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Es geht auch anders: Wie Grundwerte der Gemeinwohl-Ökonomie in Unternehmen umgesetzt werden

„Geiz zerfrisst den sozialen Sinn“, schrieb vor einigen Jahren der Soziologe Wolfgang Sofsky. Beim Streben nach Gewinnmaximierung bleibt die Menschenwürde oft auf der Strecke. Begriffe wie Erwerbungen, Zinsen, Anteile und Profite prägten das Denken von Managern und Führungskräften. Die Vorstellung von der Würde eines jeden Menschen ist für den Hirnforscher Gerald Hüther die entscheidende Voraussetzung für den Aufbau und den Fortbestand jeder demokratischen Gesellschaft. Das Ausmaß der durch kurzfristige Lösungen von uns erzeugten langfristigen Probleme ist jetzt, zu Beginn des 21. Jahrhunderts, „so unübersehbar und so selbstzerstörerisch geworden, dass uns nun nichts anderes mehr übrigbleibt, als unsere Aktivitäten künftig an solchen Vorstellungen zu orientieren, die das Leben und das Zusammenleben von Menschen langfristig und nachhaltig erfreulicher machen.“ Da wir jedoch erst am eigenen Leib und auf globaler Ebene erfahren müssen, welche Gefahren mit dieser Kurzsichtigkeit verbunden ist, braucht es sehr viel Zeit, „bis wir ernsthaft beginnen, nach einer solchen, langfristig ausgerichteten gemeinsamen Orientierung zu suchen“, so Hüther. Es ist dringlich, „es nicht länger als unter seiner Würde zu betrachten, öffentlich Stellung zu beziehen, auszusprechen, was man so nicht länger hinzunehmen bereit ist, und im Rahmen seiner Möglichkeiten dafür zu sorgen, dass die Würde von Menschen nicht länger mit Füßen getreten, verletzt und untergraben wird.“ Würdevolle Menschen sind nach Hüther nachhaltige Konsumenten, sie haben ein inneres Bild davon entwickelt, wer sie sein wollen, sie möchten im gesellschaftlichen Leben Orientierung und Sicherheit gewinnen, sie sind achtsam und umsichtig.

Dass es auch anders gehen muss, sagten sich 2012 auch die Brüder Malte und Sören Riechmann und gründeten die Digitalagentur visuellverstehen. Sie wollten in ihrer Arbeit nicht nur nach hoher Qualität in den Bereichen Design und Softwareentwicklung streben, sondern auch den Sinn dahinter vermitteln und fragten sich, wie sie als wir als Dienstleister einen konstruktiven Beitrag zur Gesellschaft leisten oder diese bestenfalls sogar positiv verändern können. Sie schlugen eine für die Kreativszene untypische Richtung ein: die eines gemeinwohlorientierten Unternehmens. Hier spielt ein Aspekt eine wichtige Rolle, auf die der Unternehmer und Personalexperte Werner Neumüller – der sich mit seiner NEUMÜLLER Unternehmensgruppe ebenfalls schon früh nachhaltig ausgerichtet hat – schon seit Jahren verweist: die Verbindung von Bauchgefühl und Rationalität, die auch im Management verstärkt an Bedeutung gewinnen sollte. Die Entscheidung der Brüder Riechmann geschah ebenfalls intuitiv, indem rational gewirtschaftet und bei der Projektauswahl auf ethische Aspekte geachtet wurde. Darüber hinaus floss das ökologische Bewusstsein in jede ihrer Entscheidungen mit ein – auch in die wirtschaftlichen. Daran hat sich bis heute nichts geändert. Zu den Grundwerten der Gemeinwohl-Ökonomie gehören Solidarität, Mitbestimmung, Menschenwürde, Transparenz sowie soziale Gerechtigkeit und ökologische Nachhaltigkeit.

Ein professionelles Nachhaltigkeitsmanagement schreckt allerdings noch immer einige Unternehmen ab – sei es, weil der thematische Zugang zu kompliziert erscheint oder weil im Tagesgeschäft keine Zeit dafür bleibt. Doch der Einstieg muss nicht schwer sein, wie der Ansatz der Gemeinwohlökonomie (GWÖ) zeigt – er ist auch für kleinere Unternehmen und Organisationen ohne großen Aufwand verbunden. Das unternehmerische Handeln ist hier stärker am gesellschaftlichen Nutzen als am finanziellen Gewinn ausgerichtet. Die GWÖ wurde von Kleinen und mittelständischen Unternehmen (KMU) initiiert und wächst als zivilgesellschaftliche Initiative von unten. Die GWÖ-Bilanz wird im ersten Schritt als Selbsteinschätzung in Form eines ausführlichen GWÖ-Berichts erstellt. Anschließend prüft und bewertet ein externer GWÖ-Auditor die Angaben. Die Resultate werden im Audit-Bericht veröffentlicht. Das dazugehörige Testat gibt die Bilanzsumme (die erreichte Gesamtpunktzahl) bekannt. Daran lässt sich der Beitrag, den das Unternehmen für das Gemeinwohl leistet, messen und vergleichen. Ein Gewinninteresse ist mit der Zertifizierung nicht verbunden, auch fallen keine Lizenzkosten an. Veränderungen im Bewertungsrahmen werden öffentlich diskutiert und dokumentiert. Die Analysematrix mit 20 Indikatoren findet auf einer DIN A4-Seite Platz. Ergänzt wird die Analysematrix von einem dazugehörigen Handbuch, das Anregungen und Best-Practice-Beispiele enthält.

