Für schwere Stunden zwischendurch
Utopische Ziele
Im Mai 2008 führte der Filmemacher und Publizist Thomas Grimm für seine Produktionsfirma Zeitzeugen TV längere Interviews mit der Schriftstellerin Christa Wolf im Beisein ihres Mannes Gerhard Wolf. Am Ende fragte er sie, ob sie noch eine Utopie habe. Sie antwortete: „Ach, ich weiß nicht, wie viel Emotion dabei ist, wenn ich sage, letztendlich kann die Menschheit … nicht überleben, wenn sie sich nicht ein Ziel setzt, das heute utopisch erscheint, zum Beispiel den Untergang unserer Zivilisation durch Erderwärmung oder andere Umweltkatastrophen zu verhindern. Solche Ziele erscheinen angebracht, wobei man im gewöhnlichen Sprachgebrauch dazu sagen könnte ‚utopische Ziele‘.“ Sie plädierte schon damals dafür, „wenigstens das Artensterben oder den CO2-Ausstoß zu stoppen.“
Darauf sollten wir uns konzentrieren anstatt immer mehr zu produzieren und zu konsumieren. Nachhaltiges Wachstum sei ohne eine wirkliche Umwälzung in der Wirtschaft und in den Köpfen nicht möglich. „Dass wir dieses Ziel jetzt zu einer wünschenswerten Utopie deklarieren, sagt viel aus über die tatsächlichen Chancen seiner Verwirklichung.“ Diese Aussage, erschienen im Büchlein „Umbrüche und Wendezeiten“, ist heute noch hochaktuell.
Der Begriff Utopie zieht sich wie ein roter Faden durch ihr Werk. Utopie hatte für Christa Wolf immer mit ihrem Bemühen um eine bessere Welt zu tun, die für sie die einzige Lebensmöglichkeit war, „das Schlimmste zu verhindern“ (an Lew Kopelew, 26.11.1977). Veröffentlicht ist dieser Brief im Band „Man steht sehr bequem zwischen allen Fronten - Briefe 1952-2011“ (2016), herausgegeben von Sabine Wolf, Vizedirektorin des Archivs der Akademie der Künste (nicht verwandt mit Christa und Gerhard Wolf). Bei Suhrkamp hat sie nun auch 172 Briefe mit dem Titel „Wir haben uns wirklich an allerhand gewöhnt“ veröffentlicht. Sie widmen sich den unterschiedlichsten Facetten der etwa 30 Jahre währenden Freundschaft zwischen Sarah Kirsch und Christa Wolf. Beide lernten einander in den Sechzigerjahren kennen. Wolfs Ehemann Gerhard arbeitete damals als Lektor und förderte junge Talente, zu denen auch die Lyrikerin Sarah Kirsch gehörte.
Briefe von Nähe und Distanz
In den Briefen (1962 bis 1990) geht es um das Schreiben, den Literaturbetrieb im Osten und Westen Deutschlands, um Alltägliches und Familiäres, Krankheiten und Politik. Nachdem 1976 die DDR-Führung den Sänger Wolf Biermann ausbürgert hat, gehörten auch die Wolfs und Sarah Kirsch zu denen, die dagegen protestierten. Es folgten Repressionen, Parteiausschlüsse, Berufsverbote und andere Schikanen. 1977 reiste Sarah Kirsch aus, die Wolfs blieben in der DDR zurück. Die innere Distanz der Freundinnen wird von Jahr zu Jahr größer. Bereits am 5. Februar 1979 schreibt Sarah Kirsch an Christa Wolf: „Ich wird auch langsam ein bißchen sauer, wenn man vermutet, ich würde mich so verändern, einfach weil ich woanders wohne.“
Einige Briefe sind auch schon im Vorgängerband von 2016 zu finden. Dazu gehört auch dieser von Christa Wolf an Sarah und Rainer Kirsch (23. Januar 1963): „Versucht, mit Leuten, die Euch sowieso das Wort im Munde rumdrehen, nicht zu diskutieren und sucht dafür die selteneren aufrichtigen Diskussionen.“ Nach dem Fall der Mauer gerät Christa Wolf unter politischem und künstlerischem Rechtfertigungsdruck wegen ihrer Stasi-Vergangenheit. Kurz vor Weihnachten 1990 schreibt sie den letzten Brief an Sarah Kirsch: „Ich hätte mich in diesem langen Sommer über ein Wort von dir gefreut. Ich möchte nicht, daß wir vielleicht durch ein Mißverständnis noch mehr auseinandergetrieben werden.“ Die Antwort: „Vielleicht kannste die Politik auch mal wieder dahin rücken wo sie hingehört, diesz wünsche ich dir doch sehr von Herzen, sonst ist es kaum möglich zu schreiben.“ - „So viel also. Auweia!“ Das sind im Sommer 1992 ihre letzten Worte an das Ehepaar Wolf. Was folgt, ist Schweigen bis in den Tod. Christa Wolf, geboren 1929, stirbt Ende 2011 in Berlin, und Sarah Kirsch eineinhalb Jahre später in Schleswig-Holstein.
