Generation Mauerfall: Worauf es im Leben wirklich ankommt
„Die vorgegebenen Werte zu hinterfragen, und uns darauf zu besinnen, worauf es im Leben wirklich ankommt, das ist die große Chance unserer Zeit." (Michael Nast)
Die Generation Mauerfall musste zunächst einmal lernen, sich im neuen gesellschaftlichen System zurechtfinden. Als Vierzehnjähriger hatte der Autor Michael Nast, der mit „Generation Beziehungsunfähig" den Bestseller des Jahres 2016 schrieb und zum Sprachrohr einer ganzen Generation wurde, das Glück, „noch einige Jahre Zeit zu haben, um in das neue System hineinzugleiten. Für die Älteren war der Schnitt viel härter. Da wurden oft ganze Biografien zerstört.“ Sein aktuelles Buch „Vom Sinn unseres Lebens“ widmet sich Missverständnissen zwischen Ost und West. Das größte Missverständnis ist für ihn die Verwendung des Begriffs „Zusammenwachsen“, mit dem gemeint war, „dass sich die Ostdeutschen an das System des Westens anpassten. Ihre Identität auflösten, bis sie nicht mehr vorhanden war. Wir sollten sie löschen und ersetzen. Genau genommen war es eine Aufforderung zur Selbstentfremdung.“ Nachhaltig wäre es seiner Meinung nach gewesen, das Beste aus beiden Mentalitäten zu vereinen.
Die Chance der Wiedervereinigungsgeneration wurde seiner Meinung nach verpasst. In Zeiten des Umbruchs, in der sich durch die digitale Revolution vieles einschneidend ändern wird, ist für ihn eine Frage der Vereinigung keine mehr zwischen Ost und West – „jetzt betrifft es uns alle. Wir werden immer mehr aufeinander angewiesen sein, als Menschen. Das könnte zu einer wirklichen Vereinigung führen.“ Nast beschreibt aber auch die beiden großen Brüchen in seinem Leben und was sie mit ihm gemacht haben: Der erste war der Mauerfall, der zweite findet gerade statt. Die digitale Revolution wird Auswirkungen auf sämtliche Lebensbereiche haben. „Der Wohlstand, den wir als selbstverständlich ansehen, wird sich nicht halten lassen. Die Arbeitslosigkeit wird sich erhöhen, die Schere zwischen Armen und Reichen wird sich immer weiter öffnen. Im Leben von immer mehr Menschen wird es zu Brüchen kommen.“ Diese Erfahrungen haben die Ostdeutschen bereits 1990 machen müssen. Heute sind alle von gesellschaftlichen Umbrüchen (demografischer Wandel, Umweltthemen, zerfallende Gemeinschaften) betroffen.
In den Zeiten von Konsum- und Selfie-Wahn, Selbstoptimierung und Ichbezogenheit stellt Nast die Sinn-Frage: Worum geht es im Leben eigentlich? Gibt es möglicherweise sogar Werte aus dem damaligen Osten, die unserer Gesellschaft heute wieder guttun würden? Durch den Wechsel der Gesellschaftssysteme verschob sich innerhalb kürzester Zeit alles. So wurden zwischenmenschliche Werte wie Hilfsbereitschaft, die er als selbstverständlich und wichtig empfand, plötzlich als Schwächen gesehen. Es sind Werte der Menschlichkeit, die in der DDR mehr kultiviert wurden als heute – nicht durch das System, sondern bedingt durch das System. Durch die ständige Krise, in einer Diktatur und Mangelwirtschaft zu leben. Es wurde versucht, sich der Allgegenwart des Staates zu entziehen, indem sich die meisten ins Private zurückzogen und Werte kultivierten, die dort wichtig waren. „Es ging darum, im kleinen Kreis seiner Nische füreinander da zu sein, es ging um ein Miteinander, nicht um ein Gegeneinander. Wenn man menschliche Werte lebte, verstand man sich als erfolgreich im Leben. Sie zu kultivieren war ein Statussymbol, denn Reichtum und Besitz hatte das System ja nicht wirklich zu bieten.“
