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Fahr Rad! Wie Verkehrskonzepte der Zukunft in die Gänge kommen

Tragende Energie

Es geht heute um Aufbruch, ums Entdecken und den Wunsch nach Unabhängigkeit und Ungebundenheit, der seinen Ausdruck auch in der Do-it-yourself-Bewegung, der Liebe zum Handwerk oder dem Urban Gardening findet. Die moderne Sehnsucht nach Freiheit verdankt sich einer Komplexität, die den Einzelnen immer mehr vereinnahmt und dazu führt, dass er sich von sich selbst löst und fremdbestimmt ist: von den Medien, der Technik und der Welt des Konsums. Inmitten dieser Unüberschaubarkeit von Möglichkeiten suchen Menschen nach etwas, das sie im buchstäblichen Sinn „selbst“ bewegt, das mit dem Spüren ihres Körpers verbunden ist und der Freude am Ursprünglichen.

Im Fahrrad sammelt sich das Symbolische, Wirkliche und Mögliche. Die Einheit von Mensch und Fahrzeug sieht der Philosoph Peter Sloterdijk schon bei Plato vorgebildet und in allen Kulturen, die das Rad, den Wagen oder das Reiten entdeckt und das kentaurische Motiv entwickelt haben: Der Mensch mit seiner kleinen Kraft bewegt sich auf einer tragenden größeren Energie. Wer sie nutzt und sich auf den Weg macht, verändert sich - genauso wie seine Wahrnehmung und sein Denken. Diese Verbindung von innen und außen fördert zugleich die Kultur der Achtsamkeit („mindfulness“), die nicht sofort alles Geschaute in den Kategorien des bereits Bekannten und Gewussten ablegt. Vielmehr ist sie mit einem ständigen Lernprozess in einer Umgebung verbunden, die in ständiger Veränderung begriffen ist. Dabei sind die Gänge des Fahrrads sind auch mit Gedanken-Gängen eng verzahnt.

Verkehrskonzepte der Zukunft

Viele der lebenswertesten Städte der Welt sind inzwischen Fahrradstädte. Ihre Bewohner und Entscheider haben erkannt, dass die zunehmende Mobilität des Menschen künftig umweltfreundlicher, effizienter und intelligenter sein muss, denn die steigende Bevölkerung in den größten Ballungszentren sowie der zunehmende Verkehr führen zur Verkehrslähmung. Allein in den 30 größten Metropolregionen der Welt summieren sich die volkswirtschaftlichen Kosten, die durch Verkehrsprobleme entstehen, auf mehr als 266 Mrd. US-Dollar pro Jahr. Die Verkehrskonzepte der Zukunft stehen unter dem Motto „Teile und kombiniere!“. Sie sind „multimodal“, bestehen nicht aus einer Einzellösung, sondern aus einem Ideen-Mix in einem ganzheitlichen Konzept.

Besitz hat dabei einen viel geringeren Stellenwert als früher. Was heute zählt, sind Zugang, Nutzung und Dienstleistung. So entwickelt sich beispielsweise das Lastenrad vor allem in Großstädten zu einer kostengünstigen und sauberen Alternative zum Auto, das immer weniger an Bedeutung gewinnt. Künftig werden sich Menschen möglicherweise von zu Hause zum Bus, vom Bus in die Bahn und mit dem Fahrrad zum Arbeitsplatz bewegen. Zu den Begriffen, die mit dem neuen Mobilitätsgefühl assoziiert werden, gehören Funktionalität, Unabhängigkeit, Dynamik, und Selbstverwirklichung.

So wie unsere Lebensbereiche zunehmend nach persönlichen Vorlieben gestaltet werden, erleben wir auch eine neue Blütezeit für Maßfahrräder. Das Besondere ist ihre Bauart, die es zuweilen so teuer werden lässt wie einen Kleinwagen. So bestellte Wladimir Klitschko im Sommer 2013 das Individualmodell von Corratec, ein maßgefertigtes Mountainbike, dessen Karbonrahmen kaum mehr wiegt als ein Profirennrad. Entworfen und hergestellt wurde es von Mauro Sannino, der seit vielen Jahren für den Fahrradproduzenten in Raubling bei Rosenheim arbeitet. Zwischen 150 und 200 Sannino-Rad-Bestellungen nimmt Corratec jährlich entgegen. Die urbanen Individualisten werden „vermessen“, nach ihrem Fahrradverhalten befragt und erhalten zwei Monate später ihr Fahrrad, das bis zu 10.000 Euro kostet - auf Wunsch auch mit Signatur.

