Für 31.200 Euro: Gap Year de Luxe in Salem
Sie besuchen Vorlesungen, erkunden die Natur und wollen ihren Traumjob finden. So haben zwei Jugendliche ihr Orientierungsjahr am Salem Kolleg erlebt.
Caspar Ahrens ist kurz davor, aufzugeben. Fröstelnd hockt er auf einer gelb-grauen Isomatte. Immer schneller tippeln seine Füße, bringen den Schnee zum Knirschen. Ahrens ist fast vollständig eingepackt, ein Stück seiner Stirn lässt sich noch erahnen, darüber die Mütze, darunter seine weiß gerahmte Sonnenbrille. Die Nase vergräbt er in seiner Jacke.
Ahrens hat die letzte Nacht in einem selbst gebauten Iglu in den Schweizer Alpen verbracht. Mit einer Trinkflasche voll kochendem Wasser im Schlafsack gegen die Kälte. Minus sechs Grad sind es hier oben, fast 2200 Meter über dem Meeresspiegel. Gleich will die Gruppe auf einen Bergkamm neben dem Gipfel der Spitzmeilen steigen.
„Ich gehe auf die Hütte zurück, die Gipfeltour schaffe ich nicht mehr“, murmelt Ahrens. Ganz leicht hört man seinen amerikanischen Akzent. Schlafsack, Schneeschuhe, Stöcke, Lawinensuchgerät und Schneeschaufel hat er zusammengepackt. Für den Rückweg, nicht den Aufstieg. Das Frühstück hat ihn nur kurz gewärmt: Haferflocken, Nüsse, Rosinen, Trockenobst in heißem Wasser. Wieder murmelt er: „Ich kann meine Lippen nicht mehr bewegen.“
Aufgeben? So kurz vor dem Highlight dieses Abenteuers?
Eine gute Stunde später, auf halber Strecke Richtung Gipfel, hat der 18-Jährige seine Jacke abgelegt. Jetzt ist ihm warm. Er blickt in die Ferne auf eine imposante Gipfelkette, die der Nebel freigegeben hat. Die Sonne, die es endlich durch die Wolken schafft, scheint auf seine rechte Gesichtshälfte. Ahrens legt eine Schicht Sonnencreme nach. Eine Teilnehmerin der Tour habe ihm zugeredet. Er solle doch nach all dem, was er schon geschafft habe, nicht die Aussicht verpassen. „Zum Glück habe ich mich überwunden“, sagt Ahrens.
Jetzt kann ihn nichts mehr aufhalten. Durchhaltestärke, Willenskraft, Zusammenhalt. Um all das geht es in diesen Tagen, Ende Februar.
Caspar Ahrens ist einer von 25 Teilnehmern der Tour: junge Erwachsene, gerade fertig mit der Schule und wenig Ahnung, was sie mal machen wollen. Die Exkursion in die Berge ist Teil des Orientierungsjahres am Salem Kolleg in Überlingen, Schwestergesellschaft der Schule Schloss Salem – jenes Internats, das etwa Philipp Plein, Marc Fielmann und Prinz Philip, Vater von König Charles, besuchten. Mit Blick auf den Bodensee leben die Teilnehmer für zehn Monate in Wohngemeinschaften, besuchen Seminare zu Medizin, Politik oder Sportwissenschaften, spielen Tennis, Hockey, Theater, belegen Sprachkurse, sitzen in Vorlesungen der nahen Hochschulen, erkunden die Natur.
WER BLICKT NOCH DURCH?
Dieses Gap Year der besonderen Art ist eine mögliche Antwort auf die Frage, die sich in diesen Tagen wieder Hunderttausende Abiturienten stellen: und jetzt? Sie können aus 22.078 Studiengängen an einer von 426 deutschen Hochschulen wählen. Mehr als die Hälfte der 14- bis 20-Jährigen gab in einer Befragung der Bertelsmann-Stiftung an, dass sie sich bei der Berufswahl kaum zurechtfinden. Ein Symptom dieser Orientierungslosigkeit: Rund 30 Prozent der Bachelorstudenten brechen ihr Studium ab.
Durchatmen. Sortieren. Wenn man sich’s leisten kann. 31.200 Euro sind für das Gap Year in Salem fällig. Dafür gibt es feste Strukturen, enge Betreuung durch Pädagogen, Dozenten, Karriereberater. Zehn Monate in einer eigenen Welt. Was bringt das? Was lernen die Kollegiaten hier über sich und ihre Interessen, was sie in einem freiwilligen sozialen Jahr oder auf einer Weltreise nicht erfahren würden?
