Generation Erfahrung: Wie dem demografisch bedingten Fachkräfteschwund entgegengewirkt werden kann
In den nächsten Jahren geht ein Großteil der Babyboomer-Generation in den Ruhestand. Die Erwerbsbeteiligung Älterer wird vor diesem Hintergrund immer bedeutsamer. Ziel der Bertelsmann-Studie „Beschäftigungspotenziale Älterer – Umfang und Realisierungschancen bis 2035“, die gemeinsam mit Wissenschaftlern vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) entstand, ist es, die aktuell vorhandenen Potenziale der nicht- oder unterbeschäftigten Älteren (55- bis 70-Jährige) zu beschreiben und die aktivierbaren Erwerbspotenziale mit Hilfe von Szenarien bis zum Jahr 2035 abzuschätzen.
Der demografische Wandel lässt die Zahl der Menschen im Alter zwischen 55 und 70 Jahren in den nächsten Jahren erheblich sinken: Statt 18,46 Mio. Personen im Jahr 2020 werden es im Jahr 2035 nur noch 16,95 Mio. sein. Auch der höhere Anteil von besser Gebildeten mit einer höheren Erwerbsneigung in den jüngeren nachrückenden Alterskohorten kann den Rückgang nicht aufhalten. Die Zahl der Vollzeitbeschäftigten schrumpft sogar besonders stark.
Drei Viertel der Personen zwischen 65 und 70 Jahren (etwa 3,4 Mio. Menschen) kämen potenziell für eine Erwerbstätigkeit in Betracht.
Drei Viertel der Älteren im Ruhestand (3,4 Mio. Rentner:innen zwischen 65 und 70 Jahren) sind körperlich so fit, dass sie zumindest potenziell für eine Erwerbstätigkeit in Betracht kommen. Etwa 1,2 Mio. der Nichterwerbstätigen in Rente sind erwerbsgemindert. Das betrifft die überwiegende Mehrheit der unter 63-Jährigen. Sie können in der Regel keine Arbeit mehr aufnehmen und sind somit nicht Teil des Erwerbspotenzials.
Bis zum Jahr 2035 schrumpft das deutsche Erwerbspersonenpotenzial, in einer breiten Definition gemessen an der Zahl der Personen im Alter zwischen 15 und 75 Jahren, um ca. 4 Mio. Menschen: Von ca. 62 Mio. auf ca. 58 Mio Personen. Bis zum Jahr 2050 könnte sich der Rückgang bis auf 54 Mio. Personen fortsetzen.
Durch den Fachkräftemangel gingen der deutschen Wirtschaft im Jahr 2023 Produktionskapazitäten im Wert von 49 Milliarden Euro verloren. Das hat nicht nur Folgen für die einzelnen Branchen und Betriebe, sondern auch für Regionen, Lieferketten, Konsument:innen und die sozialen Sicherungssysteme.
Digitalisierung und Dekarbonisierung verlangen nach Kompetenzen, die auf dem Arbeitsmarkt nur unzureichend vorhanden sind. Mit dem Renteneintritt der Älteren gehen weitere Kompetenzen verloren. Um hier gegenzusteuern, braucht es eine höhere Erwerbsbeteiligung und gezielte Qualifizierungen.
Die meisten der älteren Nichterwerbstätigen (4,9 Mio.) sind im Ruhestand. Etwa ein Viertel davon ist jedoch in so schlechter gesundheitlicher Verfassung, dass auch sie nicht mehr arbeiten können.
1,36 Millionen Vollzeitbeschäftigte - so groß ist das Potenzial, das in der Altersgruppe der 55- bis 70-Jährigen bis zum Jahr 2035 aktiviert werden kann (damit ließe sich der demografisch bedingte Rückgang der Erwerbstätigkeit in dieser Altersgruppe ausgleichen). Um das Potenzial zu aktivieren, braucht es passende Rahmenbedingungen und ein umfassendes Maßnahmenpaket von Politik und Wirtschaft).
Unbesetzte Stellen führen in Unternehmen zu verzögerter Auftragsabwicklung, Verlust an Produktion und Schließungen.
Ca. 30 Prozent geben konkrete Hemmnisse, wie fehlende Vollzeitarbeitsplatze, Krankheit und persönliche und familiäre Verpflichtungen, als Hauptgrund für die Teilzeittätigkeit an. Die Gruppe der Rentenbeziehenden bildet mit etwa 800 Tsd. Personen eine große Teilgruppe der Teilzeitbeschäftigten. Ihre Aktivierung ist vielversprechend (große Gruppe).
