"Fragen sind die Antwort"
Manager werden darauf gedrillt, schnell Antworten auf Probleme zu geben. MIT-Forscher Hal Gregersen rät Führungskräften, erst einmal gute Fragen zu stellen. Ein Gespräch über die richtige Methode, die beste Formulierung und die großen Lebensfragen.
Professor Gregersen, warum stellen Manager Ihrer Ansicht nach zu wenige Fragen?
GREGERSEN Das Studium, der erste Job, die Beförderung zur Führungskraft, der Aufstieg innerhalb des Managements – all diese Dinge sind davon abhängig, dass wir schnelle und einfache Antworten geben. Ich vergesse nie, was mir ein CEO sagte, der seit Kurzem im Amt war: "Genau das war mein Karriereweg. Ich wurde immer wieder befördert, weil ich wusste, wie ich schlaue, richtige Antworten geben konnte. Aber auf dem CEO-Posten gibt es keine Antworten mehr. Ich muss sie erst finden." Wenn Sie sich in einer derart unsicheren Lage befinden, dann sind Fragen die Antwort. Damit kehrt sich das Ganze um.
Aber für den Einzelnen wäre es dann ja besser, mit klugen Antworten aufzufallen, statt die Dinge zu hinterfragen. Sie sagen selbst: So wird man eher befördert.
GREGERSEN In Unternehmen, in denen das Topmanagement nicht ganz deutlich gemacht hat, dass es die Dinge besser und anders machen will, in denen dieses Selbstverständnis nicht tief in der täglichen Arbeit verankert ist, kann es tatsächlich gefährlich sein, unbequeme Fragen zu stellen. Denn dort geht es nur darum, den Status quo zu verteidigen.
Und warum ist das schlecht?
GREGERSEN Weil es zu Isolation, Blasenbildung, Hindernissen, Silodenken und allen möglichen anderen Grenzen zwischen Menschen führt. Fragen hingegen sind Einladungen zur Zusammenarbeit.
Mit meinen Kollegen Clayton Christensen und Jeff Dyer habe ich ein Jahrzehnt lang die innovativsten Unternehmen der Welt untersucht. Wenn Sie in diese Organisationen eintauchen, finden Sie ein ganz anderes Umfeld vor. Bei Pixar, Amazon, Cirque du Soleil, Patagonia oder Tesla werden Sie eingestellt, weil Sie es lieben, schwierige Probleme zu lösen. Das ist der Grund, warum Sie jeden Tag zur Arbeit gehen. Wenn Sie dann im Unternehmen ankommen, haben Sie keine Ahnung, wie die Lösung aussieht. Das ist die Definition eines schwierigen Problems. Die einzige Möglichkeit, eine innovative Antwort zu finden, ist, Fragen zu stellen, die Sie zuvor nicht gestellt haben.
Was unterscheidet gute von schlechten Fragen? Gibt es eine Regel?
GREGERSEN Die besten Fragen sind kontextspezifisch und relevant. Marc Benioff stellte vor 20 Jahren die Frage: "Was wäre, wenn wir Software für Großunternehmen verkaufen könnten, so wie Amazon Bücher verkauft?" Das war kontextspezifisch: Benioff kreierte die Frage für ein Umfeld, in dem er zuvor mehr als 15 Jahre lang gearbeitet hatte. Diese Arbeit hatte ihn zu dieser einen Frage geführt, mit der er dann eine ganze Branche auf den Kopf stellte. (Benioff gründete 1999 den Cloud-Computing-Anbieter Salesforce – Anm. d. Red.) Diese Art von Fragen ist der Goldstandard. Es sind die Fragen, nach denen wir suchen. Sie eröffnen einem in einem bestimmten Kontext für eine bestimmte Herausforderung eine neue Chance.
Wie kommt man zu so einer Goldstandardfrage?
GREGERSEN Durch andere Fragen. Manche hören sich auf den ersten Blick lächerlich einfach an: Was funktioniert? Was nicht? Und warum? Tatsache ist: Um auf solche Fragen ehrliche Antworten zu bekommen, braucht es ein großes Maß an Vertrauen ins System.
Ist gutes Fragenstellen eine Kunst? Kann man es lernen?
