Gesundheitssystem USA: Lieber die Option Lufthansa, als zum US-Arzt zu gehen
Viele Amerikaner hadern mit ihrem Gesundheitssystem. Auch unser Silicon-Valley-Korrespondent hat im Laufe der Jahre seine ganz eigenen Erfahrungen gemacht.
Mein Freund Larry ist ein in Stanford ausgebildeter Onkologe, arbeitete mehrere Jahre als ärztlicher Direktor im Silicon Valley. Inzwischen ist er pensioniert, aber die Gesundheitsbranche ist noch immer ein Aufreger-Thema für ihn. Wir haben sogar einen geflügelten Begriff dafür. Jedes Mal, wenn ich von „health care system“ spreche, unterbricht mich Larry sofort. „Matt, bitte, es ist kein System. Es ist ein Schlamassel, ein Schlamassel, sage ich Dir.“
Am Geld liegt es nicht. Es ist das teuerste System – äh, der teuerste Schlamassel der Welt. Laut OECD betragen die Gesundheitskosten in den USA jährlich pro Kopf rund 12.500 Dollar. In Deutschland sind es 8000 Dollar. Dabei liegt Deutschland an dritter Stelle, in Irland sind es nur 6000 Dollar.
Die USA geben etwa 17 Prozent ihres Bruttoinlandprodukts für Gesundheit aus, in anderen Industrieländern sind es im Schnitt 10 Prozent. Trotz dieser Höhe ist die Lebenserwartung geringer als in Ländern mit niedrigeren Ausgaben.
Hauptproblem ist ein fragmentiertes System, das durch hohe Verwaltungskosten geplagt ist. Sowie – beispielsweise beim Medikamenteneinkauf – durch Mittelsmänner wie sogenannte Pharmacy Benefit Manager (BPM), die Preise eigentlich senken sollen, doch in vielen Fällen hochtreiben. Momentan läuft eine Klage der US-Verbraucherschutzbehörde gegen die Medikamenten-Manager Caremark von CVS, Express Scripts von Cigna und Optum RX von United Health. Der Vorwurf ist, dass sie die Preise für Insulin manipuliert und hochgetrieben haben.
Gesundheitssystem in den USA: Mediziner sind mit Ausbildungskosten belastet
Das System verteuert außerdem, dass viele Mediziner mit hohen Schulden durch ihre Ausbildung belastet sind. Ein Medizinstudium in den USA kostet im Schnitt zwischen 200.000 und 300.000 Dollar. In Deutschland sind die Kosten ähnlich hoch, allerdings mit dem Unterschied, dass fast ausschließlich der Steuerzahler sie trägt.
Das Gehaltsniveau in den USA ist generell höher, gerade für Mediziner. Laut einer Studie von Medscape von 2023 verdienen US-Ärzte im Schnitt rund 352.000 Dollar im Jahr. In Deutschland sind es rund 160.000 Dollar.
Ich habe in den USA das deutsche Gesundheitssystem schätzen gelernt. Um Kritik vorwegzunehmen, ich kann es nicht direkt vergleichen. Ich bin privat versichert, mit einer Anfang der neunziger Jahre abgeschlossenen privaten deutschen Krankenversicherung, die weltweit gilt. Für US-Ärzte, die das deutsche System in der Regel nicht kennen, gelte ich allerdings als nicht versichert. Die ersten fünf Minuten in der Praxis muss ich deshalb oft aufbringen, um der Sprechstundenhilfe zu erklären, dass ich trotzdem eine Versicherung habe, die meine Auslagen erstattet. Es hilft nichts, weil die Abrechnungssoftware darauf nicht vorbereitet ist – im Gegensatz zu Unversicherten, von denen es immer noch viele gibt.
Was mir wiederum Einblicke in die amerikanische Abrechnungspraxis verschafft – denn für Unversicherte werden die sogenannten Listenpreise aufgerufen, aufgeblähte Summen.
