Cinderella Glücklich hält einen Vortrag beim Meeting Mittelstand des Fachkräfteforum Mainz - © Marcus Steinbrücker © Cinderella Glücklich

Gesundheit im Job wird erste Priorität. Modell für Arbeitsverträge? Ein Bericht vom Jackpot!

Seit 2007 habe ich in meinen Firmen über 60 Arbeitsplätze geschaffen. Und doch war die Zusammenarbeit mit Cinderella eine ganz neue Erfahrung. Als Arbeitgeber habe ich 2019 einen Versuch gestartet. Ich habe bewusst und gewollt eine Kollegin eingestellt, die geschwächt und krank aus einem schlechten Arbeitsverhältnis kam. Wir kannten uns seit fünf Jahren, und ich hatte aus der Ferne miterlebt, wie ihre Arbeit sie nicht nur an ihre Grenzen gebracht, sondern weit darüber hinauskatapultiert hatte. Da sie damals zu 100 Prozent von ihrem monatlichen Lohn abhängig war, konnte sie nicht einfach kündigen. Sie lebte von der Hand in den Mund. Ihre ständige Existenzangst und der Stress vom Arbeitgeber führten zu vielen psychosomatischen Symptomen, die körperlich und seelisch bedrohlich waren.

Im Vorfeld unserer Zusammenarbeit habe ich eine Liste von Prioritäten formuliert. Auf Platz 1 stand: Gesundheit. In unserer einjährigen Zusammenarbeit erinnerte ich meine Kollegin bei Bedarf daran. So hatten wir es abgesprochen. Wenn ich eine mögliche Überforderung wahrnahm, sagte oder schrieb ich ihr: „Denk an die Prio 1“. Schon im Laufe der ersten Monate wurde die Kollegin von Nachbarn darauf angesprochen, wie sehr sie sich verändert hatte. Mitmenschen sahen, wie viel besser es ihr ging. Ich habe als Arbeitgeber die klassischen Spielregeln verändert. Ich habe nicht gesagt: „Krieg es hin oder wir lassen es.“ Ich habe ihr die Freiheit gegeben, zuerst auf ihre Gesundheit zu achten.

Gesundheit ist eine Grundvoraussetzung für gute Leistungen. Wer von Schmerzen gequält wird, kann auch arbeiten und Leistungen bringen. Nur zu welchem Preis? Wie soll das auf Dauer funktionieren? Psychische Erkrankungen sind die häufigste Ursache für eine frühzeitige Rente, so steht es im 'Report Psychotherapie 2020'. Für psychische Erkrankungen zahlen wir alle zusammen 44 Milliarden Euro direkte Behandlungskosten pro Jahr, berichtet das Deutsche Ärzteblatt.

Mir war klar, die beste Leistung bringt meine Kollegin, wenn sie gesund sein darf und dazu erst mal gesund werden kann.

Cinderella Glücklich beschreibt das Erlebnis so: "Auf Whatsapp schrieb ich verzweifelt an meinen Mentor und Freund Martin Gaedt: 'Ich muss hier raus aus dieser Arbeit. Schnell. Sonst werde ich wieder sehr, sehr krank.' - Es war keine sechs Monate her, dass ich nach langer Arbeitsunfähigkeit wieder ins Berufsleben eingestiegen war. Ich war komplett im Home-Office. Ich konnte mir meine Arbeitszeiten frei einteilen. Und ich machte etwas, das ich sehr gerne tue: Mit Menschen sprechen und ihnen weiterhelfen. Klingt super, oder? Die Kollegen waren super, ja. Auch der Kundenkontakt. Darüber, dass ständig Überstunden anfielen, dass mir das stundenlange Sitzen gar nicht gut tat, keine Trennung mehr zwischen Privatbereich und Arbeitsstätte stattfand und dass die Bezahlung wirklich mies war, darüber dachte ich lange nicht nach. Ich redete mir ständig ein, dass ich froh sein konnte, den Job überhaupt zu haben und dass sich schon alles regeln würde. Doch es ging mir gesundheitlich wieder so schlecht wie vor meiner Arbeitsunfähigkeit.