In den vergangenen Jahren ist die Zahl der Radfahrer deutlich angestiegen. Millionen Deutsche nutzen mehrmals pro Woche das Fahrrad – sie machen zwölf Prozent des Verkehrs aus. Würden deutsche Bundesbürger doppelt so viele Kilometer mit dem Fahrrad oder zu Fuß zurücklegen wie bisher, könnten fünf bis sechs Millionen Tonnen CO2 zusätzlich im Jahr eingespart werden. (Quelle: Bundesumweltministerium). Neben dem klassischen Rad werden die Pedelecs, die den Radfahrer mit einem Elektromotor unterstützen, immer beliebter. Mit regenerativem Strom betrieben, fahren sie leise, bequem und schadstofffrei in jene Regionen, in die kein takt- und spurgeführter öffentlicher Verkehr mehr kommt. Das elektrisch betriebene Fahrzeug ordnet sich durch die systembedingt begrenzte Reichweite in das Gesamtangebot ein. Der Motor schaltet sich nur ein, wenn der Fahrer auch in die Pedale tritt. Der Allgemeine Deutsche Fahrrad-Club (ADFC) forcierte schon vor Jahren die Verkehrswende hin zum Fahrrad und sieht E-Bikes als passendes Mittel in diesem Vernetzungsprozess an.

Vom Fahrradboom profitieren auch Unternehmen

Hartmut Ortlieb war Anfang der achtziger Jahre in Irland mit dem Rad unterwegs. Es regnete in Strömen, und die Innenbeschichtung seiner Nylon-Radtaschen war der Situation nicht gewachsen. "Warum gibt es keine wasserdichten Radtaschen", fragte er sich. Die Ware in Lastkraftwagen wird ja auch nicht nass. Und so nähte er auf der Nähmaschine seiner Mutter sein erstes Paar Satteltaschen aus Lkw-Plane. Kletterfreunde aus Franken erfuhren davon und meldeten ebenfalls Bedarf an. 1982 begann er in Nürnberg mit einer Kleinserie. Die Firma Ortlieb entstand. "Unsere Fahrradtaschen sind für jene gemacht, die gute Handarbeit billigen Massenprodukten vorziehen", heißt es im ersten Ortlieb-Prospekt von 1982. Anfangs arbeitete Hartmut Ortlieb noch mit richtigen Nähten, die von innen abgeklebt werden mussten, damit kein Wasser eindringt. Doch schon seit langem werden die Nähte nur noch verschweißt. Das Prinzip wasserdicht ist bis heute geblieben - verändert hat sich das Befestigungssystem. Die Radtaschen der neuesten Generation "Plus" lassen sich ganz ohne Werkzeug auf den Gepäckträger eines Rades anpassen.

Produziert wird nach wie vor in Deutschland, der Firmensitz liegt in Heilsbronn, knapp 30 Kilometer entfernt von Nürnberg. Auch in den USA ist Ortlieb mittlerweile vertreten. Das Unternehmen erhält heute Taschen zur Reparatur, die bis 25 Jahre alt sind. Einige davon hätte Ortlieb gern im eigenen Archiv, denn vor allem bei den Modellen aus den achtziger Jahren gibt es noch einige Lücken. Kunden wird ein kostenloser Tausch gegen neue Taschen angeboten, aber viele möchten sich nicht von den alten Produkten trennen, weil sie viele Erinnerungen damit verbinden. Die alten Räder sind längst gegen neue getauscht - aber die Radtaschen möchten die Kunden behalten. So rüstet das Unternehmen alte Taschen mit dem modernsten Haltesystem des Unternehmens nach, damit sie problemlos an moderne Gepäckträger passen.

Wie Unternehmen das Rad und sich selbst neu erfinden

War das Auto früher ein konkurrenzloses Objekt der Begierde und der Führerschein ein Initiationsritus vieler Generationen, so ist das einstige Statusdenken heute nicht mehr zeitgemäß. Das bestätigt auch Dr. Dražen Mario Odak von der Stephan Unternehmens- und Personalberatung GmbH: „Es ist für einen Personalberater im Finanzbereich sehr irritierend, wenn man in einem hochdotierten Managervertrag zum ersten Mal den Passus ‚Dienstfahrrad‘ liest - dort, wo sonst detailverliebt eine Dienst- oder Firmenwagen-Regelung beschrieben wird. Dem ersten Schmunzeln folgt ein Nachdenken. Warum will der Jungmanager mit sechsstelligem Jahresgehalt keinen Pkw, sondern ein Fahrrad? Ist es etwa ein Ausländer mit anderen Sitten, ein Exot ohne Führerschein, ein Öko? Nein. Er ist einfach ein Fahrradfahrer, der das Rad als Dienstfahrzeug in Banken ‚neu erfunden‘ hat.“ Bei weiterem Nachdenken scheint es dem Personalexperten so, dass Fahrradfahrer jedes Mal aufs Neue das Rad für sich selbst und damit sich neu erfinden: „Ein Kleinkind, das zum ersten Mal auf dem Fahrrad sitzt, erfindet sich als ‚Jetzt bist du schon ganz groß‘ ebenso neu wie der Mittvierziger, der sich ein Trekkingrad zulegt, um seine Cholesterinwerte zu verbessern oder der urbane DINK, der neue Werte, Düfte und Sinn findet, wenn er oder sie am Wochenende durchs Grüne radelt.“