In dem von der Digitalagentur visuellverstehen herausgegebenen Buch „Gemeinwohl von A bis Z“ wird ein Einblick in den Ablauf der Bilanzierung und in die Bemühungen gegeben, dabei möglichst gut abzuschneiden. Zudem werden 26 Praxistipps für ein besseres Klima im Arbeitsalltag und auf unserem Planeten gegeben. Ein aufrichtiges Bekenntnis zu den GWÖ-Grundsätzen wirkt sich positiv auf das direkte Umfeld sowie die Gesellschaft als Ganzes aus, so die Überzeugung der Herausgeber. Mittlerweile beschäftigt das Unternehmen rund 30 Teammitglieder, der jährliche Umsatz liegt bei über zwei Millionen Euro netto, und in der Gemeinwohl-Ökonomie hat das Team vor einigen Jahren einen theoretischen und praktischen Rahmen für sein wirksames Engagement gefunden. 2022 unterzog sich der Dienstleister bereits zum zweiten Mal einer GWÖ-Bilanzierung. Als Vorteile werden gesehen, dass nicht nur der Istzustand gemessen wird, sondern dass die GWÖ-Bilanzierung auch bei der Formulierung eines Wunschzustandes hilft und zeigt, wie weit das jeweilige Unternehmen davon noch entfernt ist. Als „klimaneutrales Unternehmen“ möchte sich das Unternehmenn nicht bezeichnen, „denn der Begriff ist irreführend und wird von vielen Firmen durch Ausgleichszahlungen erkauft, ohne nachhaltige Konzepte zu nutzen. Eine gute Alternative ist es, von ‚klimakompensiert‘ zu sprechen.“

Bei der Umsetzung von Nachhaltigkeitsstrategien orientieren sich auch immer mehr Kommunen an der Agenda 2030 der Vereinten Nationen mit den Zielen für eine nachhaltige Entwicklung (Sustainable Development Goals, SDGs). Zudem gibt es viele Kommunen, die sich mit der Erstellung von Gemeinwohl-Bilanzen beschäftigt haben. So heißt es auch im Herausgeberband von der Digitalagentur visuellverstehen: „Das Instrument der GWÖ-Bilanz wurde vom Bürgermeister einer bilanzierten Gemeinde bereits als Methode zur Umsetzung der 17 SDGs bezeichnet, und tatsächlich finden sich alle Ziele der Vereinten Nationen in der Matrix wieder.“ Auch die Bertelsmann-Publikation „SDGs und kommunale Gemeinwohl-Bilanz“ beschäftigt sich mit den bestehenden Zusammenhängen zwischen der Gemeinwohl-Bilanz und den SDGs analysiert. Außerdem werden Wege aufgezeigt, wie die Gemeinwohl-Bilanz noch stärker mit den SDGs verknüpft werden kann, und es werden ausgewählte Instrumente, Projekte und Vorhaben vorgestellt.

In SDG 11 heißt es auch, dass sich Städte und Siedlungen inklusiv, sicher, stabil und nachhaltig aufstellen sollen. Inklusion von Menschen mit Behinderungen ist eine gesellschaftliche Aufgabe, die auch im Herausgeberband von visuellverstehen eine wichtige Rolle spielt: Auch hier soll ein Zeichen gegen Diskriminierung und Benachteiligung gesetzt werden. Um Barrieren zu überwinden, ist es zunächst zentral, diese als solche zu erkennen. An der Haustür ist das noch relativ einfach: Um alle Menschen willkommen heißen zu können, benötigt es Treppen, Rampen oder Fahrstühle sowie optische, auditive oder haptische Signale.“ Doch bei der Gestaltung von Brandings und Digitalprodukten ist es für die meisten herausfordernder, Barrieren zu erkennen. Um eine Website oder eine Webanwendung möglichst gut zugänglich für alle Nutzenden zu machen (klare Struktur, verständliche, intuitiv erreichbare Inhalte), müssen verschiedene Gewerke eng zusammenarbeiten, um einen Teil zu einer barrierefreien und inklusiven Gesellschaft beizutragen.

