Gesellschaft in Reparatur: Was wir tun können, um sie wieder ganz zu machen
Unsere Gesellschaft ist kaputt. In immer kürzeren Abständen versagen Maschinen, Gerätschaften und Alltagsprodukte ihren Geist, weil sie ein eingebautes Verfallsdatum haben, das Konsumenten zwingt, sofort neue zu kaufen. Zugleich wird mit ständig wechselnden materiellen Gütern das Vakuum an Sinn gefüllt. Doch seit einigen Jahren gibt es eine neue kulturkritische Haltung: „Statt kaputt zu machen, was einen kaputt macht – repariert man’s.“
Reduktionen, Reparaturen und Recycling, die alle mit dem Ende der geplanten Obsoleszenz verbunden sind, schaffen neue Beschäftigungen, die alle Generationen einbezieht – und machen glücklich, weil es sinnvolle Themen und Aufgaben sind, die zugleich mit den großen Fragen des Lebens zusammenhängen: Was ist mir wichtig? Was bleibt am Ende? Was soll weitergegeben werden? Was hält das eigene Leben und die Gesellschaft im Inneren zusammen?
Sinn entsteht mit der Erfahrung von Sinnlichkeit: Wir begreifen von außen Dinge nur, die wir auch von innen verstehen. So sollten sich Produkte auseinanderbauen und selbst reparieren lassen können. Auf Nachfrage beim Ökoversender memo AG verweist die Kommunikationsverantwortliche Claudia Silber auf den Bereich Bürostühle, in dem die Produkte konsequent ökologisch durchdacht und mehrfach für Design und Nachhaltigkeit ausgezeichnet sind: viele Einzelteile bestehen aus Recyclingmaterialien. Zudem können die ökologischen Sitzbezüge ausgetauscht werden. Auch wenn Bürostühle nicht repräsentativ für den Onlineversender und hier „eher das Thema Langlebigkeit und Qualität eine wichtige Rolle spielt“, so zeigt sich an diesem Produktschwerpunkt das, worum es im Großen geht, auf sehr schöne Weise im Kleinen.
Lothar Hartmann ist seit 1996 für den Bereich Qualitäts- und Nachhaltigkeitsmanagement der memo AG zuständig. In einem Artikel des Meinungsmediums „der Freitag“ verweist er auch auf den Aspekt der nachwachsenden Rohstoffe: „Die Ummantelung mancher Heftgeräte und Locher besteht beispielsweise aus einem hohen Anteil dieser Materialien. Auch Schreibgeräte und weitere Schreibtisch-Accessoires sind aus nachwachsenden Rohstoffen erhältlich. Der Vorteil dieser Produkte ist, dass sie nicht aus erdölbasierten Kunststoffen bestehen und in der Herstellung geringere Emissionen verursachen.“
Wolfgang M. Heckel bemerkt in seinem Buch „Die Kultur der Reparatur“: "Die Kultur der Reparatur basiert auf Kenntnissen, auf Können, auf analytischem Denken, aber auch auf Lebensklugheit, auf Wertschätzung und, vor allem Achtsamkeit. Wie ich mich gegenüber materiellen Dingen aus meiner Umgebung verhalte, sagt etwas über mich als Mensch." Zugleich erbringt er den Nachweis, dass es 10.000 Jahre lang normal war, defekte Gegenstände zu reparieren. Sie wegzuwerfen hat sich erst in den letzten Jahrzehnten etabliert. Heckl gehört zur Spitze der Do-it-Yourself-Bewegung und zeigt in seinem Buch gangbare Wege zu mehr Autonomie von der Industrie. Dazu gehören auch die Repair-Cafés, die inzwischen überall in Deutschland zu finden sind und deren Ziel es ist, regionale Hilfe zur Selbsthilfe zu stärken und Menschen, die gern in Gemeinschaft Produkte reparieren oder dies mit organisatorischen Arbeiten unterstützen und begleiten, miteinander zu vernetzen. Repair Cafés spielen ebenfalls eine bedeutsame Rolle im Buch „Murks? Nein danke!“ von Stefan Schridde, das aufzeigt, was wir tun können, damit die Dinge besser werden.