45 Prozent geben an, Teilzeit arbeiten zu wollen. Dieser Grund wird mit dem Alter bedeutender, häufiger von Frauen als von Männern genannt und ebenfalls häufiger, wenn ein Partner oder eine Partnerin bereits eine Rente bezieht oder das Haushaltseinkommen hoch ist.
Teilzeitbeschäftigte bilden die zweitgrößte Gruppe innerhalb der älteren Erwerbspersonen. Mit einem durchschnittlichen Arbeitsumfang von 20,3 Wochenstunden könnten sie ihre Tätigkeit um eine halbe Vollzeitstelle aufstocken (Vollzeitäquivalent von 1,8 Mio. zusätzlichen Erwerbstätigen).
Die höhere Alterserwerbstätigkeit in Schweden geht u. a. auf eine niedrigere Teilzeitquote zurück sowie auf eine höhere Wochenstundenzahl bei den Teilzeitbeschäftigten. Für eine vergleichbare Teilzeitbeschäftigung müssten in Deutschland etwa 560.000 Ältere von Teilzeit auf Vollzeit wechseln. Die verbliebenen Teilzeitbeschäftigten müssten zudem ihre Arbeitszeit um durchschnittlich 4,3 Wochenstunden aufstocken.
Im Kontext der Studie sollten auch die Ergebnisse des DAK-Gesundheitsreports 2023 betrachtet werden: Der Anteil der Beschäftigten ab 50 Jahren, die ihre aktuelle Leistungsfähigkeit als deutlich eingeschränkt bewerten, erhöht sich mit zunehmendem Alter und liegt in dieser Altersgruppe bei ca. 8 Prozent. Allerdings geben rund 53 Prozent der Beschäftigten ab 50 Jahren an, dass sie über eine volle Leistungsfähigkeit verfügen. Bei den Beschäftigten in der mittleren Altersgruppe liegt dieser Anteil mit 57 Prozent nur geringfügig höher. Kritisiert wird, dass die betrieblichen Angebote zur gezielten Unterstützung älterer Beschäftigter (beispielsweise zur altersgerechten Gestaltung des Arbeitsplatzes und/oder der Arbeitsaufgaben, spezielle Aus- und Weiterbildungsangebote) bei weitem noch nicht ausreichend auf- und ausgebaut sind. Viele ältere Beschäftige (ab 50 Jahren) wünschen sich ein stärkeres Engagement ihrer Arbeitgebenden und würden solche Angebote auch nutzen.
Unternehmen:
Altersgerechte Arbeitsorganisation und Gestaltung der Arbeit (ergonomische Arbeitsplatzgestaltung, Angebote zur Arbeitsorganisation)
Arbeitsmodelle müssen individuell auf die Beschäftigten zugeschnitten sein (persönliche Entwicklungspläne, regelmäßige Feedback-Gespräche und Freiräume für eigenverantwortliches Arbeiten)
Angebot von flexiblen Arbeitszeitmodellen
Bessere Aufklärung über die Optionen zur Weiterarbeit neben dem Bezug einer Rente
Diversity Management: Altersgemischte Teams (ältere Mitarbeitende werden gezielt in Teams mit jüngeren zusammen eingesetzt)
Flexirente als attraktives Angebot, um ältere Beschäftigte im Unternehmen zu halten
Gesundheitsmanagement: Maßnahmen zur Gesundheitsförderung und zum Erhalt der Arbeitsfähigkeit auch im höheren Erwerbsalter
Frühzeitige Klärung, ob ältere Beschäftigte über die Regelaltersgrenze hinaus arbeiten möchten. file:///C:/Users/user/Downloads/Beschaeftigungspotenziale_AElterer_Auf_den_Punkt.pdf
Grundlage für die zunehmende Beschäftigung Älterer: eine darauf ausgerichtete Unternehmenskultur (wertschätzendes Bewusstsein für ältere Kolleg:innen)
Unterbreitung von Weiterbildungsangeboten (unabhängig vom Alter)
Systematische Gestaltung des Wissenstransfers zwischen Jüngeren und Älteren (Kombination aus Erfahrung und frischem Wissen).
Politik:
Finanzielle Anreize (renten- und steuerrechtliche Vorteile bei Weiterarbeit)
Stärkere Nutzung der Arbeitsmarktinstrumente für Ältere, die auch stärker bei der Stellenvermittlung berücksichtigt werden und durch Coachingmaßnahmen für einen Wiedereinstieg in den Job vorbereitet werden sollten
Anpassung des Arbeitsrechts, dass Arbeitsverhältnisse mit Rentner:innen flexibel geschlossen und beendet werden können
Schaffung von finanziellen Anreizen in der Steuer- und Sozialpolitik ( weitere renten- und steuerrechtliche Entlastungen über die Regelaltersgrenze hinaus)
Förderung des Ausbaus und der Finanzierung der Betreuungsinfrastruktur
Teilzeitbeschäftigte sollten einfacher von Mini-Jobs in eine Beschäftigung mit höherer Stundenzahl sowohl in Teil- als auch in Vollzeit wechseln können.
