Existenzängste überwinden
Wo beobachten Sie existenzielle Ängste aktuell?
Insbesondere in der Automobilindustrie und bei deren Zulieferern wächst die Angst vor Arbeitsplatzverlust.
Doch tatsächlich trifft es auch andere Branchen. Meistens da, wo der wirtschaftliche Druck kombiniert ist mit disruptiven Marktveränderungen bzw. rasanten technologischen Entwicklungen. Zur wirtschaftlich kritischen Situation der Unternehmen kommt die individuelle Angst, mit den Entwicklungen nicht Schritt halten zu können und nicht ausreichend qualifiziert zu sein, um im Job auch künftig sicher zu sein.
Was sind Ihrer Meinung nach die Hauptursachen für die Unsicherheiten in Branchen wie der Autoindustrie, und wie unterscheiden sich diese von anderen Sektoren?
Der schnelle, disruptive Wandel hin zur Elektromobilität und dem wachsenden Einsatz von Technologie und Software, der massive strukturelle Veränderungen mit sich bringt.
Es werden völlig neue, sehr spezifische Qualifikationen gebraucht – da reicht eine Fortbildung nicht mehr aus.
Der Druck wird verstärkt durch den starken internationalen Wettbewerb (China!) und die hohe Abhängigkeit von globalen Lieferketten.
Einzelhandel, Schwerindustrie, Baubranche oder Gesundheitswesen stehen auch unter Druck, aber die genannten drei Punkte – und vor allem in ihrer Kombination – schlagen da nicht so sehr zu Buche.
Welche positiven Entwicklungen oder Chancen sehen Sie für Branchen wie die Autoindustrie, trotz der aktuellen Unsicherheiten und Umwälzungen?
Bekanntermaßen entstehen in Zeiten von Krisen und Umbrüchen die größten Innovationsmöglichkeiten. Das sehe ich im Kleinen übrigens auch bei meinen Klienten, die häufig in meine Beratung kommen, weil sie gekündigt wurden und nicht weiterwissen. Aus dieser zunächst zutiefst erschütternden Situation wachsen oft völlig neue Möglichkeiten – einfach, weil man dazu gezwungen ist.
So denke ich zum Beispiel auch, dass die Autoindustrie über ganz neue Möglichkeiten nachdenkt, wie Dienstleistungen und digitale Services rund um das Auto. Es können neue Geschäftsmodelle entstehen.
Außerdem glaube ich, dass deutsche Unternehmen international gute Chancen beim Thema Klimaschutz und Nachhaltigkeit haben. Sie haben das Potenzial, durch Qualität und Umweltstandards weltweit zu punkten, wenn sie die Transformation erfolgreich hinbekommen.
Die neuen Technologien eröffnen zusätzlich nicht nur neue Marktchancen, sondern ja auch neue Jobs und Arbeitsplätze.
Inwieweit trägt der aktuelle gesellschaftliche Diskurs über Wirtschaftskrisen, Inflation und Stellenabbau dazu bei, existenzielle Ängste zu verstärken?
Massiv! Dazu tragen zum einen die Medien bei – denn ja, that’s business – sie legen den Fokus häufig etwas einseitig eher auf die negativen, dramatischen Aspekte. Wenn Menschen wiederholt negative Nachrichten hören – über Entlassungen, Unternehmenspleiten, Stellenabbau, Inflation, Krieg, wächst die Unsicherheit, selbst bei Menschen, die nicht direkt betroffen sind. Aber wer weiß… könnte ja im schlimmsten Fall auch einem selbst passieren…
Zum anderen wirkt es sich ähnlich aus, wenn man sich in einem Umfeld bewegt, das ständig über derartige Sorgen spricht oder auch direkt betroffen ist. Das färbt einfach unwillkürlich ab.
Inflation – die spürt jeder im eigenen Geldbeutel, tagtäglich. Wenn Menschen sich durch die Preissteigerungen massiv einschränken müssen, steigt die Sorge, wie lange das Geld reicht und was wäre, wenn man den Job verlöre.
Hinzu kommen Kriege, das Thema Altersvorsorge, politische Unsicherheit, die das Vertrauen der Menschen mindert.
Was sind Ihrer Erfahrung nach die häufigsten Missverständnisse über Existenzängste, die viele Menschen – auch Führungskräfte – haben?
Existenzängste treffen nur Menschen mit geringem Einkommen und wenig Rücklagen. Das scheint für die meisten logisch nachvollziehbar.
Doch Angst ist meist nicht logisch und rational. Sie basiert nicht auf Tatsachen, sondern auf Annahmen aus der Vergangenheit und Zukunftsprojektionen. Leider malt sich unser Verstand gerne die negativsten Szenarien aus.