Als ich die obige Nachricht an Martin schrieb, wusste ich gar nicht, was ich eigentlich von ihm erwartete. Mit der Antwort, die er mir wenig später schickte, hatte ich gar nicht gerechnet. „Würdest du mit mir zusammenarbeiten?“ Sofort schrieb ich meine Kündigung. Nägel mit Köpfen waren schon immer mein Ding. Ich habe viel, viel mehr bekommen als erwartet. Gewonnen habe ich vor allem Gesundheit und Raum für Möglichkeiten. Den Ausschlag dazu gab dieser Satz:

„Deine Gesundheit ist Prio 1. Es ist deine Aufgabe, darauf zu achten.“

Welcher Chef hat dir schon einmal diese Antwort gegeben, nachdem du ihn nach seiner wichtigsten Bedingung für eure Zusammenarbeit gefragt hast? – Richtig, so habe ich auch geschaut. Dann habe ich gedacht: Easy. Jetzt achte ich endlich mal auf mich. Und es ist sogar eine Bedingung, um meinen Job gut zu machen. Cool! Doch so einfach ist das im Alltag gar nicht.

Auf meine Gesundheit zu achten, hieß für mich im beruflichen Kontext zuvor immer, mir nicht anmerken zu lassen, wenn es mir nicht gut ging. Weitermachen. Lächeln. Leistung bringen, trotz meiner Körperbehinderung und psychosomatischen Folgen durch Stress und Überlastung. Ich wollte zeigen, dass ich eine genau so gute Arbeitskraft bin wie alle nicht-behinderten Anderen. Bloß den Job behalten. Ich bin privilegiert und sollte das zu schätzen wissen. - So war das bisher.

Was ich komplett neu lernen musste: Tatsächlich auf meine Gesundheit zu achten. Das bedeutet, Bescheid zu sagen, wenn es mir schlecht geht, zur Not auch spontan. Einen Krankentag einzureichen, ohne ständig daran zu denken, dass ich noch etwas für die Arbeit erledigen müsste. Wenn nötig auch einmal weniger zu machen als geplant, ohne Angst davor zu haben, bald meinen Job zu verlieren. Es war wirklich harte Arbeit, meinen Alltag neu zu organisieren, mit ausreichend Zeit für Therapien, Behandlungen, Arztterminen und vor allem Pausen. Meine Gedanken, meine Handlungen und meinen gesamten Alltag innerhalb kürzester Zeit einmal um 180 Grad zu drehen, erfordert alles, was geht – von beiden Seiten. Es ist ein ständiger Prozess. Wir haben Dinge miteinander kommunizieren, die üblicherweise in einem Arbeitsverhältnis nicht zur Sprache kommen. Es braucht viel Verständnis füreinander, Geduld und den Willen, immer wieder neu zu starten mit der Prio 1, falls es doch mal ruckelt im gemeinsamen Arbeitsalltag oder wenn gesundheitliche Rückschritte auftreten.

Diese Herausforderungen immer wieder anzunehmen, lohnt sich. Meine Krankentage in dem Jahr der Zusammenarbeit kann ich an einer Hand abzählen. Früher bin ich meist mehrere Wochen am Stück arbeitsunfähig gewesen. Schmerzmittel sind früher mein tägliches Brot gewesen – heute nehme ich sie nur noch selten. Ich konnte meine regelmäßigen Behandlungs- und Therapietermine um ein Drittel reduzieren. Und ich weiß jetzt auch endlich, was Freizeit ist. Alle sollten mehr davon haben, sie tut nämlich richtig gut – und bietet damit Chancen für ungeahnte Fortschritte.

