Flüchtige Zeiten: Leben in der Ungewissheit
Noch nie in der jüngeren Geschichte befanden sich so viele Menschen gleichzeitig auf der Flucht. Viele Flüchtlinge, deren Leben vom Warten geprägt ist, haben das Gefühl, gelähmt und vom Alltag abgeschnitten zu sein. Die Gegenwart schwebt zwischen dem Leben, das sie geführt haben, und dem, das sie an einem sicheren Ort zu führen hoffen.
Viele von ihnen halten es nicht aus, einfach nur zu „sein“ – sie möchte etwas tun, weil ihre Zeit nicht vergeudet werden soll. Das Motiv des Wartens findet sich in vielen Zusammenhängen im Passagen-Werk des jüdischen Philosophen und Literaturkritikers Walter Benjamin, der sich im spanischen Grenzort Portbou 1940 das Leben nahm. Seine Begleiter wurden daraufhin von den Grenzbeamten, „auf die der Selbstmord doch einigen Eindruck gemacht hatte, nach Portugal durchgelassen. Die Visumsperre wurde nach einigen Wochen wieder aufgehoben. Einen Tag früher wäre er anstandslos durchgekommen, einen Tag später hätte man in Marseille gewußt, daß man zur Zeit nicht durch Spanien konnte. Nur an diesem Tag war die Katastrophe möglich“, schreibt Hannah Arendt. Im Exil auf der Flucht vor Nazideutschland lernte Benjamin, was es bedeutet zu warten: auf Publikationen, finanzielle Unterstützung, Anerkennung und die Liebe. Sich mit ihm heute verstärkt zu beschäftigen, macht nicht nur Sinn, sondern auch sensibler im Umgang mit Flüchtlingen.
Sie sind die Fremden, die häufig nicht gewollt sind. Ihr Weg ins Ungewisse ist gefährlich und endet häufig tödlich. Das autobiographische Werk „Die Welt von Gestern. Erinnerungen eines Europäers“ (1942) des österreichischen Schriftstellers Stefan Zweig ist noch immer hochaktuell. Er beschreibt darin, wie man sich als Flüchtling ständig Forderungen des Staates unterordnen und „der stupidesten Politik zur Beute hinwerfen“ musste und mitgerissen wurde: „Wer immer durch diese Zeit ging oder vielmehr gejagt und gehetzt wurde – wir haben wenig Atempausen gekannt -, hat mehr Geschichte miterlebt als irgendeiner seiner Ahnen.“ Sätze wie diese berühren deshalb, weil uns die Stimme eines Einzelnen direkt ins Herz trifft. Gute Literatur kann dazu beitragen, eine starke „Infrastruktur“ dorthin aufzubauen. Gewiss, es fehlt heute nicht an der Infrastruktur des Helfens.
Die Art, wie wir Flüchtlinge behandeln, ist ein Spiegel unserer Kultur
Ein aufgeklärtes und gerechtes Europa ist eine Gemeinschaft, an der gearbeitet und immer wieder nachgebessert werden muss. Vor diesem Hintergrund helfen die Flüchtlinge auch uns. Sie (und uns) zu verstehen bedeutet, an ihrem Schicksal Anteil zu nehmen, für die Toten Trauer zu empfinden und sich zum Engagement für die (noch) Lebenden verpflichtet zu fühlen. Empathie, die Fähigkeit, an den Gefühlen und an den Bewegungen eines anderen Menschen teilzunehmen, ist ein entscheidender Faktor in unserer Evolution. Wird sie aus dem Blickwinkel der Empathie betrachtet, gewinnen wir eine überraschend andere Perspektive: „Die Geschichte menschlicher Entwicklung – unsere Evolution – ist dann nicht mehr auf Vorherrschaft, sondern auf Zusammenarbeit ausgerichtet zu sehen“, schreibt der Psychologe Arno Gruen in seinem Buch „Dem Leben entfremdet“. Es ist immer leichter, Mitgefühl für das Leid von Einzelnen zu empfinden als sich um große Dramen zu kümmern, die weit entfernt von uns stattfinden. Je größer die Zahl der Betroffenen wird, desto distanzierter sind wir, weil sich keine Namen und Gesichter damit verbinden lassen. Wo wir den betreffenden Menschen nicht sehen oder seine Schreie hören und nur die objektive Darstellung des Geschehens haben, reagieren wir nicht mehr emotional und fühlen uns weniger zum Handeln veranlasst. Anders ist es mit dem Ukraine-Krieg, der zwei Stunden entfernt von Deutschland stattfindet: Die Schicksale berühren, weil alles nah und greifbar ist – als würde es uns selbst betreffen.
