„Führungskräfte erkennen oft nicht, wann sie überlastet sind“
Viele Chefs sind ausgebrannt und fragen sich, ob sie bis zur Rente so weitermachen wollen. Ein Gespräch mit der Karriereberaterin Sabine Votteler über den Nutzen von Psychotherapien und Friseurbesuchen am Mittwochnachmittag.
Frau Votteler, Sie beraten Führungskräfte, die mit ihrer Karriere hadern. Mit welchen Problemen kommen diese Menschen zu Ihnen?
Ich berate vor allem Führungskräfte in der sogenannten Lebensmitte, die also über 40, manchmal auch über 50 Jahre alt sind. Viele von ihnen stecken in einer Sinnkrise und fragen sich, ob sie noch bis zur Rente so weitermachen wollen. Die Corona-Pandemie hat zum Beispiel viele von ihnen dazu gebracht, ihr Leben und ihre beruflichen Entscheidun gen zu hinterfragen. Damals hat man gesehen, wie schnell das Leben vorbei sein kann. Oft geht es ihnen um den Wunsch nach mehr Selbstbestimmung und Flexibilität, privat wie beruflich.
Was sind – abgesehen von der Corona-Pandemie – typische Auslöser dafür, dass gestandene Führungskräfte plötzlich alles infrage stellen?
Häufig sind es negative Ereignisse. Das kann eine Kündigung sein oder dass jemand bei einer Beförderung übergangen wurde. Auch persönliche Krisen wie der Verlust eines nahen Angehörigen oder ein Burnout können dazu führen, dass Führungskräfte ihre Prioritäten überdenken. Manchmal sind es auch positive Veränderungen wie die Geburt eines Kindes, wobei das bei meinen Klienten aufgrund ihres Alters seltener der Fall ist. Durch solche Ereignisse merken Menschen, dass andere Dinge im Leben wichtiger werden.
Ihre Kunden haben in der Regel viel erreicht und wahrscheinlich immer viel gearbeitet.
Genau, und irgendwann kommen sie an einen Punkt, an dem sie sich fragen: Was nun? Alles, was sie bisher angetrieben und motiviert hat, wofür sie bereit waren, lange Stunden zu arbeiten, hat seinen Reiz verloren. Manchmal ist es auch eine Kleinigkeit, die das Fass zum Überlaufen bringt – zum Beispiel das Gefühl, dass sich die Diskussionen immer im Kreis drehen. Viele meiner Klienten suchen nach einem Weg, ihre Arbeit so zu gestalten, dass sie nicht nur dem Unternehmensgewinn dient, sondern auch persönlich erfüllend ist.
Sie haben das Stichwort Burnout erwähnt. Umfragen zeigen, dass viele Chefs total erschöpft sind – stellen Sie das auch fest?
Auf jeden Fall. Leistungsbereitschaft ist an sich ja nichts Schlechtes. Viele Führungskräfte haben einfach eine positive Einstellung zur Arbeit. Das Problem ist, dass sie oft nicht erkennen, wann sie überlastet sind. Denn viele leistungsbereite Menschen ziehen die Arbeit gerne an sich und machen alles, was man ihnen auf den Tisch legt. In manchen Unter nehmen gehört es auch immer noch zum guten Ton, viele Stunden zu arbeiten, zum Beispiel in Unternehmensberatungen. Einige Führungskräfte schaffen es nicht, sich hier selbst Grenzen zu setzen.
Wie kommt man da raus?
Das ist sehr schwierig, vor allem wenn Führungskräfte ihr Selbstwertgefühl an ihre Arbeit koppeln, sich sehr stark über ihre Arbeit definieren. Dann ist es wichtig, die Hintergründe zu verstehen. Die reichen manchmal bis in die Kindheit zurück, wenn jemand immer versucht hat, die Anerkennung eines Elternteils zu bekommen. Bei mir war das auch so. Einfach ein bisschen kürzertreten funktioniert dann nicht.
Was raten Sie in solchen Fällen? Erst mal Urlaub machen und die Arbeit hinter sich lassen?
Ich empfehle, kleine Auszeiten in den All tag zu integrieren, die müssen gar nicht lang sein. Wichtig ist, dass man diese Zeit sinnvoll nutzt. Oft neigt man dazu, sich in der Auszeit neue Leistungsziele zu setzen, was kontraproduktiv ist. Stattdessen sollte man sich kleine Freiräume schaffen, um zu reflektieren und Dinge zu tun, die einem Freude bereiten. Oft fällt es Menschen schwer, sich solche Pausen zu gönnen, weil sie glauben, immer erreichbar sein zu müssen. Man könnte damit beginnen, am Mittwochnachmittag statt am Samstag zum Friseur zu gehen.
Ich würde wahrscheinlich ständig nervös auf mein Handy schauen, wenn ich das versuchen würde.
Ja, das ist für viele eine Herausforderung. Gerade Führungskräfte haben in solchen Situationen Angst, etwas zu verpassen, und fühlen sich unwohl. Aber genau darum geht es: die eigene Komfortzone verlassen und Raum für sich selbst schaffen. Beim Friseurbesuch sollten Sie dann aber bitte nicht über Ihre Glaubenssätze nachdenken, sondern einfach mal ein Klatschmagazin lesen. Hinterher merkt man: Die Welt geht nicht unter, wenn man mal nicht erreichbar ist und in der Zeit sogar etwas total Unproduktives tut.
