Dr. Constanze N. Pomp

Faszination Japan: Interview mit der Volkskundlerin Dr. Constanze N. Pomp

Frau Dr. Pomp, was verbindet Sie mit und fasziniert Sie an Japan?

Zunächst bin ich auf der persönlichen Ebene, d. h. familiär mit Japan verbunden, da mein Bruder mit einer Japanerin verheiratet ist. Darüber hinaus pflege ich regelmäßigen Kontakt mit japanischen Freunden. Allgemein bringt mich die Kultur und die atemberaubende Natur Japans immer wieder zum Staunen.

Was hat Sie motiviert, die japanische Sprache zu lernen?

Meine Motivation, die japanische Sprache zu lernen, liegt gleichfalls in meiner Familie begründet. Da die Familie meiner Schwägerin weder Englisch noch Deutsch sprach, war es mir wichtig, mich mit ihnen direkt unterhalten zu können. So begann ich, vor sieben Jahren Japanisch zu lernen und absolvierte inzwischen mehrere Sprachkurse. Aktuell frischte ich meine Kenntnisse mit einem Online-Kurs beim Japanischen Kulturinstitut Köln auf, das aufgrund der Coronapandemie Sprachkurse per Zoom anbot. Alles war sehr gut organisiert und hat hervorragend geklappt.

In der japanischen Sprache spielen Onomatopöien, also Lautmalereien, eine große Rolle. Können Sie Beispiele nennen?

Von Lautmalerei machen Japaner ausgiebig Gebrauch. Es entstehen auch stetig neue Onomatopöien, die alle identisch verstanden und empfunden werden. Grundsätzlich existieren verschiedene Formen der Lautmalerei, diese basieren auf der Beschreibung von Geräuschen, der Beschaffenheit eines Objektes oder der Art und Weise einer Handlung. Weitere Formen drücken Gefühle, Eindrücke oder Bewegungen aus.

Giseigo beispielsweise imitieren tierische oder menschliche Laute. Hier zeigen sich Unterschiede zu Deutschland. Während bei uns ein Hund „WauWau“ bellt, bellt er für meine kleine Nichte im Japanischen „wanwan“.

Giongo wiederum geben Geräusche aus der Natur wieder. Japaner besitzen einen großen Wortschatz, der die verschiedenen Naturereignisse zum Ausdruck bringt. Allein für Regen gibt es mehr als fünfzig verschiedene Ausdrücke. Zāzā beschreibt einen starken Regen, kopokopo sanftes Wasserblubbern, bassha platschendes Wasser. Im Deutschen wird der Regen metaphorisch beschrieben, wie etwa „es regnet in Strömen“ oder „es regnet wie aus Kübeln“. Die Liebe zur Natur spiegelt sich in Japan in einem breiten literarischen Ausdrucksvermögen wider.

Weshalb wird deutsche Kultur und Wertarbeit in Japan besonders geschätzt?

In diesem Jahr feiern Deutschland und Japan bereits ihre 160jährige Freundschaft. Mit der Unterzeichnung des Freundschafts- und Handelsvertrags zwischen Japan und dem damaligen Preußen am 24. Januar 1861 in Edo nahm der Austausch seinen offiziellen Beginn. Vor zehn Jahren wurde – anlässlich der 150jährigen Beziehungen – unter dem Titel „Ferne Gefährten“ eine große Sonderausstellung in den Reiss-Engelhorn-Museen in Mannheim gezeigt.

Die Wertschätzung beruht u.a. auf der Rolle Deutschlands, die es für Japan auf dessen Weg ins moderne Zeitalter spielte. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, als Japan versuchte, in den Wissenschaften, wie z.B. Recht, Medizin und Naturwissenschaften oder der Musik, aber auch ökonomisch vom Westen zu lernen, kamen viele Einflüsse aus Deutschland. Diese Kulturtransfers trugen dazu bei, dass in Japan ein sehr positiv besetztes Deutschlandbild entstanden ist. Ich erlebe dies noch heute bei japanischen Freunden, bei denen Deutschland besonders in punkto technische Qualität und Verlässlichkeit der Industrieerzeugnisse sowie im Hinblick auf die Forschung einen überaus guten Ruf genießt. Japaner kaufen bei Konsumgütern gerne das deutsche Markenimage „Made in Germany“ mit, das für sie einen gewissen Luxus symbolisiert.