Schon ein halbes Jahr nach dem Start mit Gesundheit als Prio 1 bin ich das erste Mal seit 16 Jahren wieder schmerzfrei auf einem Pferd geritten. Und ich habe am jährlichen Frauenlauf des Limburger Frauenhauses teilgenommen, zu Fuß eine acht Kilometer lange Strecke zurückgelegt und Spenden für das Limburger Frauenhaus erlaufen – am nächsten Tag hatte ich lediglich etwas Muskelkater. Was würde passieren, wenn wir alle so handeln würden, dass die eigene Gesundheit die Priorität 1 ist? Am Anfang wäre es mit Sicherheit anstrengend, eine große Umstellung. Doch am Ende, davon bin ich überzeugt, wäre es eine enorme Bereicherung für alle. Heute nutze ich diesen Fokus auf Gesundheit als Prio 1 und all die Erfahrungen, die ich als Angestellte gesammelt habe, als Kommunikations- und Strategieberaterin." - Hier endet Cinderellas Bericht.

Es war ein innovativer Lernprozess. Wir wussten beide nicht, was passieren würde, als wir gestartet sind. Vier Tage lang haben wir in Frankfurt und Wiesbaden an unseren Wünschen und Vorstellungen einer Zusammenarbeit gearbeitet. Mitten in diesem Austausch kam mir intuitiv dieser Satz: „Deine Gesundheit ist Prio 1. Es ist deine Aufgabe, darauf zu achten.“ Zwei Jahre wollten wir zusammenarbeiten. Neben der Gesundheit von Cinderella hatten wir ein zweites Ziel: Dass sie so fit wird, ihr eigenes Unternehmen zu gründen. Cinderella ist Vollblut-Unternehmerin, das hatte ich immer in ihr gesehen. Doch die fehlende Gesundheit hatten ihr den Weg lange verbaut. Nach nur 12 Monaten Zusammenarbeit hatten wir beide Ziele erreicht, und Cinderella sprang kraftvoll ins Unternehmerin-Sein ab.

Geboren war der Wunsch nach Cinderellas Gesundheit aus unserer Freundschaft. Gleichzeitig bin ich zutiefst davon überzeugt, dass gesunde Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter die beste Leistung bringen können. Also ist es mein unternehmerisches Interesse, dass Menschen gesund sind in einer Zusammenarbeit. Wäre Gesundheit grundsätzlich die oberste Priorität beim Arbeiten, würden wir mit der Gesundheit auch Lebensqualität, Freude, Freiheit und Leistungsfähigkeit gewinnen.

Es gibt viele Gründe für Krankheiten. Erbliche Veranlagung genauso wie Überlastung, Mobbing, ungesunde Ernährung und Stress im Beruf. Was wäre, wenn wir Arbeit so verändern, dass sie zur Gesundheit beiträgt? Was wäre, wenn wir nur noch solche Arbeit tun, die unsere Gesundheit und Mensch-Sein wertschätzt? Was wäre, wenn die Gesundheit der Menschen und auch des Planeten Erde oberste Priorität hätte? Wie würde sich die Arbeit der Zukunft ändern?

Eine Grundvoraussetzung dafür ist eine Kultur des Vertrauens zwischen allen Beteiligten. Wenn bei Arbeitnehmer:innen das Gefühl vorherrscht, dass alles was sie/er sagt, in der Personalakte landet, kann Prio 1 Gesundheit nicht funktionieren. Die Unternehmenskultur ist die Basis.

Hier könnt ihr Cinderella Glücklich, Johannes Ceh und mich im Dialog zu der Zusammenarbeit im Podcast hören.

Was haltet ihr von unserer Erfahrung mit Prio 1 Gesundheit? Wie sind eure Erfahrungen?

Martin Gaedt schreibt über Provotainment, Leben und Arbeit, cleveres Recruiting, Wirtschaft & Management

Martin Gaedt ist Autor von "4 TAGE WOCHE", "Rock Your Work", "Rock Your Idea" und "Mythos Fachkräftemangel". Er ist Provotainer und hat seit 2014 in 650 Keynotes mehr als 100.000 Gäste begeistert, provoziert und entertaint. Seit 1999 gründet er Unternehmen und stellt 44 Fragen, der Anfang des Neuen.

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