Können solche Auszeiten einer ausgebrannten Führungskraft wirklich helfen? Braucht es da nicht mehr?
Klar ist: Wenn ich kurz vor dem Burnout stehe, wenn ich nicht mehr kann, wenn ich Versagensängste habe, wenn ich schnell aggressiv reagiere, obwohl das gar nicht meine Art ist, wenn ich nicht mehr schlafen kann – dann sollte ich meinen Job hinterfragen. Und dann ist es auch nicht die Lösung, wenn ich ein paar Wochen aus dem Job rausgehe und vielleicht eine Psychotherapie mache. Das kann alles helfen, aber wenn ich danach wieder in den gleichen Job einsteige, bringt es meistens nichts. Dabei es gibt viele Dinge außerhalb der eigenen Welt, die infrage kommen. Und um herauszufinden, was das sein könnte, helfen solche Freiräume.
Es geht also darum, sich selbst kennenzulernen?
Ganz genau. Das Ziel ist nicht, sofort in den nächsten Job einzusteigen. Wenn man aus lauter Angst versucht, direkt wieder Arbeit zu finden, landet man im schlimmsten Fall wieder genau in der gleichen Situation. Erst einmal geht es darum, herauszufinden: Wer bin ich eigentlich? Was sind meine Stärken, was kann ich gut, was mache ich gerne? Wofür brenne ich? Manche Klienten sagen mir: Meine Arbeit ist mein Hobby. Dann sage ich: Okay, aber was gibt es sonst noch? Was willst du für dich, für dein Leben?
Haben Ihre Kunden darauf eine Antwort?
Viele erst mal nicht. Aber manche sagen zum Beispiel, dass sie bei der Berufswahl sehr mit sich gerungen haben und eigentlich lieber etwas anderes geworden wären, Tierarzt zum Beispiel. An solchen Dingen kann man viel ablesen. Und das andere ist tatsächlich: rausgehen, neue Dinge ausprobieren, neue Leute außer halb der eigenen Blase kennenlernen.
Wie viel Zeit sollte man sich nehmen, um herauszufinden, wie ein Neuanfang aussehen könnte?
Das hängt sehr von der individuellen Situation ab. Wenn jemand in einer akuten Krisensituation ist, kann es etwas länger dauern, weil man sich dann erst einmal mit anderen Themen beschäftigt. In der Regel empfehle ich, zwei bis drei Monate für den Prozess einzuplanen, und das haut eigentlich ganz gut hin. In dieser Zeit kann sich der Klient Klarheit über seine Wünsche und Bedürfnisse verschaffen. Wir erarbeiten konkrete Alternativen, welcher Job infrage käme und ob die Selbständigkeit eine Option wäre.
Wie viele entscheiden sich, etwas ganz anderes zu machen als bisher?
Viele Klienten, die zu mir kommen, spüren, dass das, was sie bisher gemacht haben, nicht mehr zu ihnen passt. Aber es gibt auch andere Fälle. Erst kürzlich hatte ich einen Kunden, der im Laufe unserer gemeinsamen Arbeit herausgefunden hat, dass er wider Erwarten eigentlich auch künftig gerne in einem Angestelltenverhältnis arbeiten würde – und zwar in einer ähnlichen Position, wie er sie vorher als Geschäftsführer in einem Industrieunternehmen hatte. Er realisierte, dass er dieses Umfeld mag, dass er gerne in Produktionshallen ist, viele Menschen um sich hat, komplexe Themen liebt. Aber er hat für sich die Rahmenbedingungen neu definiert und entschieden, was er will – und was nicht.
Sie selbst waren mehr als 20 Jahre lang als Führungskraft in verschiedenen Positionen tätig. Warum haben Sie sich 2014 für die Selbständigkeit entschieden?
Meine Kunden erleben im Prinzip das Gleiche wie ich damals. Ich fühlte mich in meiner Rolle als Führungskraft zunehmend eingeschränkt und unzufrieden. Ich hatte das Gefühl, ich renne und renne und mache doch nicht das, was ich für richtig halte. Ständig musste ich meinem Team Strategieänderungen erklären. Das Schlimmste für mich war das Gefühl, nicht wirksam zu sein. Irgendwann habe ich die Reißleine gezogen, weil ich gemerkt habe: Ich kann nicht mehr. Ich bin dann zu einer Therapeutin gegangen, die mir gesagt hat, dass ich einen Burnout habe.
Und dann?
Während ich auf der Suche nach einer Festanstellung war, habe ich angefangen, freiberuflich zu arbeiten – und gemerkt, dass mir das sehr viel Spaß macht und ich die Freiheit, meine Projekte selbst zu wählen, sehr schätze. Ich habe mich dann entschieden, selbständig zu bleiben, und das war für mich der Befreiungsschlag schlechthin. Plötzlich war wieder alles möglich, und das fand ich wirklich ganz großartig.
Sabine Votteler hat mehr als 20 Jahre lang als Führungskraft gearbeitet. Heute berät sie Menschen im mittleren Alter, die sich neu orientieren wollen.
Das Interview erschien zuerst im September 2024 in der FAZ Beruf & Chance. Das Gespräch führte Britta Beeger.