Seit Öffnung gegen Ende des 19. Jahrhunderts übte im Gegenzug die japanische Kultur auf viele Menschen eine große Faszination aus. Unter dem Begriff Japonismus werden die japanischen Stileinflüsse auf das abendländische Kunstempfinden bezeichnet. In Europa ist dies beispielsweise bei den Kunstrichtungen wie Impressionismus, Jugendstil und Expressionismus feststellbar. Dieses Jahr findet vom 16. bis 18. April in Berlin das Japan Art Festival statt. Die Ausstellung, in der auch Haiku präsentiert werden, zeigt traditionelle und zeitgenössische Kunstwerke aus über 160 Jahren.

Die enge Verbindung kommt auch in Lehnwörtern zum Ausdruck, die aus der deutschen Sprache übernommen wurden. Welche deutschen Lehnwörter gibt es im Japanischen?

Durch den Kulturkontakt mit anderen Nationen musste Japan notwendigerweise entweder eigene Begriffe schaffen oder die ursprünglich vorhandenen „japanisieren“. Wie bereits erläutert, bereisten viele Japaner im 19. Jahrhundert Preußen, um sich z. B. in der Medizin weiterzubilden, gleichzeitig wurden ausländische Gelehrte nach Japan geholt. Das deutsche Wissen und die Kenntnisse in der Medizin bildeten in Japan ungefähr 30 Jahre die Grundlage in Ausbildung, Forschung und Lehre. Dies führte dazu, dass deutsche Fachtermini in die japanische Sprache einflossen und übernommen wurden. Beispiele für deutsche Lehnwörter sind ope für Operation oder mesu für chirurgisches Messer.

Auch das deutsche Wort „Arbeit“ hat im Begriff arubaito seine japanische Entsprechung, was einen Minijob bezeichnet. Eine japanische Freundin zeigte mir aktuell beim Skypen begeistert Würstchen der japanischen Metzgereimarke Nipponham, die diese unter dem Label „Schau Essen“ vertreibt. Zu besonders beliebten Wörtern gehören haimāto, also Heimat, oder gemyūtorihi (Gemütlichkeit) und natürlich sind Begriffe, die mit der Weihnachtszeit einhergehen, wie Baumukūhen (Baumkuchen), shutōren (Stollen) oder Guryūwain (Glühwein) im japanischen Sprachgebrauch vertreten. Insgesamt lassen sich viele deutsche Lehnwörter im Japanischen finden.

Was bedeutet es, dass vor allem Zwischentöne die Kommunikation von Japanern bestimmen?

Die europäische Art, direkt zu kommunizieren, ist Japanern fremd und kann deshalb schnell zu Missverständnissen führen. Im Japanischen bleiben viele Dinge unausgesprochen. Es gibt den Ausdruck Kūki wo yomu; gemeint ist hier die Aufforderung, „die Luft zu lesen“, um eine Botschaft zu entschlüsseln, zu verstehen. Hier spielt die Erwartung mit, dass die Kommunikation nonverbal funktioniert und sich der Sinn aus Andeutungen bzw. aus dem Kontext erschließt. Japaner verstehen natürlich, was ihr Gesprächspartner meint, auch wenn er sich sehr indirekt ausdrückt. Diese Art der japanischen Kommunikation geht darüber hinaus, was wir in Deutschland darunter verstehen, wenn wir „Zwischen-den-Zeilen-lesen“ meinen.

Ichi wo kikeba, jū wo shiru lautet ein japanisches Sprichwort und bedeutet: eins hören, zehn verstehen. Auch hier soll zum Ausdruck kommen, dass das Gegenüber sich in die Pflicht genommen fühlt, sich Informationen, auch wenn sie nicht explizit thematisiert wurden, eigenständig zu erschließen.