Auch das Thema Selbstständigkeit und Eigenverantwortung spielen im Buch „Gemeinwohl von A bis Z“ eine wichtige Rolle: Den Mitarbeitenden von visuellverstehen wird vertraut, und es gibt – wie bei der erwähnten Neumüller Unternehmensgruppe - ein gemeinsam entwickeltes Wertepapier, an dem sich alle täglich orientieren: im Umgang miteinander und in der Zusammenarbeit mit Kunden. „Durch das gemeinsame Verfassen von Werten stellen wir sicher, dass alle Mitarbeitenden hinter ebendiesen stehen.“ Mitarbeitende und Kunden fragen im Digitalisierungszeitalter verstärkt danach, „wofür“ ihr Unternehmen steht. Wesentliche Treiber für diesen Kultur- und Werteprozess sind Globalisierung, der demografische Wandel, Diversifizierung und Vernetzung über Unternehmensgrenzen hinweg. All das führt zugleich zu einer Komplexitätszunahme. Keine Organisation wird in einer solchen Arbeits- und Lebenswelt überlebensfähig sein, wenn sie nicht ein stabiles Wertegerüst hat, das auf einem tragfähigen und Fundament basiert. Es geht heute nicht nur um äußere Güter wie Erfolg oder Profit, sondern auch um „innere Güter“, die Tugenden wie Respekt oder Solidarität systematisch fördern. Vor allem geht es, so Neumüller, um in die Tat umgesetzte Werte. Das schließt ein, dass man auch für die Konsequenzen seiner Handlungen verantwortlich ist.

Werte konstituieren das Ethos (das Selbstverständnis), die gelebten Leitbilder von Unternehmern. Deshalb sind sie von entscheidender Bedeutung für ihre Verhaltensmuster. Werden Werte glaubhaft gelebt, sind sie nicht zuletzt eine wesentliche Grundlage für Vertrauen. Werte müssen von Führungskräften und Verantwortlichen, die zu ihrem Wort stehen, vorgelebt werden. Nur dann „haben die Mitarbeitenden Vertrauen zu ihrem Arbeitgeber“, sagt Werner Neumüller. Es muss seiner Meinung nach persönlich Verantwortliche geben. Doch wo ein gemeinsames Verständnis von gesellschaftlicher Verantwortung wirksam werden soll, müssen sich auch alle einzelnen Akteure zu ihrer persönlichen Verantwortung bekennen. Kontrollmaßnahmen sind in einem solchen Rahmen nicht notwendig, weil darauf vertraut werden kann, dass sich alle Beteiligten fair verhalten. Auf die Frage, wo er die moralischen Grundlagen für sein Handeln findet, antwortete er vor einigen Jahren: an den Zehn Geboten und am „eigenen Gewissen“ – die innere Voraussetzung für echte Wert-Arbeit. „Teilhabe verstärkt die Identifikation mit dem Unternehmen und vergrößert die Loyalität. Dies spiegelt sich letztlich in einer niedrigen Fluktuation und einer überdurchschnittlichen Zufriedenheit wider“, bestätigen auch die Herausgeber der Digitalagentur visuellverstehen.

  • Digitalagentur »visuellverstehen« (Hrsg.): Gemeinwohl von A bis Z. 26 Tipps für das Arbeiten von heute. Oekom Verlag, München 2023.

  • SDGs und kommunale Gemeinwohl-Bilanz

  • Gute Unternehmensstrategien: Welche Rolle spielt die Gemeinwohlökonomie?

  • Ganzheitliches Klimamanagement in Unternehmen

  • Werner Neumüller: Die Grenzen der Rationalität. In: Bauchgefühl im Management. Die Rolle der Intuition in Wirtschaft, Gesellschaft und Sport. Hg. von Alexandra Hildebrandt und Werner Neumüller. SpringerGabler Verlag 2021.

  • Gerald Hüther: Würde. Was uns stark macht – als Einzelne und als Gesellschaft. Mitarbeit Uli Hauser. Albrecht Knaus Verlag, München 2018.

  • Klimaneutralität in der Industrie. Aktuelle Entwicklungen – Praxisberichte – Handlungsempfehlungen. Hg. von Ulrike Böhm, Alexandra Hildebrandt, Stefanie Kästle. Springer Gabler Verlag, Heidelberg, Berlin 2023.

  • Werner Neumüller: Ehrlich weiter: Auf der Suche nach den Menschen. In: Visionäre von heute – Gestalter von morgen. Inspirationen und Impulse für Unternehmer. Hg. von Alexandra Hildebrandt und Werner Neumüller. Verlag SpringerGabler, Heidelberg, Berlin 2018.

Dr. Alexandra Hildebrandt schreibt über Wirtschaft & Management, Nachhaltigkeit, Digitalisierung, Internet & Technologie

Als Publizistin, Herausgeberin, Bloggerin und Nachhaltigkeitsexpertin widme ich mich den Kernthemen Nachhaltigkeit und Digitalisierung. Beim Verlag SpringerGabler habe ich die CSR-Bände zu Digitalisierung, Energiewirtschaft und Sportmanagement herausgegeben sowie "Klimawandel in der Wirtschaft".

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