Der französische Ökonom und Philosoph Serge Latouche rechnet in seinem Buch „Es reicht!“ nicht nur mit dem Wachstumswahn ab, sondern zeigt ebenfalls viele zusammenhängende, sich gegenseitig verstärkende Schritte zum Aufbau einer autonomen Degrowth-Gesellschaft, die sich dem gelingenden Leben und der nachhaltigen Verwendung von Dingen zuwendet. Damit sie auf natürliche Weise gedeihen kann, braucht es nicht nur Achtsamkeit und Bewusstheit, sondern auch Fähigkeiten, die im Laufe der Zeit immer mehr verlorengegangen sind. Mehr denn je benötigen wir heute eine Könnensgesellschaft, die sich auszeichnet durch:
• bewusste Lebensführung und Lebenskunst
• Unabhängigkeit von unverständlichen Dingen
• Förderung der eigenen Urteilsfähigkeit (unter anderem durch Reparieren)
• selbstbestimmtes Handeln
• eine Neudefinition von Arbeit und Handwerk
• nachhaltigen Konsum
• Qualität und Haltbarkeit der Produkte
• bewussten Konsum
• die „Produktion“ von zwischenmenschlichen „Gütern“ wie Freundschaft oder gute Nachbarschaft
• einen anderen Umgang mit dem Thema Nachhaltigkeit und seiner Kommunikation.
Nachhaltigkeit sollte in der Kommunikation näher am Menschen sein, braucht Leidenschaft (auch für Details) und einen „handfesten“ Bezug – auch in der privaten Nische. In „What‘s Wrong with the World“ behauptete der englische Schriftsteller und Journalist G.K. Chesterton, dass das Zuhause der einzige Ort der Freiheit und der Anarchie ist. „Es ist der einzige Fleck auf Erden, wo man urplötzlich seine Entschlüsse ändern, ein Experiment machen oder sich einer Laune überlassen kann“. Ähnlich ist es auch beim Reparieren. Hier werden Dinge selbst in die Hand genommen. Das ist für viele auch das kleine Glück: sich eine Falte zu formen, in der sie in schnelllebigen und unübersichtlichen Zeiten erfüllt leben können.
Die Kultur der Reparatur trägt dazu bei, dass sich Menschen wieder mehr zutrauen, selbst aktiv werden und Verantwortung übernehmen. Sie sind nicht so schnell anfällig für die „lähmende Empfindung der Ohnmacht von der Vermutung her, dass die Dinge schon zu weit getrieben sind, als dass sie noch korrigiert werden könnten“, wie der Philosoph Wilhelm Schmid in seinem Büchlein „Unglücklichsein“ schreibt. Seit 40 Jahren sagt die niederländische Trendforscherin Lidewij „Li“ Edelkoort prägende gesellschaftliche Veränderungen voraus. Sie bestätigte kürzlich Erfahrungen, die ich auch regelmäßig auch in meinem Blog mache: dass Themen mit haptischem Bezug am meisten gelesen und geteilt werden. „Je mehr Bildschirme uns umgeben, desto mehr wünschen wir uns etwas, was sich angenehm anfühlt. Wir wollen spüren und anfassen.“ (Focus 16/2015) Handwerklich hergestellte und reparierbare Dinge werden wieder mehr gefragt sein, denn: „Wir haben den Konsum zu lange exzessiv gelebt und in viel zu großer Anzahl Objekte produziert, die keine Seele mehr haben.“
Unterschiedlichste Formen des kollaborativen Produzierens, Reparierens und Teilens entstehen heute jenseits von Markt und Staat. Sie fordern den industriellen Kapitalismus heraus - und überschreiten ihn zuweilen auch. Die Bücher „Circular Thinking“ und „Die Welt reparieren“ widmen sich dieser nachhaltigen Praxis und bieten zugleich eine gesellschaftliche Einordnung der neuen „Labore“ postkapitalistischen Fabrizierens. Insbesondere wird gezeigt, dass die Reparatur Zugänge eröffnet, die durch ihren Eigensinn und ihren „Care“-Charakter eine Form der Wiederinbesitznahme von bereits „abhanden gekommenen“ Dingen ermöglicht. Die beobachteten Projekte „kennen und können Kapitalismus“, sie schließen an ihn an, sagen die Macher_innen des Buches: „… etwa indem sie ausrangierte Dinge bergen und in neue Kreisläufe der Verwendung überführen.“ Herausgegeben wurde es von Andrea Baier, Soziologin und wissenschaftliche Mitarbeiterin der anstiftung www.anstiftung.de in München, Tom Hansing, Soziologe und wissenschaftlicher Mitarbeiter der anstiftung, und der Soziologin Christa Müller, der Leiterin die anstiftung in München. Sie forscht zu nachhaltigen Lebensstilen und neuen Wohlstandsmodellen. Karin Werner ist Soziologin und wissenschaftliche Beraterin der anstiftung. Als eine der Verlegerinnen des transcript Verlags interessiert sie sich für neuere sozial- und kulturtheoretische Diskurse. Ihr Plädoyer lautet: „Lasst uns die Welt gemeinsam reparieren. Es kann gelingen.“
Es findet sich im Buch auch Beispiele wie die Dingfabrik in Köln, die das Konzept der FabLabs umgesetzt hat: Durch den Ansatz des Reparierens von Vorhandenem wird der Versuch unternommen, der gesteigerten Geschwindigkeit von Produktzyklen entgegenzuwirken, „in denen KonsumentInnen fast nur noch als Relaisstation zwischen Produktion und Entsorgung fungieren“ (Christian Schönholz). Dieser Ansatz geht weit über die etablierten Formen des DIY oder des früheren Heimwerkens hinaus.