Existenzangst bezieht sich nicht nur auf die pure wortwörtliche Bedrohung der Existenz im Sinne von Dach über dem Kopf und etwas zu essen, sondern auch um die Bedrohung des aktuellen Status. Das ist zum einen materiell gemeint, denn wer viel verdient, hat in der Regel auch hohe Verpflichtungen. Zum anderen betreffen Existenzängste aber auch Themen wie Selbstwertgefühl, Ansehen, soziale Zugehörigkeit und Kontrolle über das eigene Leben.
Ich habe in meiner Klientel nicht selten Menschen, die sich rein objektiv ums Geld keine Sorgen machen müssen und deren Existenzangst eher eine Art Versagensangst ist. Und das ist keinesfalls „weniger schlimm“ (weil die ja zumindest nicht hungern müssen ;-)), denn wer als erfolgreich gilt empfindet in dieser Situation häufig Scham und traut sich nicht, darüber zu sprechen oder sich gar Hilfe zu holen.
Warum erleben auch hochqualifizierte Fach- und Führungskräfte in Konzernen existenzielle Ängste, obwohl sie vermeintlich sichere Arbeitsplätze haben?
Ich teile die Einschätzung nicht, dass Arbeitsplätze in Konzernen sicher sind. Ich erlebe in meiner Arbeit tagtäglich anderes.
Häufig sind es gerade diese Personen, die von Umstrukturierungen und Sparmaßnahmen betroffen sind, weil sie halt auch viel verdienen und sich mit ihrer Entlassung auch schnell viel wegsparen lässt.
Außerdem ist der Ergebnisdruck auf Führungskräfte oft so hoch, dass bei ausbleibendem Erfolg die Angst, dafür verantwortlich gemacht und ggf. entlassen zu werden, groß ist.
Und: Viele Führungskräfte identifizieren sich stark mit dem Job. Bei Kündigung ist dies nicht nur der Verlust von Status und Anerkennung, sondern auch der Verlust eines riesigen Teils der eigenen Identität.
Wie unterscheiden sich existenzielle Ängste in Konzernen, die von Stellenabbau oder Fusionen betroffen sind, von anderen Branchen?
Meiner Erfahrung nach sind Entscheidungsprozesse in Konzernen – egal ob Stellenabbau oder nicht – lang und intransparent. Außerdem müssen bestimmte Kommunikationswege und -abläufe eingehalten werden. Das führt dazu, dass Mitarbeitende oft erst spät erfahren, ob sie von einer Umstrukturierung o.ä. betroffen sind. Das heißt, man weiß, dass da was kommt, aber nicht, ob man selbst dabei ist. Diese Unklarheit wirkt sich natürlich enorm auf Unsicherheit und Angst aus.
In kleineren Unternehmen spielen persönliche Beziehungen eine größere Rolle. Oft hat man direkten Kontakt zum Geschäftsführer. In Konzernen hingegen fühlt sich der Einzelne eher anonym und austauschbar. Oft ist das Wohl und Wehe der Mitarbeitenden von globalen Entscheidungen abhängig, bei denen es wirklich nur um Zahlen geht.
Bei Fusionen kommt häufig noch eine Art interner Wettbewerb dazu. Vielleicht werden aus zwei Bereichen einer und es kann nur eine Führungskraft bleiben.
Wie beeinflussen globale Konzernumstrukturierungen und Standortschließungen die emotionale Sicherheit der Mitarbeitenden?
Sehr stark, auch wenn sie selbst nicht betroffen sind. Ich sehe immer wieder, dass von den verbleibenden Mitarbeitenden fast so etwas wie Dankbarkeit erwartet wird, dass sie bleiben „dürfen“. Und dass sie jetzt so richtig Gas geben. Häufig müssen sie zusätzliche Aufgaben übernehmen, um die Lücken durch den Stellenabbau zu füllen. Dabei haben sie Angst, die nächsten zu sein.
Denn das führt zu einem fundamentalen Vertrauensverlust. Viele erleben eine Diskrepanz zwischen dem, was von der Firma versprochen wurde und der Realität.
Leider werden da auch in der Vorgehensweise und in der Kommunikation oft grobe Fehler gemacht und nicht nur die direkt Betroffenen empfinden das als ungerecht und despektierlich. Oft bleiben die ehemaligen Kollegen betroffen, enttäuscht und der Firma gegenüber verächtlich zurück.
Wie beeinflussen existenzielle Ängste die Bereitschaft, Führungsverantwortung zu übernehmen?
Puh, da kann ich nur mutmaßen…
Eine Führungsrolle bedeutet mehr Verantwortung für Ergebnisse und (Fehl-) Entscheidungen, mehr Druck, größere Exponiertheit. Das heißt im Fall eines Versagens schlimmere Folgen im Sinne von „schneller auf der Abschussliste“ und dann Statusverlust. Das Risiko einer Führungsposition erscheint vielen höher.
