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Gemeinsinn und Solidarität: Der Kitt zur Rettung der Demokratie?

Der Klimawandel sei Unsinn, ist immer wieder zu hören. Das würde einem der „gesunde Menschenverstand“ sagen. In der Corona-Pandemie war der Begriff besonders präsent: „Ein Idiot bleibt leider ein Idiot, ganz unabhängig von einer Pandemie oder anderen Ausnahmesituationen“, schreibt Andreas Hock, Co-Autor des Buches „Und erlöse uns von den Blöden. Vom Menschenverstand in hysterischen Zeiten“, das er gemeinsam mit der Kabarettistin Monika Gruber geschrieben hat. Das Buch entstand aus der Situation heraus. Der gesunde Menschenverstand ist für beide „der Schlüssel zu einer aufgeklärten Gesellschaft.“ Doch wie verlässlich ist er eigentlich? Der französische Philosoph und Schriftsteller Roland Barthes, einer der Gründungsfiguren des Poststrukturalismus, schrieb Mitte der 50er-Jahre in den „Mythen des Alltags“: „Bekanntlich wird der Krieg gegen die Intelligenz stets im Namen des gesunden Menschenverstands geführt.“ Fragen der Dummheit beschäftigten ihn ein Leben lang. Der „gesunde Menschenverstand“ war für ihn ein Instrument, „um komplexes Denken außer Kraft zu setzen, und zwar ohne selbst Argumente zu liefern“. Aber so einfach verhält es sich mit dem Begriff doch nicht. Dr. Robert Nehring hat darüber promoviert und nachgewiesen, dass der gesunde Menschenverstand bildliche Vorstellungen und konkrete Situationen benötigt, immer einen Schritt nach dem anderen macht und sich kein X für ein U vormachen lässt. All das trägt zur Urteilssicherheit bei. Der Begriff steht im Wesentlichen für den einfachen, erfahrungsgestützten und allgemein geteilten Verstand des Menschen. Durch seine Erfahrungsnähe erweist er sich als „sehr kompetent“ in der konkreten Anwendung von Regeln. Sein Urteil ist zielorientiert, aufs Nützliche, Angemessene und Zweckmäßige bedacht. Deshalb sei er hervorragend geeignet, den Alltag pragmatisch zu meistern.

Der Begriff „gesunder Menschenverstand“ kennt viele Bedeutungsnuancen (innerer Sinn, Hausverstand, natürliches Urteilsvermögen, Sinn für Gemeinschaft, gemeinsames Wissen, Meinung der Menge“). Er geht wie „Gemeinsinn“ auf den lateinischen Terminus‚ „sensus communis“ zurück und ist eine Übersetzung des von Aristoteles geprägten Begriffs „koinē aisthēsis“ – ein innerer Sinn mit Sitz im Herzen, der die verschiedenen Informationen der Einzelsinne zusammenfasst und beurteilt. Mit diesem Begriff erfand Aristoteles einen sechsten Sinn, der zu den bekannten fünf Sinnen des Menschen hinzukommt. Sie ermöglichen die sinnliche Wahrnehmung durch die drei Nah-Sinne Berühren, Schmecken und Riechen, sowie der weiteren Umgebung durch die beiden Fern-Sinne Sehen und Hören. Der sechste Sinn führt das Wissen der anderen fünf Sinne zu einer „gemeinsamen Wahrnehmung“ zusammen. Bei der Bedeutung, auf die auch Robert Nehring verwies, geht es vor allem um die soziale Übereinkunft mit anderen Menschen, die vor allem seit der Aufklärung als eine notwendige Grundlage der individuellen Wahrnehmung gilt. In ihrem aktuellen Buch „Gemeinsinn“ verweisen die Kulturwissenschaftler Aleida und Jan Assmann (es ist letzte gemeinsame Werk des Ehe- und Forscherpaars, der Ägyptologe starb im Februar 2024) auf die Geschichte:

  • Sensus communis 1: Der sechste Sinn, der die Informationen der anderen fünf Sinne zu einer gemeinsamen Wahrnehmung zusammenführt (Aristoteles)

  • Sensus communis 2: Der gesunde Menschenverstand, den wir mit anderen Menschen teilen (schottische Philosophen und Immanuel Kant)

  • Sensus communis 3: Die sozialen Pflichten, die wir gegenüber unseren Mitmenschen haben (Cicero, Seneca und die Stoa).

Englische und schottische Philosophen wie Shaftesbury, Hutcheson und Hume haben diese sozialanthropologische und intersubjektive Variante des common sense im 18. Jahrhundert aufgegriffen und weiterentwickelt. Die angelsächsische Tradition hat auch die deutsche Aufklärung stark beeinflusst. An den common sense schließt sich auch Kants Analyse des Geschmacks „als einer Art von sensus communis“ in seiner Kritik der Urteilskraft an. „Gemein“ bedeutet hier, dass etwas mit anderen geteilt wird. Die Autoren verweisen darauf, dass die Denktradition des Gemeinsinns zeigt, dass es „politisch, gesellschaftlich oder kulturell von Vorteil sein, mit anderen übereinzustimmen.“ Der Begriff geht von Einzelnen aus und entsteht innerhalb einer Gruppe – er setzt ein Bewusstsein von Gemeinsamkeit voraus. Es geht aber auch um Menschenbilder und Beziehungsgrammatiken, die darauf hin untersucht werden, ob sie eher dazu tendieren, Distanz, Schranken und Grenzen zwischen Menschen und Gruppen zu errichten, oder ob sie mit gemeinsinnigen Strukturen vereinbar sind.