Anfang 2014 begann das Netzwerk REPARATUR-INITIATIVEN mit seiner Arbeit. Damals gab es ca. 50 Reparatur-Initiativen in Deutschland. Ende 2015 war die Zahl auf rund 300 gestiegen – Ende 2017 waren auf der Netzwerkplattform 587 Projekte eingetragen. Die Zahl der Reparatur-Initiativen im Bundesgebiet wird derzeit auf ca. 1000 geschätzt. An rund 600 Orten treffen sich Menschen, um in Repair-Cafés, Elektroniksprechstunden, Reparier-Bars oder Ganz-Mach-Läden kaputte Alltagsgegenstände wieder funktionstüchtig zu machen. Das Netzwerk Reparatur-Initiativen bietet verschiedene Informationsmaterialien an. Anleitungen zum Selberreparieren finden Interessierte auch auf der Online-Plattform des Berliner Unternehmens kaputt.de. Hier können Verbraucher, deren Handy beispielsweise nicht mehr funktioniert, ein Ersatzteil oder den Reparaturdienst bestellen.
Nach dem Gerätekauf ist heute schon wieder vieles veraltet oder defekt. Langlebigkeit erscheint vor diesem Hintergrund vielen Menschen als ein „anachronistisches” Qualitätskriterium, denn die meisten haben sich daran gewöhnt, nach Ablauf der Garantiezeit alte Produkte zu entsorgen. VAUDE stellte als erste europäische Outdoor-Marke Reparaturanleitungen auf der internationalen Online-Plattform iFixit zur Verfügung: Kunden können einfache Reparaturen an VAUDE Produkten selbst vornehmen und bei Bedarf auch die dafür notwendigen Ersatzteile und Werkzeuge bestellen. Damit ergänzt der Outdoor-Hersteller den hauseigenen Reparaturservice und erweitert sein Nachhaltigkeitskonzept um einen weiteren Baustein. Ein defektes Produkt bedeutet hier noch lange nicht, dass damit sein Lebensende besiegelt ist. Der unternehmenseigene Reparaturservice behebt seit Jahren kleine und größere Schäden, tauscht defekte Teile aus und verlängert damit die Lebensdauer von geliebten Produkten. Praktische Hilfestellungen zum Selbsterledigen sind in „Do-it-yourself“-Reparaturanleitungen zu finden. Werden Ersatzteile dafür benötigt, können diese über den Kooperationspartner iFixit online bestellt oder nach wie vor beim Fachhandel bezogen werden. Das spart Aufwand und Geld, weil der Kunde ein defektes Produkt nicht an den Hersteller einsenden muss. Auch wird bereits in der Produktentwicklung darauf geachtet, dass Verschleißteile austauschbar und mögliche Defekte einfach reparierbar sind. Denn je länger eine Jacke oder ein Zelt im Einsatz bleibt, desto besser wird die Ökobilanz.
Diese Beispiele zeigen, dass durch die Relokalisierung der Wirtschaft die Ausbeutung von Mensch und Natur erheblich vermindert wird, dass Ressourcen und Transporte gespart sowie Transparenz und Jobs geschaffen werden. Außerdem werden der lokale Geist von Gemeinden und Gemeinschaften sowie die eigene Identität gestärkt, denn wer repariert, bewahrt Erinnerungen, baut sie um und setzt Dinge wieder in Gang in einer reparaturbedürftigen Welt, die durch handwerkliche Intelligenz wieder begreifbar wird.
Reparieren bezieht sich heute nicht mehr nur auf Dinge des alltäglichen Lebens, sondern auch auf andere relevante Bereiche und Sachverhalte. Reparieren hat mit Ermächtigung zu tun, denn wer etwas reparieren möchte, muss zuvor verstanden haben und ein Könner sein. Dabei ist der Vorgang des Reparierens genauso wichtig wie die Materialien, Werkzeuge und Handgriffe. Das gilt für Gegenstände und Systeme gleichermaßen.