Weiterbildung: Förderung des Erhalts der Beschäftigungsfähigkeit.
Im Alter lassen sich neue Denkweisen, neue Beziehungsformen und neue Verhaltensrollen zwanglos erproben und in die eigene künftige Lebensführung umsetzen.
Ältere Mitarbeitende sind grundsätzlich weniger geneigt, den Arbeitsplatz zu wechseln als jüngere Mitarbeiter.
Diversität: Altersgemischte Teams können Innovationskraft schaffen und die Wettbewerbsfähigkeit stärken, sie sind kreativer und innovativer als altershomogene Teams (Werner Neumüller: „Wer Diversity im Unternehmen heute ausklammert, kann heute und in Zukunft keine nachhaltig erfolgreichen Geschäfte machen.“)
Breiteres Erfahrungsspektrum der Mitarbeitenden: Ältere haben viel Erfahrung und Fachwissen gesammelt, verfügen häufig über für das Unternehmen nützliche Netzwerke und sind schnell (wieder) eingearbeitet.
Profitierung von öffentlichen Fördermöglichkeiten (z.B. Eingliederungszuschuss oder Förderung nach dem Qualifizierungschancengesetz)
Schaffung nachhaltiger generationsübergreifender Mentoring-Beziehungen
Sicherung der Zukunftsfähigkeit des Unternehmens.
In der Neumüller Unternehmensgruppe sind Ältere sind nicht mehr „nur“ angehende Ruheständler:innen, sondern potenzielle Beschäftigte, die wertvolle Erfahrung und Wissen aus jahrzehntelanger Berufstätigkeit mitbringen. Der Geschäftsführer und Personalexperte Werner Neumüller bemerkt, dass bei ihm langjährige ältere Mitarbeiter schon immer mit „Ausbildungs- oder Aufsichtstätigkeiten in die Rente gebracht und nicht in den zeitweise günstigen Vorruhestand verabschiedet“ wurden. Er legt ihre langjährige Erfahrung und ihr Wissen großen wert - nicht nur in Bezug auf die Verfahren und Techniken, „sondern auch in Bezug auf Stammkunden und kommunikative Führung der Mitarbeitenden.“ Erfahrene Mitarbeitende sind hier häufig auch als Mentoren tätig. Die Einbindung der Älteren ist für die Zukunftsfähigkeit seines Unternehmens essentiell - vor allem in Zeiten des zunehmenden Fachkräftemangels. Jung und alt werden im Team gleichgestellt, so dass das Unternehmen von den jeweiligen Arbeitsweisen in der Leistung profitiert werden kann. Die Nachfrage nach befähigten älteren Mentoren für die qualifizierte Beratung von Führungskräften wird sich künftig nach Ansicht des Personalexperten noch erhöhen. Das ist allerdings nicht selbstverständlich: Häufig dominieren in Unternehmen noch Altersbilder, die dem Defizitmodell des Alters anhängen. Es besagt, dass die Leistungsfähigkeit generell mit dem Alter sinke und Ältere deshalb weniger produktiv seien als Jüngere.
Bertelsmann Stiftung (Hrsg.): Hermann Buslei, Dr. Johannes Geyer, Prof. Dr. Peter Haan, unter Mitarbeit von Pablo Neitzsch: Beschäftigungspotenziale Älterer. Umfang und Realisierungschancen bis 2035. Gütersloh 2024.
Gesellschaft des langen Lebens: Wie gewonnene Jahre zu erfüllten werden
Bauchgefühl im Management. Die Rolle der Intuition in Wirtschaft, Gesellschaft und Sport. Hg. von Alexandra Hildebrandt und Werner Neumüller. SpringerGabler Verlag 2021.
Alexandra Hildebrandt und Werner Neumüller: Visionäre von heute – Gestalter von morgen. Inspirationen und Impulse für Unternehmer. Hg. von Alexandra Hildebrandt und Werner Neumüller. Verlag SpringerGabler, Heidelberg, Berlin 2018.
Irène Kilubi: Generationenübergreifende Zusammenarbeit als Erfolgsfaktor für zukünftige Innovationen in Europa. In: Innovationsökosysteme. Netzwerke nutzen und Innovationskraft steigern. Hg. von Klaus-Michael Ahrend/Katrin Redmann. Schäffer-Pöschel Verlag, Stuttgart 2023, S. 53-72.