ESG, Chancengleichheit, Kommunikation: Viele Familienunternehmen vernachlässigen dringliche Zukunftsthemen
Familienunternehmen sehen nicht nur auf Quartalszahlen, lassen Geschäftsentwicklungen Zeit, sind geprägt durch langfristiges Denken und Handeln, Anstand, Verlässlichkeit und Ehrlichkeit. Sie erweisen sich als immun gegen mögliche Moden, Beratertrends und Krisen. Der „Königsklasse des Unternehmertums“ wird in vielen Studien und Publikationen in gesellschaftlich schwierigen Zeiten sogar weniger Krisenanfälligkeit zugeschrieben. „Wichtig in unserer Unternehmensgruppe ist das Handeln nach ethischen Werten und Normen“, sagt Geschäftsführer Werner Neumüller. Grundlage dafür sei die gelebte Unternehmens-DNA („ehrlich, fleißig, nachhaltig"). Als Führungskraft und Mensch mag er kein Imponiergehabe. „Ich habe gelernt, dass ich ehrlich sein und mit Fleiß ausreichend Leistung erbringen kann. Das ist auch mein persönliches Verständnis von Nachhaltigkeit: Jeder fleißige Mensch wird versuchen, die Umwelt mit den Menschen, mit denen er lebt, zu erhalten und chancengleich zu fördern.“ Konkretes Tun ist komplizierten Überlegungen, Diskussionen und Planungen vorzuziehen. Das Anpackende und Pragmatische ist ein Kennzeichen vieler Familienunternehmen, die stolz darauf sind, bodenständig und nachhaltig gewachsen zu sein. Die Leitbilder der familiengeführten Unternehmensgruppe, zu der u.a. unter anderem die NEUMÜLLER Ingenieurbüro GmbH und die NEUMÜLLER Personalberatung Regina Neumüller e.K. gehören, ist auf die Rekrutierung von Fachkräften für Unternehmen spezialisiert, drücken „unsere Werte auf eine Weise aus, die mit unserer Vergangenheit und mit unserer Gegenwart im Einklang ist, aber auch mit der Zukunft und der Richtung, in die wir gehen.“ Werte und Ziele bilden den Kern dieses Selbstverständnisses.
Wirtschaftliches Handeln nach ethischen Prinzipien gehört zur Firmenphilosophie der meisten Familienunternehmen. Zur Generation der jungen Unternehmerinnen, die einen Familienbetrieb führt, gehört Christine Bergmair, die seit 2022 an der Umsetzung des Gesundhaus i-Tüpferl arbeitet, in dem Gesundheit und Prävention ganzheitlich und zukunftsfähig gelebt werden soll. Im August 2022 wurde sie Geschäftsführerin der Torgauer Landhandels GmbH – ein privatgeführtes Familienunternehmen, das EU-weit im Agrar- und Landhandel tätig ist. Hier begleitet sie den Wandel in die neue Zeit und möchte im Projekt i-Tüpferl beide Themen (Gesundheit und Qualität von Lebensmitteln) im Sinne des nachhaltigen Wirtschaftens zusammenbringen. Diese Beispiele belegen zugleich, dass Familienunternehmen Nachhaltigkeitsaktivitäten nicht nur als gesellschaftliche Verpflichtung sehen, sondern auch als unternehmerische Chance. Die Erwartung, durch nachhaltiges Engagement positive Entwicklungen für das eigene Unternehmen anstoßen zu können, wird auch durch die 2020 veröffentlichte Studie „Nachhaltigkeit in Familienunternehmen – Kostenfaktor, Innovationstreiber oder unternehmerische Verantwortung?“ des Wittener Instituts für Familienunternehmen (Wifu) gestützt: So weisen nachhaltig wirtschaftende Familienunternehmen einen höheren Innovationsgrad, eine höhere Arbeitgeberattraktivität und ein besseres Unternehmensimage auf.
Das belegt der elfte Global Family Business Survey „Transform to build trust“ der Wirtschaftsprüfgesellschaft PwC. Befragt wurden rund 2.000 Familienunternehmen aus 82 Ländern. 172 von ihnen stammen aus der DACH-Region, darunter 115 aus Deutschland.
Die Studie im Überblick:
Das Vertrauen, das Mitarbeitende, Konsumenten und die Öffentlichkeit Familienunternehmen entgegenbringen, erweist sich als brüchig: 95 Prozent bestätigen, dass sie auf das Vertrauen der Mitarbeitenden in besonderer Weise angewiesen sind, doch nur 49 Prozent sind sich dessen sicher.
96 Prozent der Befragten wissen, wie wichtig das Vertrauen der Kunden ist, aber nur 54 Prozent sind überzeugt, es zu besitzen.
Unternehmen sehen Handlungsbedarf und haben die Kundenzufriedenheit und die Bindung von Fachkräften zu ihren Top-Zielen erklärt. Dabei vernachlässigen sie jedoch dringliche Zukunftsthemen wie ESG, Chancengleichheit und eine transparente Kommunikation.
41 Prozent bezeichnen Kundenzufriedenheit als Top-Ziel und 23 Prozent erklären die Gewinnung sowie Bindung von Talenten als Ziel.
Dringliche Themen wie Nachhaltigkeit und soziale Verantwortung werden hingegen vernachlässigt, obwohl diese vor allem bei jungen Konsument:innen und Mitarbeitenden enorm an Bedeutung gewinnen: Nur sechs Prozent der Befragten haben das das Thema ESG (Environmental Social Governance) zur Top-Priorität erhoben und lediglich 14 Prozent verfolgen eine klare ESG-Strategie.
Die Unternehmen zurückhaltend, wenn es darum geht, zu gesellschaftlichen Themen Stellung zu beziehen: Nur 15 Prozent vertreten ihre Position öffentlich.