Mit der Willensstärke, die Caspar Ahrens aufbringt, ist es in der anderen Gruppe, die ihre Iglus etwa 100 Meter entfernt aufgebaut hat, so eine Sache. Vor Philip Heckmann, pädagogischer Leiter am Kolleg, haben sich die Jugendlichen im Halbkreis versammelt. Die Augen geschlossen, die Gesichter der Sonne entgegengestreckt. Fast wirkt es, als schwöre Heckmann eine Fußballmannschaft in der Kabine aufs entscheidende Finale ein: Sie sollten stolz auf das sein, was sie heute Nacht geschafft hätten. Die Iglunacht sei jetzt ihr Anker für schwere Zeiten. Das Wetter sei genial, die Aussicht entschädige für die Anstrengungen.
Nur zeigen Heckmanns Worte nicht viel Wirkung. Erst geht ein Arm nach oben: Die junge Frau im silbernen Schneeoutfit fühlt sich krank. Es folgt der nächste Arm – und dann melden sich sechs Kollegiaten. Einer hat schlicht keine Lust mehr.
ABGEMACHT!
Dabei wollten alle 27 Kollegiaten einiges mitbringen für die Zeit in Salem. So halten sie es im September 2024 auf einem Bild fest. Sie kennen sich da erst wenige Tage. Ein Baum mit rosa Blüten ist auf der Leinwand zu sehen: Ihre Fingerabdrücke formen die Blüten, im Gras haben alle unterschrieben. An den Ästen steht, was sie sich von dem Jahr erhoffen: Klarheit, Orientierung, Erfahrung, Gemeinschaft, Freundschaft, Wissen. Die Wurzeln symbolisieren, was sie einbringen: Offenheit, Motivation, Neugier, Humor, Engagement. An abgestorbenen Ästen auf dem Boden steht, was sie nicht dulden: Ausgrenzung, Intoleranz, Rücksichtslosigkeit.
Mila von Issendorff sitzt an einem Montag Anfang September im Speisesaal. Es gibt Kartoffeln, dunkle Soße, Gemüse. Die 19-Jährige trägt bunte Freundschaftsbänder: Überbleibsel vom Taylor-Swift-Konzert in ihrer Heimat München, von dem sie begeistert erzählt. Wenn es um ihre berufliche Zukunft geht, ist die Begeisterung in ihrer Stimme verflogen. Es wirkt, als laste Druck auf ihr: Immer wieder rieten ihr Freunde und Familie, Medizin zu studieren, erzählt sie. Wo sie ihr Abitur doch mit 1,0 bestanden habe. Sie hat Leistungssport betrieben: Synchron-Eiskunstlauf. Vielleicht doch Sportwissenschaft? „Etwas Schriftstellerisches“ könnte sie sich vorstellen, sie liest und schreibt viel. Oder Kognitionswissenschaft. „Ich habe wirklich die Qual der Wahl.“ Von Issendorff weiß, was sie nicht will: von der Schule direkt auf die Uni.
Auch Caspar Ahrens, der neben ihr sitzt, „will so viel wie möglich sehen, bevor ich mich entscheide“. Er ist in Shanghai geboren. Ein halbes Jahr später ging die Familie in die USA. Sein Vater führt eine Nichtregierungsorganisation zu chinesisch-amerikanischen Beziehungen. Ahrens interessiert sich für Physik und Astronomie.
Im April 2025, ein gutes halbes Jahr nach dem Start, ist davon nicht mehr viel übrig. Mila von Issendorff und Caspar Ahrens sitzen vor einer Webcam. Im Hintergrund hängt eine Darstellung des Banksy-Graffitis von dem Mädchen mit dem herzförmigen Luftballon. Dass von Issendorff keine Ärztin werden möchte, merkte sie schnell, als im Medizinkurs am Kolleg Videos von Operationen gezeigt wurden. „Manche Sachen fand ich einfach eklig.“
Menschen helfen möchte sie immer noch: als Psychologin. An der Universität in Konstanz besuchte sie die Vorlesung biologische Psychologie, am Kolleg ging es um klinische Psychologie, sie führte Gespräche mit Absolventen – vermittelt von ihrer Dozentin. So reifte ihr Entschluss.
Caspar Ahrens erzählt von dem Dozenten, der ihn in der ersten Stunde des Programmierkurses mit seiner Begeisterung für Software angesteckt hat: Obwohl es in der ersten Veranstaltung um „die trockensten Dinge“ ging. An der Hochschule Konstanz sitzt er in den Vorlesungen Softwaremodellierung und Programmiertechnik, will ein eigenes Computerspiel programmieren. Astrophysik begeistert ihn noch immer. Nur durchs Physik-Grundstudium, das er für den Master bräuchte, möchte er sich nicht quälen.
