Gefahr der schleichenden Deindustrialisierung: Deutsche Industrie bestellt weniger Maschinen
Während die Auslandsnachfrage im Maschinenbau kräftig zulegt, fallen die Inlandsbestellungen zurück. Experten werten das als möglichen Beginn einer schleichenden Deindustrialisierung.
Am Dienstag beginnt in Berlin der jährliche Maschinenbau-Gipfel. Führende Branchenvertreter konferieren über zwei Tage sowohl mit Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) als auch Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne). Zu besprechen gibt es Dringendes: Die monatsweise veröffentlichten Zahlen zum Auftragseingang zeigen, dass die Energiepreiskrise zu einer immer stärkeren Investitionszurückhaltung bei den deutschen Kunden führt.
Jetzt Handelsblatt Premium zum Vorteilspreis sichern - Zum Angebot
So gingen die Inlandsbestellungen im August inflationsbereinigt um sechs Prozent zurück. Nominal hat das Volumen der Auftragseingänge damit stagniert, denn die Nachfrage aus dem Ausland ist gestiegen, und zudem können die Hersteller den Kostendruck teils an die Kunden weiterreichen. Das Urteil von Ralph Wiechers, Chefvolkswirt des Verbands Deutscher Maschinen- und Anlagenbau (VDMA), fällt daher nicht durchweg negativ aus: Die Zahlen könnten sich „in Anbetracht nicht enden wollender Engpässe, Preissteigerungen und Unwägbarkeiten mehr als sehen lassen“, so der Experte.
Im Umkehrschluss bedeuten die Zahlen aber auch: Die deutsche Industrie investiert derzeit deutlich weniger als üblich in neue Maschinen – und bestätigt damit den Trend einer schleichenden Deindustrialisierung. Der hatte sich bereits in den vergangenen Monaten wegen der infolge des Ukrainekriegs gestiegenen Energiepreise abgezeichnet.
Erschwerend hinzu kommen anhaltende Probleme in den Lieferketten. So klagten im September nach wie vor mehr als 80 Prozent der Maschinenbauer über Engpässe bei Materialien wie Elektronikkomponenten oder Metallerzeugnissen.
Die Zahl geht aus einer der Blitzumfragen hervor, die der VDMA bereits seit der Coronapandemie durchführt, um die akuten Probleme der Branche zu dokumentieren. Die Lieferketten sind inzwischen im zweiten Jahr eine Grundbelastung für die Industrie. Der Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine hat diese Sorgen vertieft. Hinzu kommt in der Branche seither auch die Angst um die zukünftige Energieversorgung.
So haben 70 beziehungsweise 65 Prozent der Maschinenbauer aktuell Schwierigkeiten, neue Lieferverträge für Strom und Gas zu Festpreisen abzuschließen. Zudem sind die Einkaufspreise an den tagesaktuellen sogenannten Spotmärkten erheblich gestiegen und erzwingen finanzielle Kraftanstrengungen.
Dass sich deutsche Industriekunden derzeit mit Bestellungen zurückhalten, hängt dann auch damit zusammen, dass viele Produktionsunternehmen in Deutschland ihre Kapazitäten angesichts der hohen Energiepreise derzeit entweder gedrosselt oder komplett heruntergefahren haben – während die Konkurrenz im Ausland kräftig in den Aufbau neuer Kapazitäten investieren kann.
Deutsche-Bank-Analyst: „Ausgangspunkt für beschleunigte Deindustrialisierung“
Ein Beispiel dafür ist die deutsche Düngemittelindustrie, die wegen großflächiger Produktionsstopps derzeit große Marktanteile verliert. Ein anderes sind deutsche Gießereien, die reihenweise den Betrieb einstellen – während neue Aufträge von den Kunden häufig an Konkurrenten aus Ungarn oder der Türkei vergeben werden, die weiterhin von günstigen Gaslieferungen aus Russland profitieren.
Aus Sicht von Eric Heymann, Senior Economist für die Branchen Auto, Industrie, Klimapolitik und Verkehr bei Deutscher Bank Research, hat diese Entwicklung langfristige Folgen. „Wenn wir in etwa zehn Jahren auf die aktuelle Energiekrise zurückblicken werden, könnten wir diese Zeit als Ausgangspunkt für eine beschleunigte Deindustrialisierung in Deutschland betrachten“, so der Analyst in einer aktuellen Studie. Der Anteil des verarbeitenden Gewerbes an der deutschen Bruttowertschöpfung werde in den nächsten Jahren wegen der hohen Energiekosten voraussichtlich weiter sinken.
Dabei würden die deutschen Großkonzerne wohl nur in geringem Maße unter dieser Entwicklung leiden. Denn sie können ihre Aktivitäten besser internationalisieren und Produktionsstandorte besser nach individuellen Kosten- und Kundenstrukturen wählen. „Für den deutschen Mittelstand, insbesondere in den energieintensiven Branchen, wird die Anpassung an eine neue Energiewelt eine größere Herausforderung“, so Heymann. Manche würden daran scheitern.
Für den Maschinenbau selbst bedeutet das, dass sich der Exportanteil der Branche – der aktuell ohnehin schon bei 82 Prozent liegt – langfristig weiter vergrößern könnte. Ein mögliches Vorbild könnte dabei das Untersegment des Bergbaumaschinenbaus sein, der im deutschen Heimatmarkt mangels heimischer Bergbauindustrie praktisch über keinerlei Kundenbasis verfügt. Dadurch liegt der Exportanteil in dem Segment aktuell bei 96 Prozent.
Analyst Heymann hält es indes für denkbar, dass die aktuell noch recht stabile Stimmungslage in der deutschen Investitionsgüterbranche erst mit Zeitverzögerung umschlägt. Derzeit profitierten die Hersteller noch von bereits gebuchten Aufträgen, so Heymann. „Dieser Auftragsbestand ist auf die höhere Nachfrage nach den ersten Corona-Wellen zurückzuführen, die aufgrund von parallelen Unterbrechungen der Lieferkette nicht vollständig produktionswirksam wurden.“ Es sei jedoch mehr als wahrscheinlich, dass einige Aufträge aufgrund höherer Preise, steigender Zinssätze oder einer verschlechterten wirtschaftlichen Lage der Kunden storniert würden.“