Wie sich einzelne Unternehmen auf das Thema eingestellt haben, zeigen auch die folgenden Beispiele: Die memo AG sitzt am Unternehmensstandort Greußenheim relativ ländlich und ist vergleichsweise schlecht mit dem öffentlichen Personennahverkehr zu erreichen. Deshalb und aufgrund der hohen Arbeitszeitflexibilität und der Vielzahl an Arbeitszeitmodellen muss ein Großteil der Mitarbeiter individuell mit dem eigenen Pkw zur Arbeit kommen. „Durch verschiedene Maßnahmen sollen die Mitarbeiter dennoch zu nachhaltiger Mobilität motiviert werden. Mitarbeiter, die zu Fuß, mit dem Rad, mit dem Bus oder mit einer Fahrgemeinschaft zur Arbeit kommen, werden über ein internes Tool erfasst, Diejenigen mit den meisten Einträgen pro Verkehrsmittel werden regelmäßig belohnt. Um Fahrgemeinschaften zur fördern, analysiert die Personalabteilung regelmäßig die Arbeitswege und unterstützt die Mitarbeiter dann bei der Koordination derartiger Gemeinschaften“, sagt Claudia Silber, die hier die Unternehmenskommunikation leitet.

Seit 2013 beteiligt sich die memo AG in Greußenheim am Modell „JobRad“ der LeaseRad GmbH aus Freiburg. Mit dem innovativen Gehaltsumwandlungskonzept „Job-Rad“ können Mitarbeiter ihr Fahrrad oder E-Bike über den Arbeitgeber leasen und damit Steuern und CO2 sparen. Das Gehaltsumwandlungsmodell ist steuerlich vergleichbar mit der sogenannten 1 %-Regel bei Dienstfahrzeugen, die seit November 2012 auch für Fahrräder, Pedelecs und E-Bikes gilt. Durch diese vorteilhafte Versteuerung und günstige Firmenkonditionen ist das Rad deutlich günstiger als ein regulärer Kauf. Neben der Gesundheit der Mitarbeiter schont „JobRad“ auch die Umwelt und trägt zur Entlastung des täglichen Berufsverkehrs bei. Die Geschäftsidee von LeaseRad-Gründer und Geschäftsführer Ulrich Prediger ist in Deutschland einzigartig: Über die LeaseRad GmbH in Gundelfingen leasen Unternehmen - oder Kommunen eine Fahrradflotte. Wie beim Auto-Leasing erhält der LeaseRad-Kunde eine passgenau zugeschnittene Fahrradflotte und Rundumbetreuung. Darüber hinaus erhält er CO2-neutralen Klimaschutz, gesündere Mitarbeiter, einen steuerfreien Fuhrpark und deutlich positivere (Energie-)Bilanzen.

Seit 2017 ist das Job-Rad Leasing auch bei Häcker Küchen in Rödinghausen möglich. Bei einem Einführungsevent wurden verschiedene Modelle vorgestellt und den Mitarbeitern die Möglichkeit gegeben, sich von Profis beraten zu lassen. Bei Fragen zu Leasingkonditionen halfen Vertreter von BusinessBike Leasing weiter. Auf diese Weise unterstützt das Unternehmen sportbegeisterte Mitarbeiter und bietet ihnen die Möglichkeit, zu vergünstigten Konditionen das Wunschfahrrad zu leasen und so die Gesundheit zu verbessern. Seit der Einführung von Business-Bike haben sich etwa 250 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter entschieden, ein Fahrrad zu leasen. Davon sind 220 E-Bikes (Stand: Dezember 2019). Diese Entwicklung wird hier auch vom Betriebsrat begleitet, der dazu ermutigt, diese Möglichkeiten wahrzunehmen und sich mit dem Thema Radleasing tiefer zu beschäftigen. Bei vielen Mitarbeitern ist das Fahrrad sogar im Urlaub immer dabei. Am Urlaubsziel angekommen, wird das Auto beiseitegestellt und nur noch mit dem Rad gefahren.

Weiterführende Informationen:

Aus Tradition verantwortungsvoll. Nachhaltigkeitsbericht 2019/2020. Hg. von Häcker Küchen GmbH & Co. KG. Rödinghausen 2019.

Alexandra Hildebrandt und Claudia Silber: Mobilität und Logistik: Richtige Wege, die nicht aufs Abstellgleis führen. Amazon Media EU S.à r.l. Kindle Edition 2017.

Sebastian Herrmann: Stahl und Wolle In: Süddeutsche Zeitung (21./22.6.2014), S. 5.

Dr. Alexandra Hildebrandt schreibt über Wirtschaft & Management, Nachhaltigkeit, Digitalisierung, Internet & Technologie

Als Publizistin, Herausgeberin, Bloggerin und Nachhaltigkeitsexpertin widme ich mich den Kernthemen Nachhaltigkeit und Digitalisierung. Beim Verlag SpringerGabler habe ich die CSR-Bände zu Digitalisierung, Energiewirtschaft und Sportmanagement herausgegeben sowie "Klimawandel in der Wirtschaft".

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