Wer diese Angst hat, wird Führung eher meiden und lieber sozusagen unauffällig im Strom mitschwimmen.
Existenzielle Ängste können zu Selbstzweifeln und dazu führen, dass Menschen Angst haben, nicht gut genug zu sein und sich zu überfordern. Da bleiben sie lieber in der zweiten Reihe.
Welche Strategien haben sich bewährt, um trotz existenzieller Unsicherheiten im Konzern weiter Karriere zu machen?
Die Beziehungen zu Schlüsselpersonen und Kollegen auf-, ausbauen und stärken.
Weiterentwicklung und Weiterbildung in neuen Bereichen, Fähigkeiten, Kenntnissen, um den künftigen Anforderungen weiter gerecht zu werden und seinen Wert für den Arbeitgeber zu erhöhen, aber auch das eigene Selbstbewusstsein zu stärken.
Lösungsorientiert an Themen und Herausforderungen herangehen, statt Probleme zu betonen.
Flexibel für neue Aufgaben, Projekte, Verantwortlichkeiten und Standorte sein.
Unterstützung und Austausch suchen – durch Mentoren, Brancheninsider, einem Coach.
Wie können Führungskräfte in Konzernen ihre eigenen existenziellen Ängste bewältigen, um ihre Teams souverän durch unsichere Zeiten zu führen?
Ich empfehle dringend, bei den eigenen Ängsten anzufangen.
Selbstfürsorge ist ein Schlüssel, um den eigenen Stresspegel zu regulieren. Das funktioniert gut über den Körper, z.B. mit regelmäßigem Sport oder Meditation.
Austausch mit unterstützenden Personen, die die Situation vielleicht aus eigener Erfahrung kennen, aber auf jeden Fall einschätzen können. Das hilft beim Relativieren und Erkennen neuer Perspektiven und Handlungsoptionen.
Fokus auf die Dinge, die man selbst im Griff hat, um das Gefühl der Kontrollierbarkeit zu behalten.
Dem Team gegenüber Transparenz und Empathie. Diese offene Kommunikation erfordert jedoch, dass man in sich selbst gestärkt ist.
Wie kann eine Führungskraft Mitarbeitenden helfen, mit Existenzängsten in unsicheren Zeiten umzugehen, z. B. bei Entlassungswellen?
Klare, offene und ehrliche Information über die Situation.
Zuhören und Ängste ernst nehmen. Verständnis zeigen, auch für individuelle Sorgen.
Bei der Entwicklung von Lösungen helfen. Zum Beispiel in Form von Weiterbildung, Anbieten eines Coachings oder von Beratung.
Positive Zukunftsaussicht. Ich finde es wichtig, dass die Mitarbeitenden Hoffnung schöpfen können. Natürlich muss die Vision immer der Realität bzw. der Wahrheit entsprechen.
Wie können Mitarbeitende in einem Konzern frühzeitig Signale erkennen, die auf potenzielle Risiken wie Stellenabbau oder Umstrukturierungen hindeuten?
Wirtschaftliche Faktoren, wie Umsatzrückgang oder Budgetkürzungen, sinkender Aktienkurs, Probleme in der Branche oder beim Wettbewerb.
Eine neue Führungsspitze läutet oft einen Strategiewechsel ein. Es werden neue Prioritäten gesetzt, Budgets gekürzt oder verlagert, Tätigkeiten extern vergeben.
Veränderungen in der Kommunikation, z.B. plötzlich vagere Aussagen, ungewöhnlich verzögerte Entscheidungen, ungewohnte Verschwiegenheit auf der Führungsebene.
Erste personelle Maßnahmen wie Einstellungsstopp.
Wie können Betroffene den Übergang von irrationalen Ängsten hin zu einer rationalen Sichtweise auf ihre finanzielle Situation schaffen?
Das erste ist ein Faktencheck. Man sollte sich unbedingt einen klaren Überblick über seine Finanzen verschaffen: Einnahmen, Ausgaben und Rücklagen. Allein das wirkt oft schon beruhigend, weil man erkennt, dass man entweder Kosten einsparen kann oder tatsächlich gar nicht so wahnsinnig viel Geld braucht.
Die Angst und ihre Ursache hinterfragen. Was konkret macht Angst? Der mögliche finanzielle Verlust? Der Verlust von Zugehörigkeit? Das Gefühl, versagt zu haben?
Wenn die konkrete Angst klar ist, kann man sich fragen, wie berechtigt sie ist und wie wahrscheinlich der Fall, dass es so kommen wird. Und: Welche Gegenmaßnahmen man entwickeln kann, die zum einen verhindern, dass es so weit kommt und zum anderen einen Plan B darstellen, falls es tatsächlich so weit kommt.