Aleida und Jan Assmann zeigen in ihrem Buch kulturelle Rahmenbedingungen für Gemeinsinn auf und leisten damit auch einen wesentlichen Beitrag zur Stärkung der Demokratie, die in ihrem Buch eine besondere Rolle spielt: Gezeigt wird, dass sich nach dem Sturz der Berliner Mauer und dem Ende des Kalten Krieges viele Staaten zu dieser Regierungsform bekannten und eine Mitgliedschaft in der EU anstrebten. Doch es entstanden in den vergangenen Jahren massive Gegenbewegungen wie radikale nationalistische Parteien, die in demokratischen Ländern an Zulauf gewinnen. Sie polemisieren offen gegen Pluralismus und Menschenrechte. In ihrem Buch fragen die Kulturwissenschaftler nach den Gründen, warum die Demokratie an Überzeugungskraft verloren hat und der Blick auf das Gemeinwohl der Gesellschaft abhandengekommen ist. Diskussionen werden heute immer erregter und dienen „nichts anderem als einer kategorischen Veränderungsverhinderung“. Wir haben es mit kompromisslosen Umgangsformen zu tun. Es geht vor allem um einen „Schlagabtausch“, die eigene Meinung kundzutun und zu verteidigen, verbunden mit einer Anpassung an das „populistische Klima“. Die gesellschaftspolitischen Debatten sind von schroffen Alternativen geprägt.

So geht es beispielsweise um die Frage: Brauchen wir universale Werte, oder müssen die Eigenarten unterschiedlicher Nationen und Kulturen anerkannt werden? Aleida und Jan Assmann zeigen, dass es kein ODER gibt, weil wir beides brauchen: universale Werte UND den Respekt vor kollektiven Identitäten. Populismus, Hass und Hetze setzen sie den sechsten, sozialen Sinn entgegen und zeigen auf, dass Menschen auch empathisch, respektvoll und gemeinschaftlich fühlen und handeln können. Viele der hier angesprochenen Themen finden sich auch im Herausgeberband „Bauchgefühl im Management. Die Rolle der Intuition in Wirtschaft, Gesellschaft und Sport“, das während der Corona-Pandemie erschien und auch sämtliche Begriffe um den gesunden Menschenverstand (Bauchgefühl, innere Stimme, Intuition) in ein entsprechendes Verhältnis setzt. Auch ein zusammenfassender Beitrag von Dr. Robert Nehring ist enthalten. Diese Begriffe bilden den Rahmen sämtlicher Publikationen des Herausgeberteams – die Basis des Gemeinsinns:

AltruismusGutes tun: Warum uns das Richtige heute fassungslos macht

DankbarkeitBedeutung und Glück der Dankbarkeit

DenkenKlares Denken, Erkenntnisgewinn und Meinungsbildung: Wie wir immun gegen Unsinn werden

DiversitätWer Diversität fördert, handelt nachhaltiger

EmpathieKlimaschutz und Empathie: Treibstoff einer anständigen Gesellschaft

EngagementEhre! Kein Amt: Warum bürgerschaftliches Engagement heute unverzichtbar ist

FairnessHat Fairness als Grundhaltung des Menschen heute ausgedient?

GemeinwohlGemeinwohl ist, was uns alle angeht

GroßzügigkeitGroßzügigkeit macht Menschen glücklicher

HöflichkeitHöflichkeit: ein Statement gegen die Gräuel dieser Welt

IntuitionWir haben die Wahl: Warum auch unsere innere Stimme zählt

Klarheit„Klarheit, bitte!“ Was es für ein souveränes demokratisches Europa braucht

ManierenWas eine zivilisierte Gesellschaft ausmacht

NachhaltigkeitSubstanz statt Manipulation: Warum wir den Begriff Nachhaltigkeit nicht aufgeben dürfen

ResilienzResilienz der Generationen: Was Wirtschaft und Gesellschaft jetzt zusammenhält

SolidaritätWarum es nur gemeinsam geht: Renaissance der Solidarität

MoralDer Ursprung der Moral? Tauschen und leihen statt kaufen

MutEuropa und wir: Geschichte(n) zwischen Mut und Angst

WerteHaben traditionelle Werte ihren Einfluss heute eingebüßt?

ZusammenhaltWie kann gesellschaftlicher Zusammenhalt in herausfordernden Zeiten gestärkt werden?

  • Aleida Assmann und Jan Assmann: Gemeinsinn. Der sechste, soziale Sinn. Verlag C.H.Beck oHG, München 2024.

Dr. Alexandra Hildebrandt schreibt über Wirtschaft & Management, Nachhaltigkeit, Digitalisierung, Internet & Technologie

Als Publizistin, Herausgeberin, Bloggerin und Nachhaltigkeitsexpertin widme ich mich den Kernthemen Nachhaltigkeit und Digitalisierung. Beim Verlag SpringerGabler habe ich die CSR-Bände zu Digitalisierung, Energiewirtschaft und Sportmanagement herausgegeben sowie "Klimawandel in der Wirtschaft".

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