MIT GUTEM GEFÜHL ENTSCHEIDEN
Viele ehemalige Kollegiaten haben den Weg eingeschlagen, den sie in Salem geplant hatten – und sind glücklich damit, berichten sie. Einige Absolventen konnten am Kolleg vor allem ausschließen, was sie nicht studieren wollen. Auch hilfreich. Eine Garantie fürs perfekte Studium gibt es aber auch hier nicht.
Rat für Eltern
In anderen Ländern gibt es ähnliche Angebote für Gap Year oder Summer School:
Alternativen: In den USA und Kanada bieten einige Universitäten Programme an, in denen Studieninteressierte das richtige Fach finden können. Diese fokussieren sich meist auf den Campusalltag. Ein Gap Year, das auch Freizeitaktivitäten umfasst, bietet neben Salem etwa die Schule St. Clare’s in Oxford.
Fristen: Das Orientierungsjahr am Salem Kolleg beginnt im September und endet im Juli. Das Programm in Oxford endet Mitte Juni und beginnt entweder im September (34 Wochen) oder im November (27 Wochen).
Voraussetzungen: Die Teilnehmer müssen einen Schulabschluss mit Studienberechtigung und Sprachkenntnisse in Englisch (Oxford) und Deutsch (Salem) vorweisen. Am Salem Kolleg steht außerdem ein Auswahlgespräch an.
Kosten: Die Zeit am Salem Kolleg kostet 31 200 Euro. Eltern können sich um einkommensabhängige Teilstipendien bewerben. In Oxford werden für das 34-wöchige Programm gut 31 000 Euro fällig. Für die Unterbringung kommen noch zwischen 11 900 und 18 500 Euro hinzu.
Den Karriereweg will Thomas Obitz, Geschäftsführer des Salem Kollegs, nicht vorzeichnen. Sondern: den Jugendlichen Sicherheit in ihrer Entscheidung geben. „Ich habe mir auch mal einen Personal Trainer genommen. Er hat mein Potenzial analysiert und mich motiviert, anstrengen musste ich mich selbst“, sagt er.
„Ein wenig orientierungslos“ fühlt sich Mila von Issendorff heute, rund drei Monate vor dem Ende der Zeit in Salem, immer noch. Welches Psychologiestudium sie wo aufnehmen will, weiß sie noch nicht recht. Aber: Damit ist sie zufrieden. Sie habe nicht mehr das Gefühl, es gäbe noch irgendeinen Weg, über den sie noch nicht nachgedacht habe.
„Wenn mir die Orientierung fehlt, bieten Internate sehr gute Möglichkeiten, um mich intensiv der Selbstfindung zu widmen und viel über Ziele, Interessen, Hobbys, Stärken zu erfahren“, sagt Katrin Peyerl, die am Institut für Erziehungswirtschaft der Philipps-Universität Marburg zu Internaten forscht. Die Kollegiaten müssen sich um wenig sorgen: Zu festen Zeiten erhalten sie ihr Essen, die Zimmer sind vollständig eingerichtet. Sie müssten den Campus nicht verlassen, weil es hier eben alles gibt. Inklusive Regeln zum Alkoholkonsum – und Kontrollen.
Die fehlende Selbstorganisation ist für Peyerl der „Preis“, den die Kollegiaten für die „einmalige Chance“ zahlen, so viele Dinge auszuprobieren. Denn immerhin sei die Selbstorganisation „eine zentrale Herausforderung“, an der Jugendliche wachsen: eine Wohnung suchen, ein Visum beantragen, den Wocheneinkauf erledigen. Dinge, um die sich in Salem niemand kümmern muss und die ein freiwilliges soziales Jahr oder eine Weltreise „besser vermitteln“, wie Peyerl sagt.
NICHT NUR IM MITTELPUNKT
Caspar Ahrens gibt den Takt vor. Zwei Mitarbeiter des Kollegs schwingen an diesem sonnigen Septembertag auf der Wiese neben dem Tennisplatz ein orangegelbes Tau. Alle Kollegiaten müssen darunter durchlaufen. Berührt das Seil jemanden, muss die ganze Gruppe von vorn beginnen. Ahrens war bei den ersten Durchgängen immer einer der Ersten. Andere haben Schwierigkeiten – und bremsen ihn: „Caspar, du rennst jetzt mal als einer der Letzten“, ruft jemand. Erst sollen es die Schwächeren schaffen. Mit zwei weiteren Kollegiaten steht Ahrens an der Seite. Immer, wenn das Seil kurz davor ist, den Boden zu berühren, brüllt er: Jetzt! Jetzt! Jetzt!
Und immer flitzt ein Kollegiat hindurch. Bis alle drüben sind. Ahrens fehlt noch. Also zählen die anderen für ihn: Jetzt! Er rennt los, zieht den Kopf ein – und: geschafft. Er war Kapitän seiner Fußballmannschaft in den USA, erzählt er, ja, Führung übernehme er gerne.