GREGERSEN Der Weg dorthin ist einfacher, als Sie vielleicht denken. Ich sammle beispielsweise Fragen – solche, die mich generell voranbringen können, wie "Wofür suchen wir gerade eine Lösung?" oder "Was ist die eigentliche Absicht?". Die wertvollsten Fragen aber sind auf die Person und den Kontext abgestimmt.
Ein anderer Weg besteht darin, einen FragenAudit in Ihrem Team durchzuführen. Das bedeutet: Führungskräfte sollten die Muster, nach denen Fragen gestellt werden, überprüfen. In Unternehmen prüfen wir die Bücher, um herauszufinden, wo Geld ausgegeben wird. Aber kaum jemand achtet darauf, wie die Mitarbeiter Fragen stellen, aufnehmen und beantworten.
Wie läuft ein solcher Audit ab?
GREGERSEN In unseren Programmen empfehlen wir neuen Teilnehmern, am Tag vor dem Beginn ihre Fragen einer gründlichen Überprüfung zu unterziehen. Hören Sie zu! Schauen Sie hin! Welche Fragen stellen Sie, und welche werden Ihnen gestellt? Fragen Sie sich am Ende: Haben irgendwelche dieser Fragen Sie dazu verleitet, sich über eine Sache ein komplett falsches Urteil zu bilden? Haben welche dazu geführt, dass Sie sich unwohl fühlten? Haben manche Sie dazu bewegt, ruhig zu werden und über sich selbst nachzudenken?
Erstens also Fragen sammeln, zweitens Fragen überprüfen ...
GREGERSEN ... und drittens: Verpflichten Sie sich dazu, künftig kontextspezifische und analytische Fragen zu stellen. Machen Sie sich das selbst zur Aufgabe.
Gibt es deutsche Manager, die im Fragenstellen besonders gut sind?
GREGERSEN Hasso Plattner fällt mir ein, einer der Gründer von SAP. Ich erzählte ihm einmal von einem Zitat von Stewart Brand (einem US-Umweltaktivisten – Anm. d. Red.): "Jeden Tag wache ich mit der Frage auf: Wo liege ich komplett daneben?" Und Plattner sagte: "So gehe auch ich an die Dinge heran!" Dieser Ansatz geht von folgenden Annahmen aus: Ich habe eine Vorstellung davon, wie die Welt aussieht. Ich weiß, einige Teile davon stimmen nicht. Deshalb versuche ich mit Absicht, meine Vorstellung zu widerlegen – statt als CEO herumzulaufen und zu versuchen, das zu bestätigen, was ich ohnehin schon glaube. Hasso Plattner ist supergut darin. Ein anderes Beispiel ist der Gründer von "Dialog im Dunkeln", Andreas Heinecke. Er stellt exzellente Fragen, manchmal treibt er sein Team damit in den Wahnsinn. Aber darauf beruht sein Erfolg. Sein Sozialunternehmen ist einer der größten Arbeitgeber für Blinde und Taube weltweit.
Was ist die eine Frage, die jeder Manager stellen sollte?
GREGERSEN Wenn Sie mich auf eine Frage festnageln wollen, die im Leben am wichtigsten ist, und das tun Sie gerade, dann würde ich sagen: Wofür suchen Sie gerade eine Lösung?
Oder anders formuliert: Welches Problem versuchen Sie gerade zu lösen?
GREGERSEN Oder so, ja. Unterhaltungen gehen fast immer deshalb schief, weil den Gesprächspartnern die Frage nicht klar ist oder weil sie darüber unterschiedliche Meinungen haben – und es ihnen gar nicht bewusst ist. A. G. Lafley, der zweimal CEO von Procter & Gamble war, stellte sich in jedem Meeting die Frage: "Hilft mir das Thema, über das wir gerade reden, dabei, den Kunden zufriedenzustellen? Wenn nicht, warum reden wir darüber? Wenn es keinen Zusammenhang gibt, sollten wir nicht unsere Zeit damit verschwenden."
