Einzeln oder als Kiloware: Sind Briefmarken nur noch Werte von gestern?
Zur Briefkultur, die in Zeiten des digitalen Wandels, langsam ausstirbt, gehören auch die in England erfundenen Briefmarken, die es seit 1840 gibt. Die „One Penny Black“ gilt als älteste Marke der Welt. 2014 wurden 9,5 Millionen Dollar für die „British Guiana 1c magenta“ bezahlt. Briefmarkensammler waren früher „Jäger“, denen es hauptsächlich um Geld ging. Die ZEIT berichtete 1965 von einem Markt, auf dem – allein in Deutschland - dreistellige Millionenbeträge verschoben wurden. Briefmarken galten früher als „Aktien des kleinen Mannes“. Heute ist die Philatelie ein „gigantisches Erbe, das niemand antreten will“ (Philipp Bovermann).
Sammelleidenschaft für Briefmarken
Die Werte von gestern sind allerdings mit dem Guten von heute verbunden: Die mit den Briefmarken verbundene Sammelleidenschaft brachte den Bethel-Leiter Friedrich von Bodelschwingh auf die Idee, eine Briefmarkenstelle in Bethel zu gründen. Als Gründungsdatum der Briefmarkenstelle Bethel gilt das Jahr 1888. Briefmarkensammler aus aller Welt bestellen hier neue oder ungewöhnliche Briefmarken für ihr Portfolio. Im Jahr 1946 wurde mit der professionellen Aufbereitung der Briefmarken begonnen: Menschen mit Behinderung sortierten und reinigten die Postwertzeichen in der Briefmarkenstelle. 1988 wurde die Briefmarkenstelle Bethel selbst zum Motiv auf einer Briefmarke: Die Deutsche Bundespost brachte ein Postwertzeichen zum hundertjährigen Bestehen der Briefmarkenstelle heraus.
Jeden Werktag erreichen etwa 400 Briefe, Pakete und Päckchen die Sammelstelle in Bethel. Die Briefmarken können aber auch an vielen Sammelstellen abgegeben werden, darunter Schulen, Kindergärten und Recyclinghöfe, die auf die Annahme verweisen. 29 Tonnen Briefmarken werden in Bethel jährlich aufbereitet, sortiert und für den Wiederverkauf verpackt. Dies entspricht 128 Millionen Briefmarken, die einzeln oder als Kiloware unter Wahrung des Datenschutzes verkauft werden.
Etwa 125 kranke, behinderte und sozial benachteiligte Menschen arbeiten für die Briefmarkenstelle. Gemeinden, Unternehmen und Einzelspender lassen der Einrichtung Briefmarken zukommen. Auch bei Häcker Küchen in Rödinghausen werden seit Jahren die Briefmarken der täglich eingehenden Post gesammelt: Eine Mitarbeiterin erhält die Umschläge oder ausgetrennten Briefmarken aus verschiedenen Unternehmensabteilungen. Die Marken werden daheim ausgeschnitten und in einem Karton gesammelt. Immer wenn ein Päckchen voll ist, schickt sie es nach Bielefeld zur Sammelstelle. Die Arbeitsplätze in der Sammelstelle sind mehr als nur eine Beschäftigung für kranke und behinderte Menschen, die hier ein kleines Einkommen erhalten. Sie geben den Menschen eine sinnvolle Aufgabe und ihrem Leben Halt und Struktur. Briefmarken erinnern uns daran, was eine Gesellschaft im Innersten zusammenhält – und worauf wir auch im Zeitalter der Digitalisierung nicht verzichten können.
Weiterführende Informationen:
Aus Tradition verantwortungsvoll. Nachhaltigkeitsbericht 2019/2020. Hg. von Häcker Küchen GmbH & Co. KG. Rödinghausen 2019.
Philipp Bovermann: Werte von gestern. In: Süddeutsche Zeitung (21./22.9.2019), S. 51.
Alexandra Hildebrandt und Claudia Silber: Von Lebensdingen: Eine verantwortungsvolle Auswahl. Amazon Media EU S.à r.l. 2017.