Fokus auf kleine Schritte, die man selbst kontrollieren kann, wie zum Beispiel der Ausbau des Netzwerks. Untätigkeit ist Gift bei Angst.
Glauben Sie, dass existenzielle Ängste bei Führungskräften und Arbeitnehmer*innen in Krisenzeiten wie aktuell auch eine Chance sein können, um kreative Lösungen zu entwickeln?
Wie oben schon in meiner 3. Antwort in Bezug auf Unternehmen, denke ich grundsätzlich, dass Krisen Umbrüche bedeuten, das heißt ein Bruch mit dem Bisherigen. Und das birgt die Möglichkeit, etwas ganz Neues anzufangen.
Der Druck bringt Menschen dazu, neue, kreative Lösungen zu finden und das auch außerhalb der bequemen Komfortzone. Sie sind mehr oder weniger dazu gezwungen. Und so macht man sich halt sozusagen auch die Mühe, mal Dinge anzuschauen, die es einem vorher nicht wert waren. Oder man macht Kontakte, für die man sich vorher keine Zeit genommen hat.
Allerdings setzt das eine positive Einstellung voraus und die Bereitschaft, sich weiterzuentwickeln und zu wachsen.
Was sind Ihrer Meinung nach die langfristigen Folgen, wenn existenzielle Ängste nicht adressiert und behandelt werden – sowohl auf individueller als auch auf gesellschaftlicher Ebene?
Diese Ängste können massiven Dauerstress bedeuten. Und chronischer Stress führt zu Burnout und Depressionen, beeinträchtigt Beziehungen und natürlich auch die Leistungsfähigkeit und damit den Output.
Damit sind wir bei Wirtschaft und Gesellschaft. Die Leistungsfähigkeit geht zurück.
Und nicht nur das. Existenzielle Ängste führen zu Vermeidungstaktiken und Stillstand. Risiko- und Veränderungsbereitschaft und damit Innovationskraft und Wachstum leiden.
Wie können Existenzängste die Karriereentscheidung beeinflussen, in einen Konzern einzutreten oder dort zu bleiben?
Wahrscheinlich in zweierlei Richtungen.
Das Bild eines Konzerns ist oft das eines anonymen, unpersönlichen Apparates, in dem der einzelne keine Rolle spielt. Wer unter Existenzängsten leidet, könnte denken, er käme als „Nummer“ in einem Konzern leichter unter die Räder, weil man leichter auf ihn verzichten könnte.
Ich nehme aber an, dass der größere Teil einen Konzern wahrscheinlich als die sicherere Option sieht – groß, stabile Strukturen, nicht so einfach vom Markt zu wischen – daher sicherer als ein kleineres Unternehmen.
Welche spezifischen Techniken oder Ansätze empfehlen Sie Menschen, die gerade mit realen finanziellen Problemen kämpfen?
Auch hier gilt: Ehrliche und vollständige Bestandsaufnahme über die eigenen Finanzen: Einnahmen, Ausgaben, Schulden, Vermögen.
Alle unnötigen Ausgaben reduzieren bzw. eliminieren und klar werden, welche Fixkosten monatlich anfallen und gedeckt werden müssen.
Ggf. mit den Parteien sprechen, die Geld von einem bekommen, wie z.B. Gläubiger und Vermieter. Oft lassen sich in einer vorübergehend entstandenen Notsituation Aufschübe oder Ratenzahlung vereinbaren.
Zusätzliches Einkommen generieren. Ggf. Dinge verkaufen, einen Nebenjob annehmen oder als Freelancer arbeiten.
Und am besten mit einem Schuldnerberater oder einem Finanzcoach sprechen.
Wichtig ist auch, sich um das eigene mentale Wohlergehen zu kümmern und sich mental zu stärken, z.B. durch Meditation.
Wie wichtig ist ein finanzielles Polster für die mentale Gesundheit, und wie können Betroffene ein solches aufbauen, wenn die Ressourcen knapp sind?
Ein finanzielles Polster beruhigt natürlich. Daher hilft es auf jeden Fall dabei, mental stabil zu bleiben.
Eine gute Möglichkeit ist, jeden Monat einen prozentualen Anteil des Einkommens auf ein anderes Konto zu überweisen, so dass man zum Beispiel immer 10 % davon spart – egal wie hoch die Summe ist, 10 % sind immer möglich.
Unnötige Ausgaben eliminieren, vor allem haben wir oft Abos oder Mitgliedschaften, die wir gar nicht (mehr) nutzen. Das sind gute Streichkandidaten.
Und auch hier: Zusätzliches Einkommen generieren – wie oben schon genannt.
_________________
Dieses Interview wurde im Business Insider 2024 erstveröffentlicht.