Zur Wendezeit 1989 war Franziska Herbst fünf Jahre alt. Die ist staatlich geprüfte Kommunikationswirtin arbeitete während und nach ihrem Studium als Projektmanagerin. Aufgewachsen ist sie ebenfalls in der DDR. In besonderer Erinnerung ist ihr der abrupte Wechsel von der Feier „40 Jahre DDR“ zu „Wir stehen in der Schlange und tauschen Geld um“. Zudem gab es 1991 „in der Schultüte noch nicht die Fülle an tollen Dingen, wie 1993. Diesen Unterschied kenne ich aufgrund meines jüngeren Bruders, und noch heute knappere ich daran, wie voll seine Zuckertüte war und von wem er alles Geschenke erhielt. Meine war auch voll, nur seine war aufgrund der Verfügbarkeit bestimmter Produkte voller.“
Den Mauerfall empfindet sie nicht als wichtigsten Umbruch in ihrem Leben, weil sie zu diesem Zeitpunkt noch zu jung war. Allerdings erinnert sie sich, dass ihr Vater seinen Job verlor und zur Ausbildung in „den Westen“ ging. Anschließend nahm er eine Führungsposition an, und die Familie musste von der Ostseeküste nach Sachsen-Anhalt ziehen. Dies war für sie durchaus einschneidend. „Ansonsten war es einfach ein Erlebnis plötzlich durch Grenzgänge fahren zu dürfen: zum Beispiel zum Familienurlaub nach Dänemark. Der geöffnete Grenzübergang bei Marienborn machte ganz schön Eindruck auf mich. Heute ist vom ‚alten Charme‘ kaum noch etwas zu sehen.“
Das zwischenmenschliche Miteinander hat sich ihrer Wahrnehmung nach stark verändert. Sie verweist beispielsweise auf gute Manieren: „Wer weist heute ein fremdes Kind noch zu Benehmen an bzw. muss anschließend nicht mit einem Konflikt mit den Eltern rechnen? Als Kind war es damals für mich normal, dass Schimpfe von überall kommen kann und das war ok, denn das Gleiche galt auch für Hilfe. Besonders einprägsam war die ‚Hexe‘ an der Ecke bei meinen Großeltern, die kam nämlich mit Stock und wir mussten schnell sein. Habe ich mal ein negatives Wort über sie verloren, da sie ‚unberechtigterweise‘ mit uns schimpfte, erklärten mir meine Großeltern, wie das Miteinander funktioniert, und dass ich vor dieser Frau Achtung zu haben habe. Gleiches galt gegenüber ihrem alkoholkranken Sohn: Abstand und Achtung waren ein Teil der Gesellschaft, und jeder hat Respekt verdient.“ Missverständnisse zwischen Ost und West sieht sie im Bereich Selbstvertrauen und Selbstverständnis: „Die einen eher auf sich konzentriert, und die anderen eher auf die Gemeinschaft, aber auch das ist hier zu allgemein und trifft es wohl nicht gänzlich.“
Umbrüche machen den meisten Menschen erst einmal Angst. Die große Chance ist für Michael Nast, dass sich der Mensch erwiesenermaßen in Krisenzeiten weiterentwickelt: „In Zeiten der Einschränkungen begreift man erst, worauf es im Leben tatsächlich ankommt, welche Werte man eigentlich pflegen und kultivieren müsste und worauf man angewiesen ist.“ Dies vermittelt auch der Online-Weiterbildungsanbieter, für den Franziska Herbst tätig ist. Dort unterstützt man Menschen, mutig Neuanfänge und Aufbrüche zu wagen. Menschen, die sich hier für eine Weiterbildung entscheiden, „befinden sich unter Umständen in einer Lebenssituation, in der sich gerade alles verändert oder in der sie für sich erkannt haben, dass es so nicht weitergeht bzw. dass noch mehr geht.