Einstein 21.0: Die Wiederentdeckung eines Genies
Alte Überzeugungen drohen heute zu zerfallen und lassen viele Menschen ratlos zurück. Sie fühlen sich abgehängt und wissen nicht, wie und wo sie ihren Platz in einer Welt finden sollen, die aus den Fugen geraten ist. Die Frage nach dem WIE wird in ausweglosen Zeiten immer lauter. Nie zuvor wurde so viel über Lebenskunst nachgedacht und geschrieben. Wo immer heute von ihrem Kompass die Rede ist, wird auf Albert Einstein verwiesen. Mit seiner Forschung zur Struktur von Materie, Raum und Zeit sowie dem Wesen der Gravitation veränderte er grundlegend das Weltbild der Physik. Er gehört zu den prägendsten Persönlichkeiten des 20. Jahrhunderts und gilt als Inbegriff eines Genies, das sich seine eigene Telefonnummer nicht merken konnte. Er antwortete auf amüsiertes Nachfragen, dass er keinen Grund habe, seinen Geist mit Informationen zu belasten, die man so leicht nachschlagen könne. Wie Goethe war Einstein ein bekannter Langschläfer, der sich nicht vor zehn Stunden aus dem Bett bewegte.
Fantasie war ihm wichtiger als Wissen, er verachtete Autoritäten und sagte, dass Politik eine Showbühne für hässliche Menschen sei, und die Ehe war für ihn der „erfolglose Versuch, einen Zufall zu etwas Dauerhaftem zu machen“. Er hielt sich von ihr fern, weil er fürchtete, ein zufriedener Bourgeois zu werden. Einstein trank keinen Alkohol und war „im Prinzip“ ein Vegetarier, der Fleisch mit schlechtem Gewissen aß. Vollkommen in seinen wissenschaftlichen Studien aufzugehen verlieh ihm eine „innere Freiheit und Sicherheit“ gegenüber den Niederungen des Alltags, die er uninteressant fand.
Im Handel gibt es Einstein inzwischen sogar als Plastik-Solarfigur, die uns ständig einen Vogel zeigt – sprach er doch nicht nur über die Unendlichkeit des Universums, sondern auch über die Unendlichkeit der menschlichen Dummheit, die nach seinem Tod noch zugenommen hat. Als der Kardinal von Boston, O’Connor, die Relativitätstheorie als atheistisch attackierte, schickte Rabbi Herbert S. Goldstein aus New York an Einstein ein Telegramm: „Glauben Sie an Gott? STOP Antwort vorausbezahlt 50 Wörter.“ Einstein antwortete: „Ich glaube an Spinozas Gott, der sich in der gesetzlichen Harmonie des Seienden offenbart STOP Nicht an einen Gott, der sich mit Schicksalen und Handlungen der Menschen abgibt.“
Einstein verfasste sogar ein Gedicht über Spinoza, dessen Ethik eine „nachhaltige Wirkung“ auf ihn ausübte. Einstein bezeichnete sich als „tiefreligiösen Atheisten“, der weder auf der einen Seite noch auf der anderen stand. Er empfand sich als einen glücklichen Menschen, weil er von niemandem etwas wollte. Er war nicht begierig auf Lob. „Das Einzige, was mir abgesehen von meiner Arbeit, meiner Geige und meinem Segelboot Freude bereitet, ist die Anerkennung meiner Kollegen“, zitiert ihn Theodore Zeldin in seinem Buch „Gut leben“, einem Kompass der Lebenskunst. Zeldin lehrte viele Jahre in Oxford Geschichte und wurde als Autor unter anderem mit „Eine intime Geschichte der Menschheit“ bekannt. Die britische Zeitung „The Independent“ setzte ihn auf die Liste jener weltweit vierzig Menschen, deren Ideen das 21. Jahrhundert nachhaltig beeinflussen werden.
Besonders eindrucksvoll zeigt sich dies im Buch von Jonathan Sierck, das Philipp von der Wippel, Gründer von ProjectTogether, in seinem Vorwort ebenfalls als Kompass bezeichnet: „Selbstbewusstsein & Authentizität – Über die Kunst du selbst zu sein“. Auffällig ist auch hier - wie bei Zeldin - der Begriff „Kunst“ im Titel, denn zu den Herausforderungen der Gegenwart gehört auch die Kunst des gelingenden Lebens: dieses „Werk“ muss authentisch, aufrichtig, sinnhaft und inhaltsvoll sein. „Wir verleihen den Dingen ihren Sinn durch unser Denken und unsere Wahrnehmungen. Wenn wir dem Gedanken Glauben schenken, dass alles ohne Bedeutung ist, wirkt sich das auch unmittelbar auf unser Handeln aus. Keine Bedeutung im Leben zu sehen, lässt sich mit einer Hölle auf Erden gleichsetzen“, schreibt Jonathan Sierck mit Bezug auf Einstein.
Der Autor zeichnet detailliert die beeindruckende Geschichte des Einstein-Nachlasses nach - bis zur Herausgabe seiner gesammelten Werke und die Bemühungen, Einstein als „greifbarere Persönlichkeit“ zu zeigen, als „Mensch mit Bedenken, Problemen, Herausforderungen und Ängsten“. Denn „Groß“ bedeutet immer auch, beide Seiten der Natur zu betrachten – die gute, schöne und die dunkle, befremdliche.
Weiterführende Literatur:
Jonathan Sierck: Selbstbewusstsein & Authentizität – Über die Kunst du selbst zu sein. Selfpublishing. Amazon 2016.
Visionäre von heute – Gestalter von morgen. Inspirationen und Impulse für Unternehmer. Hg. von Alexandra Hildebrandt und Werner Neumüller. Springer Gabler, Heidelberg, Berlin 2018.
Theodore Zeldin: Gut leben. Ein Kompass der Lebenskunst. Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg 2016.