77 Prozent der Familienunternehmen im deutschsprachigen Raum konnten 2022 ein Wachstum verzeichnen, davon 39 Prozent sogar im zweistelligen Bereich (im globalen Durchschnitt liegt dieser Wert mit 71 Prozent spürbar niedriger). Besonders erfolgreich waren die deutschen Familienunternehmen, von denen 81 Prozent wachsen konnten.
Für die zwei kommenden Jahre rechnen nur noch 66 Prozent der Vertreter:innen aus der DACH-Region mit einem Wachstum; 33 Prozent gehen hingegen von einer Konsolidierung aus (Gefahr einer globalen Rezession).
In den kommenden zwei Jahren wird vor allem auf den Ausbau der digitalen Fähigkeiten gesetzt (für 62 Prozent als Top-Priorität bezeichnet). Der Nachholbedarf von Familienunternehmen im deutschsprachigen Raum ist hier immer noch hoch (in Deutschland bescheinigen sich sogar nur 40 Prozent selbst starke digitale Fähigkeiten).
Anlass dieser Studie war, dass die meisten Familienunternehmen für das Jahr 2025 erstmals unter die Offenlegungspflicht für ESG-Kennzahlen fallen, wie sie in der europäischen Corporate Sustainability Reporting Directive (CSRD) und den European Sustainability Reporting Standards (ESRS) ausgearbeitet ist. Am 9. Juni 2023 veröffentlichte die Europäische Kommission den Entwurf des delegierten Rechtsakts für den ersten Satz der ESRS und schuf damit die Grundlage für ein einheitliches standardisiertes Berichtsrahmenwerk. Etwa 15.000 Mittelständler und Familienunternehmen in Deutschland sind betroffen. Es müssen auch all jene Großunternehmen berichten, die nicht „von öffentlichem Interesse“ sind und damit bislang nicht der nicht-finanziellen Berichtspflicht unterliegen. Als bilanzrechtlich große Unternehmen gelten nach europäischem Verständnis Unternehmen mit über 250 Mitarbeitenden und/oder mehr als 40 Mio. EUR Umsatz und/oder 20 Mio. EUR Bilanzsumme. Die Zahl der von einer Berichtspflicht betroffenen Unternehmen steigt mit Einführung der CSRD in Deutschland von ca. 500 Unternehmen auf etwa 15.000. Für Unternehmen mit weniger als 750 Mitarbeitenden wurden die Anforderungen zum Einstieg erleichtert.
Sie haben beispielsweise noch keine (erweiterten) Datenerfassungssysteme. Vor einem Reporting müssen sie Nachhaltigkeitsthemen in Bezug auf die Risiken und Chancen für die eigene Geschäftstätigkeit sowie hinsichtlich ihrer Auswirkungen („Impact“) auf Menschen und Umwelt bewerten. Zudem ist es erforderlich, dass sie ihre Wertschöpfung gemäß Taxonomie-Vorgaben einordnen und ihre ESG-Daten valide erfassen können. Die CSRD schreibt nicht nur das Reporting vor, sondern möchte auch eine strategische Ausrichtung des Unternehmens auf Basis von Managementansätzen sehen. Das erfordert eine Auseinandersetzung aller relevanten Geschäftsbereiche und -tätigkeiten mit Nachhaltigkeit. In vielen Familienunternehmen gibt es jedoch noch keine koordinierende Steuerung. Sie befassen sich derzeit erstmals aufgrund der neuen Regularien mit der Konzeption und Umsetzung eines Nachhaltigkeitsberichtes. Anstatt Nachhaltigkeit an eine bereichsübergreifende steuernde Funktion anzubinden, wird es bei einigen ans Marketing delegiert, wo es den Verantwortlichen an Fachwissen und Verständnis für dieses Thema fehlt. Das führt dazu, dass auch mehr Greenwashing betrieben wird. Allerdings wird zu den Nachhaltigkeitsaussagen im Marketing 2024 von der EU ebenfalls eine Schärfung der Vorgaben über die „Green Claims“ „Green Claims“ oder „Eco-Claims“ Richtlinie erfolgen. Neue Kriterien sollen Unternehmen davon abhalten, irreführende Aussagen zu verwenden.
Die Anbindung der Nachhaltigkeitsthemen ans Marketing trägt ferner dazu bei, dass Zielstellungen, Steuerungsgrößen des Unternehmens, Bewertungen von Auswirkungen und Unternehmensrisiken ausgeblendet anstatt prüffest dokumentiert werden. Auch wenn sich die Geschäftsführung z.B. in Kundenmagazinen auf der Unternehmenswebsite ausdrücklich zum Thema Nachhaltigkeit bekennt („Wir arbeiten schon immer nachhaltig arbeiten.“ oder „Das Thema in unserer DNA.“), so ist das noch keine Garantie dafür, dass dieser komplexe Themen- und Aufgabenwelt richtig bearbeitet wird.
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Brun-Hagen Hennerkes, Rainer Kirchdörfer: Die Familie und ihr Unternehmen. Strategie, Liquidität, Kontrolle. Campus Verlag, Frankfurt a.M., New York 2016.
Klimaneutralität in der Industrie. Aktuelle Entwicklungen – Praxisberichte – Handlungsempfehlungen. Hg. von Ulrike Böhm, Alexandra Hildebrandt, Stefanie Kästle. Springer Gabler Verlag, Heidelberg, Berlin 2023.
Visionäre von heute – Gestalter von morgen. Inspirationen und Impulse für Unternehmer. Hg. von Alexandra Hildebrandt und Werner Neumüller. Verlag SpringerGabler, Heidelberg, Berlin 2018.