Wo Flüchtlinge heute Halt finden
Echte Anteilnahme hat nicht nur mit emotionaler Bindung zu tun, sondern auch mit konkretem Handeln und Maßnahmen, die den Geflüchteten Beweglichkeit verschaffen. Das Fahrrad spielt dabei eine wichtige Rolle – vor allem bei Flüchtlingen, die noch in Sammelunterkünften leben oder gerade ihren eigenen Hausstand gründen und vom ÖPNV ausgeschlossen sind, weil sie sich ihn nicht leisten können und in vielen Kommunen nicht kostenfrei nutzen dürfen. Fahrradwerkstätten mit und für Flüchtlinge schaffen Beschäftigung und das Gefühl von Freiheit. Im Folgenden werden einige vorgestellt.
SocialRide ist eine soziale Fahrradwerkstatt für und mit Geflüchteten, die hier die Möglichkeit erhalten, sich selbst Mobilität zu verschaffen. Auch Fahrradprojekte werden mit Know-how und Material unterstützt. Meistens sind die Fahrräder Spenden von privaten Personen. Zusammengearbeitet wird aber auch mit Studentenwohnheimen, Wohnanlagen und anderen größeren Einrichtungen. Ersatzteile werden mit verschiedenen Fördergeldern finanziert. Nach dem Motto “Pimp My Bike” werden nur die Kosten für die Ersatzteile des Fahrrads bezahlt und zusätzlich ein Betrag, der anzeigt, wie viel einem selbst das Fahrrad bzw. die Arbeit daran wert ist – dieser Betrag fließt dann in die Finanzierung neuer Ersatzteile für Geflüchtete.
Auch der Arbeitskreis Fahrrad sammelt gespendete Fahrräder, Kinderräder und Roller, zudem auch Helme, Kindersitze, Ersatzteile und Werkzeug. Auch hier werden Räder repariert und bei Bedarf an Flüchtlinge abgegeben. Zudem werden Flüchtlinge in Workshops geschult und mit Werkzeug ausgestattet.
Der Verein zur Förderung des Patenprojektes München e.V. fördert seit 2014 gemeinsam mit der Bürgerstiftung München die Fahrrad-Workshops für Flüchtlinge der offenen Werkstatt WerkBox3. Die Teilnehmer können dort unter Anleitung eines Zweiradmechanikers ein eigenes, verkehrstüchtiges Fahrrad bauen. Menschen mit Migrationshintergrund können kostenlos an dem Projekt teilnehmen. Für die "Fahrräder für Flüchtlinge"-Aktion benötigt die WerkBox3 immer wieder Fahrräder. Wer eines spenden möchte oder sich für die Kurse interessiert, findet alle Informationen auf der Website von WerkBox3. www.werkbox3.de.
Ziel von Rückenwind – Bikes for refugees ist es ebenfalls, Flüchtlinge mobiler machen. Der gemeinnützige Verein betreibt in Berlin eine Fahrradwerkstatt, in der Menschen mit und ohne Fluchterfahrung zusammenarbeiten. Um ein gutes Ankommen und die Möglichkeit sich unabhängig in der Stadt zu bewegen zu fördern, wird Newcomern angeboten, sich hier ein Fahrrad auszusuchen und zu reparieren. Dabei werden sie vom Team unterstützt und motiviert, sich regelmäßig hier zu engagieren, falls ihnen das Instandsetzen Freude bereitet hat. Die Fahrräder, die vergeben werden, sind Teil eines Recyclingprozesses: Ein altes Rad wird vom Verein gespendet und ins eigene Lager gebracht. Das Fahrrad wird ausgewählt und mit Ersatzteilen von anderen alten Fahrrädern bestückt. Das Fahrrad wird fertig repariert und wieder durch die Stadt gefahren. Zudem wird wöchentlich für alle Berliner:innen die Selbsthilfewerkstatt geöffnet. Durch diese Arbeit fungiert das Team als Trittbrett für Menschen mit und ohne Fluchterfahrung in den Arbeitsmarkt. Durch die gemeinsamen, praktischen Erfolgserlebnisse ist eine diverse Community entstanden. In den Sommermonaten werden offene Fahrradtouren und ganzjährig Aktionen in der Gemeinschaft veranstaltet.
Hannah Arendt. Menschen in finsteren Zeiten. Hg. von Ursula Ludz. München, 2013.
Zygmunt Bauman: Flüchtige Zeiten. Leben in der Ungewissheit. Aus dem Englischen von Richard Barth. Hamburger Edition 2008.
Stefan Zweig: Die Welt von Gestern (1942). Erinnerungen eines Europäers. Severus Verlag, Hamburg 2014.
Visionäre von heute – Gestalter von morgen. Inspirationen und Impulse für Unternehmer. Hg. von Alexandra Hildebrandt und Werner Neumüller. Verlag SpringerGabler, Heidelberg, Berlin 2018.