Parallel zu diesem Band sollte das erwähnte Buch des Herausgebers Thomas Grimm gelesen werden, denn hier geht Christa Wolf ausführlich auf die Bedeutung des Briefeschreibens ein – auch wenn sie heute im Zeitalter der Digitalisierung „aus der Mode“ sind. Briefe waren für sie unterschiedlich - je nachdem, ob sie an eine Freundin schrieb, oder ob sie ihren Lesern antwortete.
„Sei dennoch unverzagt“
Eine innere Klammer zwischen den Briefsammlungen 2016 und 2019 ist ein Gedicht des Lyrikers Paul Fleming (1609-1640), das sich auch im Titel des Buches der Wolf-Enkelin Jana Simon findet: „Sei dennoch unverzagt“ (2013). Am 10. März 1974 verweist Christa Wolf ihre Freundin Sarah Kirsch auf sein Gedicht „An sich“ mit der entsprechenden Zeile. Zehn Tage später schreibt sie zurück mit einer „Gegenleistung“: Paul Flemmings Grabschrift, „die er sich selbst gemacht in Hamburg, / den 22. März 1640, auf seinem / Todtenbette, drey Tage vor seinem / Absterben.“ Ihrer damaligen Lektorin Angela Drescher teilt Christa Wolf am 21. März 1993 mit, dass sie „den lieben Paul Fleming“ inzwischen auswendig kann:
An sich
Sei dennoch unverzagt, gib dennoch unverloren, weich keinem Glücke nicht, steh höher als der Neid.
Vergnüge dich an dir und halt es für kein Leid,
Hat sich gleich gegen dich Glück, Ort und Zeit verschworen. //
Was dich vergnügt und labt, halt alles für erkoren,
Nimm dein Verhängnis an, laß alles unbereut.
Tu, was getan muß sein und eh man dirs gebeut,
Was du noch hoffen kannst, das wird noch stets geboren. //
Was klagt, was lobt man doch? Sein Unglück und sein Glücke
Ist ihm ein jeder selbst. Schau alle Sachen an:
Dies alles ist in dir. Laß deinen eiteln Wahn, //
Und eh du förder gehst, so geh in dich zurücke.
Wer sein selbst Meister ist und sich beherrschen kann,
Dem ist die weite Welt und alles untertan.
Es war Christa Wolfs Morgen- und Abendgebet, „und für schwere Stunden zwischendurch“ ihr „Überlebenssprüchlein“.
Schicksalhaftes, Persönliches und wichtige Ereignisse der Weltgeschichte sind in ihren Briefen miteinander verwoben. Ihr Werk erschließt sich, wenn all diese Fäden lesend aufgenommen werden. So schreibt sie am 27. Mai 1986 an Sarah Kirsch: „Mein Bruder ist gerade an einem Gehirntumor operiert, zum Glück ging es gut, nun kann er aber im Sommer nur eine schonende Erholung machen.“ Im Oktober berichtet sie ihr, dass sie dies in einem Text verarbeitet hat: 1987 erscheint ihr Buch „Störfall“, in dem Ereignisse und Reflexionen jenes Tages verarbeitet werden, an dem sie die Nachricht von der Reaktorkatastrophe in Tschernobyl und die Ausbreitung der radioaktiven „Wolke“ bis Mitteleuropa empfangen hat. Es ist der Tag, an dem der Bruder der Erzählerin die Gehirntumor-OP hat. Der letzte Satz lautet: "Wie schwer, Bruder, würde es sein, von dieser Erde Abschied zu nehmen.
Das Thema Nachhaltigkeit wird hier und auch in den späteren Freundschaftsbriefen konkret. Wie aktuell alles ist, belegt auch dieser Brief von Sarah Kirsch vom 27. Januar 1990 an die Freundin: „Was die Ökologie angeht könnte man sich erschießen. Und dann noch die Kernkraftwerke! Die bei Euch sind sehr heimtückisch scheint es mir, aber auch die der Franzosen gefallen mir nicht. Sah auch einen Film aus Usbekistan wie es den Menschen da in der Baumwolle geht – erst Entlaubungsmittel, dann die Kinder als Erntehelfer. Ist so menschenfeindlich wie in Rumänien es war!“
Weiterführende Literatur:
Sarah Kirsch, Christa Wolf: Der Briefwechsel. Suhrkamp Verlag, Berlin 2019.
Christa Wolf: Umbrüche und Wendezeiten. Herausgegeben von Thomas Grimm unter Mitarbeit von Gerhard Wolf. Suhrkamp Verlag, Berlin 2019.
Christa Wolf: Man steht sehr bequem zwischen allen Fronten - Briefe 1952-2011. Herausgegeben von Sabine Wolf. Suhrkamp Verlag, Berlin 2016.
Wolf, Christa: Störfall. Nachrichten eines Tages. Aufbau Verlag, Berlin und Weimar 1987.
Sei dennoch unverzagt. Gespräche mit meinen Großeltern Christa und Gerhard Wolf. Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2013.