Emotionsgeschichte: Vom gesellschaftlichen Druck, „normal“ sein zu müssen
Ist mein Blutdruck normal? Ist es ungewöhnlich, kaum Sex zu haben? Bin ich zu groß, klein, zu dünn, zu dick? Vor allem viele junge Menschen fürchten, dass ihr Verhalten, ihre Gefühle und ihr Körper nicht im Bereich des Normalen liegen. Doch woher kommt der Druck, normal zu sein zu müssen? Und was ist eigentlich „normal“? Warum wollen so viele Menschen normal sein – und zunehmend doch anders als die anderen? Inwiefern ist die Empfindung des Normalen abhängig von den Moral- und Wertvorstellungen in der jeweiligen Kultur zu einer bestimmten Zeit? Mit diesen Fragen beschäftigt sich die britische Historikerin Sarah Chaney, die am Londoner Queen Mary College zur Emotionsgeschichte und Care-Arbeit forscht, in ihrem Buch "Bin ich normal?" Neben ihrer wissenschaftlichen Tätigkeit leitet sie das Veranstaltungsprogramm des Royal College of Nursing, Englands größter Gewerkschaft für Pflegeberufe. Als Teenager rebellierte sie gegen den Mainstream, während sie sich insgeheim danach sehnte, „normal“ zu sein.
In ihrem Buch zeigt sie auf, dass das „normale“ Empfinden von den eigenen Erfahrungen und Erwartungen abhängt, also subjektiv ist. Im politischen Alltag (z. B. in der Rechtsprechung) wird ein objektives Urteil benötigt. Die Frage, was normal ist, ist aber immer auch politisch geprägt: Wer Normen bestimmt, hat Macht. Und wer der Norm entspricht, gehört zu den Herrschenden. Die Macht der Masse ist im Mainstream abgebildet. Der Missbrauch des Normalitätsbegriffes (z. B. Abwertung von Menschen) war nicht immer so. Ursprünglich stammt er aus der Mathematik und ist vor dem 19. Jahrhundert kaum mit menschlichem Verhalten in Verbindung gebracht worden.
Der italienische Priester und Astronom Giuseppe Piazzi entdeckte bei der Suche nach einem Planeten zwischen Mars und Jupiter am Himmel einen neuen Stern. Bis zum 11. Februar verfolgte er seine Bewegungen, dann verlor er ihn durch die zunehmende Nähe zur Sonne aus dem Blick. Im Oktober erreichten die von ihm publizierten Daten den jungen deutschen Mathematiker Carl Friedrich Gauß. Dieser errechnete mithilfe einer mathematischen Formel einen Durchschnitt, den er in einem Graphen darstellte. Die so entstandene glockenähnliche Kurve hatte eine abgerundete Kuppe in der Mitte und lief zu beiden Seiten flach aus. Gauß behauptete, dass der Stern Ceres an dem Punkt wieder auftauchen würde, der exakt in der Mitte dieser Kurve liege. Die nächste klare Nacht belegte, dass er recht hatte. Sein Name wurde schon bald mit der Glockenkurve (Gauß-Verteilung) verbunden. Ab den 1830er Jahren, als die Wissenschaft Körper, Gefühle und Verhaltensweisen zu klassifizieren begann, wurde die Suche nach dem „normalen“ Menschen schließlich zur Obsession.
Sarah Chaney weist anhand zahlreicher Beispiele nach, dass das Normale fast immer zugunsten des weißen Mannes definiert worden ist. Die Vorstellungen von Europäern und Nordamerikanern hätten bestimmt, wie ein Mensch „richtig“ sei, was sich bei der Eroberung fremder Kulturen gezeigt habe. Auch heute noch beruhe die Annahme von Normalität auf dem Lebensstil der Mittelschicht. Das führt beispielsweise zu „Ungleichheiten“ in Psychiatrie, Wissenschaft, Medizin, Justiz und Polizei. Den Normalzustand bezeichnet sie als „ein Glaubenssystem, eine Illusion, die die gesamte moderne westliche Gesellschaft durchzieht.“
In den 1960er Jahren griff dann ein genereller Schlankheitskult um sich, zu deren früher Ikone Twiggy wurde. Und Marius Müller-Westernhagen sang noch 1978 aus voller Kehle: „Ich bin froh, dass ich kein Dicker bin“. Bis in die 1990er Jahre sind Models immer schlanker geworden – und die Kluft zwischen dem Durchschnittskörper von Frauen und dem der Models wurde immer größer. Der Schönheitswahn wurde zum Kampfritual und die Besetzung der Körperinnenräume. Medizinisch legt der Body Maß Index – eine aus dem Verhältnis von Größe und Gewicht eines Menschen errechnete Zahl – fest, wer „normalgewichtig“ ist und wer über- oder untergewichtig. Allerdings wird nicht zwischen Körpertypen unterschieden. Für Naturwissenschafter ist „normal“ wiederum nur eine Definition und kein Werturteil. Mit Hilfe statistischer Methoden wird ein Durchschnitt ermittelt.
