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Fakten gegen Fakes: Schluss mit Halbwahrheiten

Es wird heute immer wichtiger, den eigenen Orientierungssinn zu nutzen, um Antworten zu finden, die dabei helfen, Komplexität, Unsicherheiten und Ängste auszuhalten – und zu lernen, die Wirklichkeit besser zu verstehen. Wir brauchen ein gemeinsames Verständnis von ihr, denn nur auf dessen Fundament können wir unsere Debatten austragen.

Leider entfernen wir uns immer mehr von einem gemeinsamen Verständnis von Wirklichkeit.

„Tatsachen, Meinungen, Fantasien und Ängste werden vermischt – das schadet nicht nur der Wissenschaft, sondern auch der Debattenkultur. Es dominiert oft nur noch schwarz oder weiß“, schreibt die promovierte Chemikerin und Wissenschaftsjournalistin Dr. Mai Thi Nguyen-Kim in ihrem Buch „Die kleinste gemeinsame Wirklichkeit“. Auf Grundlage neuester wissenschaftlicher Erkenntnisse zeigt sie, was wahr, was falsch und was plausibel ist. Ihre Devise: „nicht weniger streiten, nur besser.“ Vor diesem Hintergrund beschäftigen sie folgende Fragen: Hilft Schulmedizin immer besser als alternative Methoden? Warum denken und verdienen Männer und Frauen unterschiedlich? Wie politisch darf Wissenschaft sein? Sollten Drogen legalisiert werden? Sind Tierversuche vertretbar? Wie sicher sind Impfungen? Warum sind so viele klinische Studien über Arzneimittel industriefinanziert? Sind die Spielzeug- und Hobbypräferenzen nur gesellschaftliche Norm? Warum spielen Jungs häufiger Videospiele? Warum interessieren sich Mädchen und Frauen eher für Menschen als Jungen und Männer? Könnte das ein Grund dafür sein, warum Frauen häufiger soziale Berufe wählen, Männer dafür häufiger Berufe im MINT-Bereich?

Mai Thi Nguyen-Kim moderiert im WDR die Wissenssendung Quarks und produziert den mehrfach ausgezeichneten YouTube-Kanal maiLab, u. a. mit dem Grimme Online Award 2018. Im selben Jahr erhielt sie den Georg-von-Holtzbrinck-Preis für Wissenschaftsjournalismus, 2019 folgte der Hanns-Joachim-Friedrichs-Preis, 2020 die Goldene Kamera und das Bundesverdienstkreuz. In ihrem Buch möchte sie herausfinden, worauf wir uns „tatsächlich“ einigen können, wo die Fakten aufhören, wo Zahlen und wissenschaftliche Erkenntnisse noch fehlen. Der Unterschied zwischen Fake News und echter Information sowie zwischen valider Kritik und persönlichem Angriff liegt ihrer Meinung nach in der Sachlichkeit. „Ohne ein Verständnis der Tatsachen können wir diese Unterscheidungen also nicht machen. Solange wir kein gemeinsames Verständnis darüber haben, was wirklich Wirklichkeit ist, können wir auch nicht richtig streiten.“ Beim wissenschaftlichen Streit gewinnt die Aussage „mit der stärksten methodischen Evidenz, die auch sämtlichen Falsifizierungsversuchen standhält“.

Wissenschaft ist für sie nicht nur lösungsorientiert, sondern auch problem- und fehlerorientiert.

Die Qualität von Wissenschaft zeigt sich für Mai Thi Nguyen-Kim allerdings nicht nur im Sammeln von Daten und Fakten, sondern vor allem in deren Auswertung. „Zahlen sagen meist wenig aus, wenn man nicht weiß, auf welche Weise sie ermittelt wurden.“ Wissenschaftliches Denken hat für sie mit Freude an Komplexität, Differenzierungen, Details und Grautönen, aber auch mit Skepsis gegenüber zu einfachen Antworten zu tun.

Doch „Wozu auf die Wissenschaft hören?“, fragten sich einige Menschen während der Corona-Pandemie. In der Corona-Krise zeigte sich besonders auffällig, dass Fragen aus der Wissenschaft auch gesellschaftlich heftig umstritten sind. Seriöse und differenzierte Aufklärung in der medialen Berichterstattung blieb häufig auf der Strecke. Was wir erleb(t)en, war eine öffentliche Erregung, die bis zur Hysterisierung reichte. Fakten wurden je nach Sendeformat für die Öffentlichkeit verzerrt oder verkürzt wiedergegeben und wissenschaftliche Differenzierungen weggelassen. Daraus ergab sich zuweilen eine Schieflage der Realität rund um das virale Geschehen.