Beim Iglubau in den Alpen, fünf Monate später, ist Ahrens ruhiger. Nicht nur wegen der Kälte. Er holt die schweren Schneeklötze, stapelt sie aufeinander. Anweisungen gibt Ahrens kaum. Als das Iglu steht, fragt er die anderen, ob er noch helfen kann. „Ich weiß, dass ich mich in der Gruppe auch mal zurücknehmen muss“, sagt er. Gerade auf den Outdoortrips wollen die Pädagogen beobachten: Wer prescht vor, aber verliert die Schwächsten aus den Augen? Wer motiviert andere?
Mila von Issendorff sorgt für gute Laune im Camp: Als viele auf einer Schneebank eine Pause machen, läuft sie eine Steigung auf und ab, tritt mit ihren Stiefeln eine Treppe in den Schnee. „Das wird noch richtig luxuriös hier“, sagt sie – und stapft weiter. Ein anderer soll die Treppe testen. Er sackt ab, rudert mit den Armen, fängt sich gerade so. Darüber lachen selbst diejenigen, die am meisten frieren. „Ich fühle mich in Gruppen heute viel wohler“, sagt von Issendorff, die einige Monate zuvor viel zurückhaltender war.
Das Angebot trifft vor allem das Interesse von Wohlhabenden. Und so verwundert es nicht, dass eine ehemalige Kollegiatin, die gern an ihre Zeit am Bodensee zurückdenkt, davon berichtet, dass sich einige Leute in Salem über das Geld ihrer Eltern und Markenkleidung definierten.
„Das Orientierungsjahr ist nicht günstig, sicher. Aber wir bemühen uns, auch denjenigen mit Stipendien zu helfen, die sich das Kolleg aus eigener Tasche nicht leisten könnten“, betont Geschäftsführer Thomas Obitz. Derzeit haben nur zwei der 27 Kollegiaten ein Stipendium. In den Vorjahren war der Anteil größer, lag 2022 bei einem Viertel. Und: In den ersten zehn Jahren kamen nur 18 Kollegiaten aus den ostdeutschen Bundesländern. 314 aus den westdeutschen.
Das Kolleg bemüht sich, die Jugendlichen aus ihrer heilen Welt herauszuholen: mit einer Ausbildung zum Sanitätshelfer, der Arbeit im Jugendcafé in Überlingen etwa. Mila von Issendorff und Caspar Ahrens haben eine Zeit lang jeden Mittwoch eine Grundschullehrerin im Deutschunterricht für geflüchtete Kinder unterstützt. Eine sinnvolle Arbeit. Aber es bleibt einer von wenigen externen, sozialen Terminen im Wochenplan.
BESTE KONTAKTE
Eltern sichern ihren Kindern mit der Zeit in Salem einen Startvorteil. In mehrerlei Hinsicht. Zum einen wissen sie nach der Zeit, wie das Unileben funktioniert. Andererseits, und das ist bedeutender, steht in ihrem Lebenslauf der Name Salem, und sie können Teil der Altsalemer Vereinigung werden. Janka Zöller, die Familien bei der Internatssuche unterstützt, selbst Mitglied in der Vereinigung ist, bezeichnet das Netzwerk als „unschätzbar wertvollen Vorteil“. Beruflich wie privat. Als sie mal in Rio de Janeiro Denguefieber bekam, kam sie bei einem ehemaligen Salemer unter. „Und meinen ersten Praktikumsplatz nach der Universität habe ich auch von einem Altsalemer erhalten.“
Auch andere Ehemalige berichten, dass sie schon Jobs von Menschen angeboten bekamen, die selbst in Salem waren. Einer arbeitet heute mit mehreren anderen Kollegiaten gemeinsam im Start-up. In den zehn intensiven Monaten entstehen sehr starke Freundschaften. Thomas Obitz betont: „Der Zugang zu einem solchen Netzwerk allein garantiert mir nicht die besten Jobs, tolle Freunde und viel Geld. Es kommt darauf an, wie ich mich in diesem Netzwerk verhalte: Wie nutze ich es? Was gebe ich zurück?“
Wie wertvoll Zusammenhalt ist, merkte Mila von Issendorff am letzten Tag der Alpentour. Sie zweifelt, ob sie den Abstieg schafft. Zu groß sind die Schmerzen in einem Zeh über Nacht geworden. Die Gondel ist fast zwei Stunden entfernt. Von Issendorff setzt sich in einen roten Biwak-Sack. Zwei andere befestigen ihn mit einem Seil an ihren Rucksäcken und ziehen sie. Fast sieht es aus, als nehme sie an einer Hundeschlittentour teil – ohne Hunde, aber mit viel Freude.