Ein auffälliges Paradox ist zum Beispiel der Wunsch in den identitätspolitischen Debatten, als „normal“ wahrgenommen zu werden und gleiche Rechte zu haben. So kämpfen auch Menschen mit diversen sexuellen Neigungen um Sichtbarkeit und Anerkennung. Die Sexualität ist im Buch auch ein Beispiel dafür, dass die Definition von Normalität heute erweitert wird. Vieles ist inzwischen enttabuisiert. Schon Sigmund Freud bemerkte, dass alles abweichende Verhalten die Normalität ergebe: Alle Menschen seien neurotisch. So ist es auch normal, sich zuweilen etwas „verrückt“ zu fühlen. Inzwischen ist auch eine „Normalisierung“ von Gefühlen und Verhaltensweisen zu beobachten, die früher als „Störung“ galten. Das zeigt sich auch in an der Sprache: So werden Autismus, Hyperaktivität oder das Tourette-Syndrom als „Neurodiversität“ zusammengefasst. „Diversität“ gilt für die Autorin als Antwort auf den normierten Körper. So werden Menschen mit körperlicher Beeinträchtigung im Rahmen der Body-Positivity-Bewegung verstärkt für Werbekampagnen gebucht.
Emotionen sind kein Gegenpol zu Vernunft und Intellekt, wie es Sarah Chaney in ihrem historischen Rückblick zeigt: Sich von Emotionen leiten zu lassen, galt in der Aufklärung für das Individuum und die Gesellschaft noch als abnorm. Ab 1789 entwickelten sich Vernunft und Gefühl zu diametralen Gegensätzen, „und emotionale Zurückhaltung wurde zum entsprechenden Merkmal sogenannter normaler Menschen.“ Später wurde die These, dass starke Emotionen „primitiv“ seien, auch zur Untersuchung rassistischer Ansichten herangezogen. „Es ist leicht, gelassen und ‚rational‘ zu bleiben, wenn man alle Macht in Händen hält“, so Chaney. Ihr Buch ist auch ein wichtiger Beitrag zur Debatte um die Bedeutung von Gefühl und Verstand. Gefühle leisten einen wichtigen Beitrag zur Schaffung eines „mentalen Prozesses, der durch den Zustand des Organismus beseelt wird“, schreibt der US-Neurowissenschaftler Antonio Damasio in seinem Buch „Wie wir denken, wie wir fühlen“, in dem er Ursprünge und Natur unseres Bewusstseins ergründet. Er betrachtet Gefühle als die im Stammhirn lokalisierte Basis höherer geistiger Funktionen bis hin zum Bewusstsein. In seinen Studien fand er heraus, dass der Verstand ohne Emotionen völlig hilflos ist. In diesen Kontext gehört auch die Publikation von Sarah Chaney: „Ob es nun um die Erwartungen der anderen geht oder um unsere eigenen Vorstellungen und Richtig und Falsch, Normalität und nicht Normal, oft ist es doch gerade die chaotische Ungewissheit unserer Emotionen, die dazu führt, dass wir uns menschlich fühlen.“
Damit hängt auch der richtige Umgang mit dem Bauchgefühl und der Nutzung von Emotionen zusammen, um ein besseres Unternehmen zu werden. „Wenn wir unser Bauchgefühl zugunsten der Rationalität aufgeben, geben wir auch ein Stück weit das Menschsein auf“, schreibt der Unternehmer Werner Neumüller, Geschäftsführer der GmbHs der Neumüller Unternehmensgruppe in seinem Buchbeitrag „Die Grenzen der Rationalität“. Denn die perfekte Entscheidung ist eine Kombination aus Herz und Hirn. Der Verstand denkt und sortiert vor, das Gefühl liefert den letzten Anstoß.
Sarah Chaney: Bin ich normal? Goldmann-Verlag, München 2023.
Werner Neumüller: Die Grenzen der Rationalität. In: Bauchgefühl im Management. Die Rolle der Intuition in Wirtschaft, Gesellschaft und Sport. Hg. von Alexandra Hildebrandt und Werner Neumüller. SpringerGabler Verlag 2021.