Umso wichtiger wurde in der Corona-Pandemie die Wissenschaftskommunikation.

Sie ist ein Beispiel dafür, wie sich mediale Inszenierung, politische Entscheidungen und Forschungsergebnisse gegenseitig beeinflussen und immer wieder zu Konflikten führen. Der Physiker Florian Aigner versteht sich als Wissenschaftserklärer. In seinem Buch „Die Schwerkraft ist kein Bauchgefühl“ widmet er sich den Unterschieden zwischen Naturgesetzen und Dogmen, Wahrscheinlichkeiten und „vorgetäuschter“ Seriosität und fragt, was Naturwissenschaften (nicht) beweisen können, wie es um die Aussagekraft von Beobachtung und Experiment steht, ob Studienergebnisse illegitim manipuliert werden können, und wann es besser ist, auf das Bauchgefühl zu hören. Er stellt Wissenschaft als dichtes Netzwerk von sich gegenseitig stützenden Fakten, Beobachtungen, Theorien und Menschen vor. Und erläutert, was wissenschaftliche Methodik ausmacht und wie Erkenntnisse aufeinander aufbauen. Sein Resümee: Wissenschaft und Bauchgefühl ergänzen sich und haben lediglich verschiedene Zuständigkeiten. Vom Bauchgefühl lässt sich lernen, dass es sich - zumindest in der Form mathematischer Intuition - sogar trainieren lässt. Dabei spielen auch analytische Fähigkeiten eine wesentliche Rolle, denn sie …

• unterscheiden Wesentliches von Unwesentlichem.

• verdichten die Informationsflut.

• bringen Sachverhalte schnell auf den Punkt

• erkennen Tendenzen und Zusammenhänge und leiten richtige Schlüsse und Strategien daraus ab.

• helfen, schnell einen Ursachen-Wirkungszusammenhang zu erkennen.

• unterstützen darin, mit Zahlen, Daten und Fakten umzugehen und diese im Blick auf ihre Auswirkung auf zukünftige Entwicklungen zuverlässig einzuschätzen, zu interpretieren und zu vermitteln.

Wie für Florian Aigner spielt auch für Mai Thi Nguyen-Kim die Verbindung von Kopf und Bauch eine wichtige Rolle: Anfang 2017 hatte sie gerade ein attraktives Jobangebot als Laborleiterin bei BASF abgelehnt, weil ihr „Bauch und Kopf in ungewohnt klarer Allianz sagten“, dass sie eine Karriere in der Wissenschaftskommunikation versuchen musste. „Die zunehmend verschwimmende Grenze zwischen Fakten und Meinungen, die Informations- und Desinformationsüberflutung in sozialen Medien und die scheinbar unerschütterliche Realitätsfeindlichkeit mancher Menschen“ waren für sie kaum auszuhalten. Sie hatte das Bedürfnis zu handeln.

Weiterführende Informationen:

Alexandra Hildebrandt: In der Seilschaft des Lebens ist unser Bauchgefühl der Bergführer

Mai Thi Nguyen-Kim: DIE KLEINSTE GEMEINSAME WIRKLICHKEIT. Wahr, falsch, plausibel? Die größten Streitfragen wissenschaftlich geprüft. Mit Illustrationen von Ivonne Schulze. Droemer Verlag. München 2021.

Florian Aigner: Die Schwerkraft ist kein Bauchgefühl. im Brandstätter-Verlag, Wien 2020.

Dr. Alexandra Hildebrandt schreibt über Wirtschaft & Management, Nachhaltigkeit, Digitalisierung, Internet & Technologie

Als Publizistin, Herausgeberin, Bloggerin und Nachhaltigkeitsexpertin widme ich mich den Kernthemen Nachhaltigkeit und Digitalisierung. Beim Verlag SpringerGabler habe ich die CSR-Bände zu Digitalisierung, Energiewirtschaft und Sportmanagement herausgegeben sowie "Klimawandel in der Wirtschaft".

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