Das Anliegen, die Welt durch neuartige gemeinschaftliche Praktiken des Produzierens und Ausbesserns reparieren zu wollen, ist vielfach ethisch durchdrungen, wie auch einige Neuerscheinungen zeigen. Der amerikanische Philosoph und Motorradmechaniker Matthew Crawford, Autor des Bestsellers „Ich schraube, also bin ich“, widmet sich in seinem Buch „Die Wiedergewinnung der Wirklichkeit“ dem Kampf um unsere Ressource Aufmerksamkeit - in Zeiten, in denen immer mehr Privatheit verlorengeht.
Wird unsere Konzentration geschwächt, weil wir ständig auf Außenreize reagieren, können wir uns auch immer weniger beherrschen: Wir lassen uns mehr beeinflussen und manipulieren und kaufen sogar mehr. Wenn wir den Kampf um Aufmerksamkeit verlieren, indem wir einen Großteil darauf verwenden, die auf uns einstürmenden Außenreize zu verarbeiten statt uns zu fokussieren, gehen uns auch lebenswichtige Fähigkeiten verloren, die wir für unsere Identität benötigen. Sie haben mit den Händen zu tun, mit denen wir die Welt begreifen und gestalten.
Etwas gestaltend gestalte ich mich selbst.Wilhelm Schmid
Wir müssen wieder lernen, mit Dingen umzugehen, die eine eigene Wirklichkeit besitzen. Dazu gehören nach Crawford beispielsweise Gegenstände, die uns helfen, unser Denken zu formen und zu ordnen. In allen Lebensbereichen treffen wir auf Gegenstände, die uns mit unserer Umwelt nachhaltig verbinden (Stricken, Kochen, Gärtnern) und den „Effekt der eigenen Handlung zu spüren“, die eine entsprechende Wirkung hat (zum Beispiel ein Instrument). Auf die Wirkung der manuellen Praktiken von Reparatur (wie auch die der manuellen Herstellung und Pflege) auf die Mensch-Ding-Beziehung verwies bereits der US-amerikanische Soziologe Richard Sennett in einem Buch „Handwerk“ (2007). Wo eine Fertigkeit angewendet wird, nimmt das „handelnde Ich selbst eine fest umrissene Gestalt an“ (Crawford) – und die Welt wird (selbstbestimmt) begriffen.
Für Thomas D von der Band Die Fantastischen Vier ist es zum Beispiel erfüllend, einen Song zu schreiben. Am schönsten ist für ihn der Schaffensprozess selbst, wie er auf der Website Gesichter der Nachhaltigkeit berichtet: „Man sagt ja auch, dass dieses kreative Ding ein Moment ist, in dem man im Augenblick lebt, eins wird mit dem Universum, wenn man so will. Wenn es einem gelingt, einen Fluss hinzukriegen. Beim Bildermalen, vielleicht auch beim Fotografieren oder beim Schaffen einer Skulptur kann man noch viel besser in einen Fluss kommen, der fast ein meditativer Zustand ist, weil man nicht denkt.“ Auch als Hobbyschrauber, der in seiner Werkstatt das alte Fahrrad repariert, kann nach seiner Ansicht in so einen meditativen Zustand kommen. All das hat für ihn mit Klärung und Verantwortung zu tun.
Weiterführende Informationen:
Andrea Baier, Tom Hansing, Christa Müller, Karin Werner (Hg.): Die Welt reparieren. Open Source und Selbermachen als postkapitalistische Praxis. Transcript Verlag, Bielefeld 2016.
Matthew Crawford: Die Wiedergewinnung des Wirklichen – Eine Philosophie des Ichs im zeitalter der Zerstreuung. Ullstein Verlag, Berlin 2016.
Alexandra Hildebrandt und Claudia Silber: Circular Thinking 21.0: Wie wir die Welt wieder rund machen. Amazon Media EU S.à r.l. Kindle Edition 2017.
Nikola Langreiter, Klara Löffler (Hg.): Selber machen. Diskurse und Praktiken des „Do it yourself“. Transcript Verlag, Bielefeld 2017.
Stefan Schridde: Murks? Nein danke! Was wir tun können, damit die Dinge besser werden. Oekom Verlag München 2014.
Sylvia Wölfel: Weiße Ware zwischen Ökologie und Ökonomie. Umweltfreundliche Produktentwicklung für den Haushalt in der Bundesrepublik Deutschland und der DDR. Oekom Verlag, München 2016.