Die japanische Sprache ist sehr subtil und komplex. Können Sie dies an einem Beispiel erläutern?

In der deutschen Sprache ist das Personalpronomen „Ich“ absolut und unveränderbar. Im Japanischen existieren allein für den Begriff „Ich“ mehr als 20 verschiedene Ausdrücke. Diese werden je nach konkreter Situation benutzt, d. h. hier ist der Begriff veränderbar und wird von der Sprecherin bzw. dem Sprecher dem jeweiligen Lebenskreis angepasst. In einem Gespräch lässt sich an der Verwendung des jeweiligen Begriffs für „Ich“ feststellen, in welchem sprachlichen Kontext er einzuordnen ist, bzw. welche Haltung meine jeweiligen Gesprächspartner mir gegenüber einnehmen.

Stimmt es, dass die Menschen dort das „Und“ anstelle des westlichen „Entweder/Oder“ leben?

Japan beherrscht hervorragend die Kunst des „sowohl als auch“. Damit meine ich, nichts muss sich ausschließen. Alte Traditionen und moderne Technik, äußerste Höflichkeit, J-Pop, Anime, Geishas, Automaten, flimmernde Reklametafeln stehen sich gleichberechtigt gegenüber, die Aufzählung ließe sich unendlich fortführen. Auf der einen Seite existiert eine Flut an medialen Einflüssen, auf der anderen Seite finden wir ein Schönheitsempfinden, das sich in einer unbefangenen Freude an traditionellen Künsten widerspiegelt, wie z. B. Kabuki, Nō -Theater, Teezeremonie, Kalligrafie, Origami, Ikebana. Es sind diese vermeintlichen Widersprüche, die Japan liebenswert machen und gleichzeitig inspirierend wirken. Sehr modern, aber trotzdem den Traditionen verbunden. Leise, aber dennoch schrill. In Japan kann man dieses Nebeneinander sehr gut beobachten, ohne die Gegensätze eines Entweder-Oder.

Was bedeutet Wabi-Sabi in Japan?

Wenn ich meine japanischen Freunde bitte, mir zu erklären, was sie unter Wabi-Sabi verstehen, ist dies für sie schwierig. In Japan spiegelt es sich in vielen Facetten von Alltag, Kultur und Gesellschaft wider. Das Konzept von Wabi-Sabi korrespondiert eng mit dem Zen-Buddhismus. Wabi meint das Gefühl, das mit dem Entdecken des Schönen im Schlichten einhergeht. Sabi bezieht sich auf eine tiefe stille Schönheit, die sich erst mit der Zeit offenbart. Ich würde es so definieren: Es ist eine Lebensart, wie auf die Welt geschaut und das Schöne wahrgenommen wird. Wabi-Sabi bedeutet die Wertschätzung des Unperfekten, eine Akzeptanz des Unbeständigen, und eine Zufriedenheit mit dem, was wir haben. Mit ihm verbindet sich die Botschaft: Ware tada taru o shiru. Was im übertragenen Sinn bedeutet: Reich ist, wer zufrieden ist. Hierzu gehört, sich an den kleinen Dingen des Alltags zu erfreuen, zu entschleunigen und den Moment bewusst wahrnehmen. Es soll dazu inspirieren, in allen Dingen das Gute und Schöne zu sehen. Ein bekanntes Beispiel für Wabi-Sabi ist Kintsugi.

Können Sie das näher erläutern?

