, wenn die Teams innerhalb der betreffenden Unternehmensbereiche selbst entscheiden können, welchen Stil sie anwenden möchten. Diese Variante ist aber im Allgemeinen auch die schwierigere.
Eine Änderung des Strategiestils kann aber auch erforderlich werden, wenn ein Unternehmen in eine neue Phase des Entwicklungszyklus eintritt. Start-ups agieren in der Regel in besonders formbaren Märkten, die visionäre oder prägende Strategien erfordern. Während der Wachstums- und Reifephase eines Unternehmens hingegen lässt sich das Umfeld meist deutlich schlechter beeinflussen. Hier bieten sich eher der adaptive oder der klassische Stil an. Entwickelt sich das Unternehmen dann negativ, bieten sich wieder Chancen, mit einer prägenden oder visionären Strategie zu punkten und das Unternehmen zu verjüngen.
Einfach ist der Prozess nicht. Sie müssen zunächst Ihr Umfeld realistisch beurteilen, nicht nur für das Gesamtunternehmen, sondern auch für die einzelnen Funktionen, Unternehmensbereiche und geografischen Märkte. Anschließend ermitteln Sie möglichst unvoreingenommen den passenden Strategiestil und sorgen dafür, dass die Firmenkultur eine erfolgreiche Umsetzung ermöglicht. Danach müssen Sie Ihr Umfeld im Auge behalten und sich den Veränderungen im Lauf der Zeit anpassen. Doch so komplex das klingen mag, wir sind überzeugt, dass Unternehmen, die ihren strategischen Stil immer wieder an das Marktumfeld anpassen, anderen einen deutlichen Schritt voraus sind!
Kompakt
Anpassen
Bei der Strategieplanung tun viele Manager so, als agierten sie in einem berechenbaren Markt - selbst dann, wenn sie in volatilen und schnelllebigen Branchen aktiv sind. Erfolgreiche Führungskräfte passen ihren Strategiestil dagegen bewusst ihrem jeweiligen Umfeld an.
Stil finden
Zwei Fragen sind dabei entscheidend: Wie berechenbar ist das Marktumfeld? Und: In welchem Maße können die Markteilnehmer dieses Umfeld beeinflussen? Je nach Antwort ergeben sich vier grundlegende Stilrichtungen, die Unternehmen bei der Gestaltung ihrer zukünftigen Ausrichtung entscheidende Impulse geben können.
Von Martin Reeves, Claire Love, Philipp Tillmanns
Die Autoren
Martin Reeves arbeitet in New York City als Seniorpartner bei der Unternehmensberatung Boston Consulting Group (BCG). Dort ist er außerdem Director des Strategy Institute. Claire Love ist heute Principal und Partnerin bei PwC in New York. Zuvor war sie ebenfalls bei BCG. Philipp Tillmanns war Berater bei BCG in Hamburg und hat zwei Startups mitgegründet.
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