Das hat auch mit der richtigen Einstellung zu tun. Wenn Orit Gadiesh, Chairman von Bain, einen Raum betritt, sagt sie sich: "Ich bin hier, um etwas zu lernen. Also frage ich, statt anderen zu sagen, was sie zu tun haben." Und die Frage, die zu dieser Einstellung passt, habe ich von Scott Cook, dem Chairman des Softwareherstellers Intuit. Sie lautet: "Womit haben Sie gerade zu kämpfen?" Nachdem Sie diese Frage gestellt haben, gilt es, einfach den Mund zu halten. Wenn die Person auf der anderen Seite des Tisches Ihnen nicht sagt, womit sie gerade zu kämpfen hat, dann sagt das eine Menge aus – über Ihre Beziehung und über die Strukturen, in denen Sie sich befinden.
Welche Frage hat für Sie ganz persönlich eine große Bedeutung?
GREGERSEN Es gibt Fragen, die tief in Individuen und Organisationen verankert sind. Ich nenne sie "Keystone"-Fragen. Es sind die Leitfragen für all das, was wir tun oder nicht tun. Einige sind destruktiv. Sie verfolgen uns, es sind unsere Schattenfragen. Eine meiner Schattenfragen lautet: Wie kann ich Sie glücklich machen? Das rührt aus meiner Geschichte her. Für den Kontext, in dem sich ein Vierjähriger bewegte, war die Frage angemessen – ein gefährliches Familienumfeld. Doch in den meisten beruflichen Situationen ist sie fehl am Platz. Sie führt dazu, zu jemandem Ja zu sagen, zu dem ich besser Nein sagen sollte. Eigentlich möchte ich nach einer anderen Frage leben: Wie kann ich hier und jetzt mehr Licht in die Welt bringen? Sie haben etwas, das Sie geben können: Licht, Wahrheit – wie auch immer Sie das nennen wollen. Wie kann ich mich verhalten, damit dieses Gespräch dazu beiträgt? Das kann bedeuten, dass ich Sie herausfordere. Damit mache ich Sie nicht glücklich, aber am Ende könnte etwas Gutes dabei herauskommen.
Spielen solche Fragen im Management, das von rationalem Denken bestimmt sein sollte, eine Rolle?
GREGERSEN Tatsächlich lassen sich viele Gründer von persönlichen Fragen leiten, und oft übertragen sie diese auf ihre Unternehmen. Als Yvon Chouinard vor Jahrzehnten Patagonia gründete, war dies sein Ausgangspunkt: Wie kann ich meinen Lebensunterhalt verdienen, ohne meine Seele zu verkaufen? Das war seine eigene Frage, sie ist es noch heute. Sie wurde auch zur Gründungsfrage von Patagonia und erklärt, warum das Unternehmen existiert und warum es das tut, was es tut.
Vor Kurzem hat Patagonia sein Mission Statement geändert, hin zu einem einzigen, einfachen Satz: "We're in business to save our home planet" (auf Deutsch etwa: "Wir machen Geschäfte, um unseren Heimatplaneten zu retten" – Anm. d. Red.). Das enthält auch die Notwendigkeit, Geld zu verdienen, in dem Sinne: Wir müssen gute, profitable Produkte für die Kunden herstellen. Wenn wir das nicht tun, können wir unseren Heimatplaneten nicht retten. Aber während wir das tun, müssen wir alles in allem einen positiven Beitrag für die Erde leisten, und wir setzen die Gewinne ein, um den Planeten zu retten.
Um das richtig zu verstehen: Schattenfragen sind keine guten Fragen?
GREGERSEN Schattenfragen entspringen normalerweise einem historischen Kontext, in dem sie früher einmal einen Sinn hatten. Ich bin mit einem gewalttätigen Vater aufgewachsen. Er war hart und er war stark. Ich war klein. Es war in diesem Kontext vollkommen richtig für einen Vierjährigen zu fragen: Wie kann ich diese potenziell gefährliche Person glücklich machen? Das war absolut angebracht. Aber diese Art von Fragen begleitet Sie manchmal so lange, dass sie zu einem Teil Ihres Lebens wird. Und dann sitzen Sie in einem Meeting, in dem Leute Sie auffordern, etwas zu tun, obwohl Sie weder die Mittel noch die Zeit dafür haben. Doch um nett zu sein, sagen Sie zu. In der Situation ist die Schattenfrage völlig unangebracht.