Bei Kintsugi handelt es sich um eine seit dem 15. Jahrhundert bekannte Handwerksmethode, einen zerbrochenen Gegenstand wiederherzustellen. Aus dieser traditionellen Kunstfertigkeit, zerbrochene Keramik zu reparieren, lässt sich viel über die japanische Wertschätzung Dingen gegenüber ablesen. Die Besonderheit an Kintsugi liegt darin, dass die Reparatur nicht so erfolgt, dass die Bruchstellen möglichst unauffällig erscheinen. Vielmehr werden die Bruchstellen im Lack durch die Verwendung von Goldpigmenten betont, anstatt sie zu kaschieren. Dementsprechend leitet sich der Begriff Kintsugi von den Wörtern kin, Gold, und tsugi, Verbindung ab, also Goldverbindung. Die einzelnen Schritte des Wiederherstellungsprozesses erfordern große Geduld und Sorgfalt. Das reparierte Objekt symbolisiert in seiner Unperfektheit. Authentizität und zeichnet sich durch seine Schönheit im Vergänglichen aus. Durch das aufwendige Wiederherstellungsverfahren und das „Einhauchen“ neuen Lebens in einen zerbrochenen Gegenstand ist der Wert des Objekts unermesslich.

Inwiefern spiegelt sich die Anschauung des Wabi-Sabi in dem Einrichtungstrend „Japandi“ wider?

Lassen Sie mich zunächst den Begriff erklären: In Japandi, auch als Japanordic bezeichnet, verbinden sich der japanische und skandinavische Wohnstil. Dieser Einrichtungstrend kann als Ausdruck einer Geisteshaltung bezeichnet werden, der einem bestimmten Ästhetikkonzept folgt. Wir sehen hier eine Verbindung von Wabi-Sabi und Hygge. Die japanischen Elemente zeigen sich in der Verwendung von dunklen Hölzern sowie niedrigen und einfach konstruierten Möbeln, die sich durch ihre Multifunktion auszeichnen. Die skandinavischen Einflüsse basieren auf Naturmaterialien und Naturtönen.

Konkret geht es auch hier wieder um die Schönheit im Unperfekten und die Reduzierung auf das Wesentliche. Das Interieur wird bestimmt von Zeitlosigkeit und Unaufdringlichkeit. Minimalismus und Ästhetik sind die Devise, die bedeutet: Möbel beschränken sich auf wenige Unikate, Regale sind nicht überfrachtet, sondern werden nur spärlich eingeräumt. Dem Ikebana ähnlich, bilden bei diesem Einrichtungsstil Blumenarrangements einen wesentlichen Bestandteil.

Letztlich sehen wir hier auch wieder einen Kulturtransfer, der seinen Ursprung – wie bereits erläutert – im 19. Jahrhundert hat. Ebenso wie Deutschland, pflegten auch Dänemark und Japan rege Handelsbeziehungen. Noch heute importiert Japan dänische Möbel, da sich der skandinavische Möbelstil großer Beliebtheit erfreut.

Dr. Constanze N. Pomp studierte an der Johannes Gutenberg-Universität in Mainz im Magisterstudiengang das Hauptfach Kulturanthropologie/Volkskunde sowie die Nebenfächer Buchwissenschaft und Christliche Archäologie & Byzantinische Kunstgeschichte. 2014 wurde sie dort promoviert und hatte Lehraufträge am Institut für Film-, Theater- und empirische Kulturwissenschaft. Von 2017 bis 2019 absolvierte sie am TECHNOSEUM Landesmuseum für Technik und Arbeit in Mannheim ihr wissenschaftliches Volontariat. In dieser Zeit arbeitete sie unter anderem bei der Konzeption der Großen Landesausstellung Baden-Württemberg „Fertig? Los! Die Geschichte von Sport und Technik“ mit. Von 2018 bis 2019 war sie im Arbeitskreis Volontariat des Deutschen Museumsbundes (DMB) aktiv. Seit März 2019 ist sie am TECHNOSEUM in der Stabsstelle Freundeskreise und Ehrenamt für die Koordinierung der Ehrenamtlichen zuständig.

Dr. Alexandra Hildebrandt schreibt über Wirtschaft & Management, Nachhaltigkeit, Digitalisierung, Internet & Technologie

Als Publizistin, Herausgeberin, Bloggerin und Nachhaltigkeitsexpertin widme ich mich den Kernthemen Nachhaltigkeit und Digitalisierung. Beim Verlag SpringerGabler habe ich die CSR-Bände zu Digitalisierung, Energiewirtschaft und Sportmanagement herausgegeben sowie "Klimawandel in der Wirtschaft".

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