Eiskalt: Gipfelstürmer im Management
In der Regel sind sie äußerlich unauffällig, aber ihr Herz ist kalt. Mit ihm bezahlen sie ihre Macht. Sie brauchen den Frost, weil sie oben in der Gipfelregion, die sie mit Besessenheit erreichen wollen, niedrige Temperaturen ertragen müssen. Weil sie die Leidenschaft von sich fernhalten, können nie ganz bei sich sein – auch nicht mit ihren Ausdrucksmitteln. Sie wollen Unternehmen und Menschen führen, können ihnen aber niemals begegnen, weil sie in ihrem Autismus gefangen sind. Sie funktionieren, aber leben nicht wirklich. Sie beschäftigen sich nur mit monetären Werten – was sich nicht in Geld darstellen lässt, zählt nicht. Das Denken ist nur auf quantitative Größen fixiert. Viele von ihnen verbinden Führung mit Freiheitsverlust – sie arbeiten 18 Stunden täglich, fliegen um die Welt und sehen aus wie pubertierende altkluge Jungen, die keine Freude am Leben haben. Sie wollen niemals warten, denn für sie zählt nur der Wunsch anzukommen, aber nicht der Weg. Meistens sieht man sie mit ihrem Blackberry oder Mobiltelefon beschäftigt. Sogar ihre Mahlzeiten verschlingen sie mit dem Handy am Ohr. Die „ausgeschaltete“ Zeit im Flieger scheint ihnen verloren, denn sie könnten etwas verpassen. Eiskalte Gipfelstürmer lernen vor allem Durchsetzungsvermögen, Rationalität, Planungskompetenz, Härte und zielorientierte Taktik.
Sie sind auf Verzicht programmiert. Das Leben gibt ihnen nichts, weil sie alles von ihm erwarten. Wie sollen diese Fingernägel kauenden Gefangenen ihrer selbst die Freien und Kreativen begeistern? Sie sind Profis – immer und überall, aber holen keine Luft und wissen nichts von Selbstfindung. Ausgestattet mit Pulsfrequenzmesser und Stoppuhr laufen sie auch in der „Freizeit“ ihrer (Lebens-)Zeit davon und sich selbst hinterher. Doch ihre Gefühle haben sie vorher abgelegt. Ihr Privatleben breiten sie gern ausführlich im Internet aus: Urlaubsbilder, Schnappschüsse von Extremsportarten und die Wegbeschreibung zu ihrer Wohnung. Sie sind verheiratet, nutzen aber während ihrer langen Dienstreisen Gelegenheiten zum Seitensprung: GeldMachtSex. Je hässlicher der Mann, desto schöner die Frau. Nach einer Nacht haben sie die „Neue“ abgelegt und fliegen nach Haus zur „Alten“ zurück. Sie sind tot und doch lebendig, wenn sie Lounges bevölkern und von einer Abflughalle zur nächsten hetzen.
Nicht jeder kann ihn sich gerade noch rechtzeitig zum Freund machen wie Eugene O'Kelly: Der amerikanische KPMG-Chef, einer der Topmanager in den USA, erfährt eines Tages, dass er nur noch drei Monate zu leben hat. Er beschließt, aus der verbleibenden Zeit Sinn zu schöpfen und schreibt ein Buch, das zu einem der besten Wirtschaftsbücher des Jahres 2006 gekürt wurde. Als CEO und Chairman verantwortet er das Amerikageschäft von KPMG, einer der größten und renommiertesten Wirtschaftsprüfungsgesellschaften der Welt. Er ist verantwortlich für 20.000 Mitarbeiter, der Umsatz beträgt vier Milliarden Dollar. O’ Kelly kann nur in der Zukunft, aber nicht in der Gegenwart leben. Er ist bis 18 Monate im Voraus ausgebucht. Als seine Frau in seinem Gesicht eine beinahe unmerkliche Lähmung feststellt, wertet er das zunächst als Stresssymptom. Nach einer Fernost-Reise geht der 53-Jährige zum Arzt. Die Diagnose: Gehirntumor im fortgeschrittenen Stadium. Lebenserwartung: drei bis sechs Monate. Sein Todesurteil. Er beschließt, "aus der verbleibenden Lebenszeit die beste Phase meines Lebens zu machen" - und dies in einem Buch zu dokumentieren. Eugene O'Kelly starb am 10. September 2005. „Auf der Jagd nach dem Tageslicht“ dokumentiert seine letzten Monate, geschrieben von ihm selbst und beendet von seiner Frau. Es ist zugleich ein Lebens-, Arbeits- und Sterbebuch. Seine Situation begriff er als Chance, „endlich“ und intensiv über sein Leben nachzudenken. Dabei muss er erfahren, dass sein Versuch, sein Leben und seinen Tod zu „managen“, verlorene Liebesmüh ist: "Die Dinge verlaufen nicht immer nach Plan. Sie verlaufen sogar ziemlich oft nicht nach Plan." - "Dann musste das auch in Ordnung sein."
Alexandra Hildebrandt: Die Wertevernichter. Wie gefährliche Managertypen ticken und was Unternehmen brauchen. Kindle Edition 2023.