Wie gehen Sie damit um? Kann man sich davon lösen?
GREGERSEN Diese Schatten sind immer da. Die grundlegendste Form ist für mich offen gesagt: Werde ich je gut genug und von Belang sein? Wenn Sie von außen auf Hal Gregersen schauen, mag Ihnen das lächerlich vorkommen. Aber tief in mir ist das mein Schatten. Eine Möglichkeit ist, ihn zu bekämpfen, zu stellen, in eine Kiste zu sperren und so zu tun, als sei er kein Teil von mir. Das habe ich versucht, und ehrlich gesagt funktioniert es nicht.
Eine andere Möglichkeit ist, seine Existenz einfach anzuerkennen. Wenn ich einen Vortrag halte, dann ist er da. Die Herausforderung für mich ist, nicht zuzulassen, dass er bestimmt, wie ich mich als Führungskraft verhalte. Was ich oft mache, ist, ihn offen anzusprechen: "Schatten, ich weiß, dass du da bist. Aber ich bin von Belang, und ich bin gut genug. Danke, dass du mich daran erinnerst." Das ist eine ganz andere Art, damit umzugehen. Und dann kann ich nach meiner anderen Frage leben: Was kann ich tun, um hier und jetzt in diesem Raum Licht, Wahrheit und das Gute in die Welt zu bringen? Sich diese Dinge bewusst zu machen, eröffnet die Möglichkeit, den Schatten zu kontrollieren, statt sich von ihm kontrollieren zu lassen.
Was meinen Sie: Können auch Manager, die sich weniger mit ihrem Seelenheil beschäftigen wollen, hieraus etwas mitnehmen?
GREGERSEN Ich weiß, das hört sich nach New-Age-Denken an. Aber es trifft den Kern. Wenn ich CEOs wie Marc Benioff von Salesforce oder Rose Marcario von Patagonia reden höre, dann wählen sie andere Worte als ich, aber sie beschreiben auf ihre Weise genau das Gleiche.
Marcario etwa arbeitete vor 20 Jahren noch in der Finanzbranche. Eines Tages fuhr sie mit ihrem Auto durch New York, als sie abrupt anhalten musste: Ein Obdachloser überquerte die Straße, wo er es nicht durfte. In ihr kam Frust auf, da sie schnell zu ihrem schicken, wichtigen Meeting wollte. In dem Moment wurde ihr klar, was in ihr vor sich ging, und sie stellte sich die Frage: "Was ist aus dir geworden, Rose? Ist es wirklich das, was Erfolg ausmacht?" Sie stieg aus dem Auto und machte einen langen Spaziergang durch den Central Park. Jahrelang dachte sie über diese Frage nach, bis Yvon Chouinard von Patagonia sie fand und als CFO einstellte. Marcario tauchte tief in das Unternehmen ein, um die Wahrheit über all die schlechten Dinge herauszufinden, die Patagonia tat – etwa was die Umwelt oder die Arbeitsbedingungen anging. Ihr Ziel war, es künftig besser zu machen. Fünf Jahre später wurde sie CEO. Sie lebt für die Fragen, die wirklich von Bedeutung sind.  © HBM 2020
Mit Hal Gregersen sprach HBM-Redakteur Ingmar Höhmann.
Profil
Der Forscher
Hal Gregersen ist am Massachusetts Institute of Technology Executive Director des Leadership Center und an der Sloan School of Management Senior Lecturer für Leadership und Innovation. Er ist zudem Senior Fellow der Beratungsgesellschaft Innosight.
Die Forschung Im Jahr 2011 veröffentlichte Gregersen gemeinsam mit den Managementprofessoren Jeffrey Dyer und Clayton Christensen das Buch "The Innovator's DNA", das auf große Resonanz stieß. Die Autoren beschrieben darin fünf Fähigkeiten innovativer Führungskräfte. Der Schwerpunkt von Gregersens Arbeit liegt seitdem darauf, wie Fragen und Fragetechniken im Management weiterhelfen. Ein Ergebnis war die HBM-Titelgeschichte "Besser brainstormen" (August 2018).
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