“ Sie beobachtet, dass einige von ihnen „vor Selbstbewusstsein und innerem Vertrauen“ strotzen, andere jedoch trotz ihrer Erfahrung und ihres Wissensschatzes an sich zweifeln. Es ist für viele eine Herausforderung und ein emotionaler Prozess, „das Lernen wieder zu lernen und Prüfungen zu absolvieren.“ Persönlich hat sie Weiterbildungen früher als einen „rein sachlichen Prozess“ erlebt: „Hingehen, lernen, Prüfung absolvieren und Zertifikat erhalten, fertig.“
Menschen sind nach Aristoteles dann am glücklichsten, wenn sie ihre Fähigkeiten entfalten können. Gute Arbeit ist ein Teil des Selbst und der eigenen Würde, ermöglicht Lernprozesse, enthält aber auch Elemente der Muße. Schlechte Arbeit hat dagegen mit andauerndem Druck zu tun und der absurden Vorstellung, dass nur Leistung bringt und geliebt wird, wer immer „dranbleibt“. Damit verbunden ist die Empfindung des eigenen Ungenügens, dem Gefühl, dass etwas von einem erwartet wird, was nicht geleistet werden kann. Dazu finden sich unter anderem Beispiele aus Sport und Politik (Bereichen, die besonders der öffentlichen und gesellschaftlichen Bewertung ausgesetzt sind) in Katja Kraus‘ Buch „Freundschaft“. Besonders lesenswert ist in diesem Zusammenhang auch das Kapitel über den in Leipzig geborenen Fußballtorwart René Adler: Er vertritt die These, dass für jene, die in er DDR aufgewachsen sind, Leistung eine „ganz spezielle Bedeutung“ hat. Von klein auf wurde ihm vermittelt, dass er „arbeiten, arbeiten, arbeiten“ müsse, um nach oben zu kommen. Ihn quälte immer das schlechte Gewissen, nicht alles für den Erfolg getan zu haben. Das ist für ihn eine „kranke Konditionierung“: „Ich bin wie viele Ost-Sportler extrem perfektionistisch, muss gebremst werden, weil ich mich immer weiter verbessern will.“
Der beste Freund von René Adler kommt aus der DDR: Beide haben die gleiche Sozialisation erfahren und sind „Macher, ostdeutsch“. Freundschaft ist für sie mit Nachhaltigkeit verbunden, denn sie ist etwas, das bis heute geblieben ist. Und nicht nur für sie. So betonte die ebenfalls in der DDR aufgewachsene Schauspielerin Christiane Paul in einem Interview, dass hier „Werte wie Solidarität, Hilfsbereitschaft, Freundschaft vordergründig wichtig waren“, auch politisches Bewusstsein und Ehrlichkeit – auch wenn es gleichzeitig „die Staatssicherheit mit Bespitzelung und Verrat“ gab und man oft nicht wusste, wem man vertrauen konnte. Dennoch gab es tiefe menschliche Verbindungen, „die weit weg von materiellen Interessen standen, die nichts mit dem heutigen ‚Networking‘ zu tun haben.“
Weiterführende Literatur:
Michael Nast: Vom Sinn unseres Lebens. Und andere Missverständnisse zwischen Ost und West. Edel Books, Hamburg 2019.
Michael Nast: Generation Beziehungsunfähig. Verlag Edel Germany GmbH, Hamburg 2016.
Stephanie Pohlmann: Sport und nachhaltige Entwicklung. Warum eine ganzheitliche Gesundheitsbildung unverzichtbar ist. In: CSR und Sportmanagement. Hg. von Alexandra Hildebrandt. SpringerGabler Verlag, Heidelberg, Berlin 2019.
Katja Kraus: Freundschaft. Geschichten von Nähe und Distanz. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2015.