👉 Exklusiv bei XING: 6 Wochen die WirtschaftsWoche kostenlos lesen
Die Lufthansa als Expat-Option
Für Expats wie mich gibt es noch eine weitere Option: Die Lufthansa. Oder zumindest war sie das früher mal, bevor wegen Carsten Spohrs Sparbemühungen der Service in den Keller ging. Also United Airlines, oder stellvertretend jede andere Airline, die zuverlässig aus den USA nach Europa fliegt.
Will heißen: Alle Arzttermine, die ich mittelfristig planen kann, lege ich um Deutschland-Aufenthalte herum. Nicht nur, weil ich meinem Hausarzt bei Freiburg vertraue. Sondern auch, um meine Krankenkasse zu schonen.
Ein Besuch bei meiner Allgemeinärztin in Kalifornien kostet mindestens 200 Dollar. Das ist eine Art Grundgebühr, egal was geschieht – selbst, wenn nur ein Rezept ausgestellt wird. Alles was darüber liegt, ist übrigens verhandelbar. Wenn man in der Arztpraxis gleich mit Kreditkarte zahlt, kann man Rabatte von bis zu fünfzig Prozent erhalten. Über die Jahre habe ich mich an diesen Basar gewöhnt.
Wobei ich mit meiner US-Allgemeinärztin noch gut dastehe. Meine Frau hat gar keinen festen Arzt mehr. Als sie kürzlich wegen einer Überweisung einen Termin bei ihrem langjährigen US-Allgemeinmediziner vereinbaren wollte, wurde ihr eröffnet, dass sie aus ökonomischen Gründen aus der Kartei gefallen sei, weil sie ihn seit drei Jahren nicht mehr aufgesucht habe. Sie muss deshalb zunächst „einen Antrittsbesuch“ bei einem neuen Arzt machen, inklusive ausführlicher und teurer Untersuchung.
Aber das kommt ohnehin nicht in Frage, weil es momentan einen Aufnahmestopp gibt. Zu wenig Ärzte. Unsere Region Santa Cruz ist – gemessen am örtlichen Lohnniveau – die Gegend mit den höchsten Lebenshaltungskosten der USA. Selbst eine Bruchbude kostet hier noch mindestens eine Million Dollar. Zwei Personen Haushalte mit unter 105.000 Dollar Jahreseinkommen gelten als bedürftig. Für viele junge Ärzte, die von den Schulden der Ausbildung gedrückt werden und vielleicht auch noch eine Familie gründen wollen, kommt die Region deshalb zumindest beim Start in den Beruf nicht in Frage.
Die Dame am Telefon empfiehlt meiner Frau in die Notaufnahme eines Krankenhauses zu gehen, falls es dringend ist. Aber will man das wirklich wegen einer Überweisung tun und womöglich einem Kranken die Wartezeit verlängern?
Boom der Nurse Practitioner
Meine Frau geht stattdessen zu „Doctors on duty“. Das ist eine sogenannte Walk-in-Klinik, die Patienten auch ohne Termin und zugewiesenen Mediziner behandelt. Sofort zahlbare Eintrittsgebühr, weil sie mit ihrer privaten deutschen Krankenversicherung als unversichert eingestuft wird: 200 Dollar. Der Name der Klinik täuscht. Denn ein Arzt ist nicht verfügbar. Stattdessen wird sie zur Konsultation mit einem sogenannten NP gebeten. Die Abkürzung steht für „nurse practitioner“, also Krankenschwestern, die sich fortgebildet haben. In ihrem Fall setzt diese sich an ihren Computer, um dann Schritt für Schritt eine Checkliste durchzugehen.
Wegen Ärztemangels werden diese NPs in den USA immer wichtiger. Auch wegen der Kosten, da sie schneller auszubilden sind und günstiger als ein Arzt. Es ist ein Boom-Markt. Der, wie eine kürzliche investigative Recherche von Bloomberg Business Week ergab, mitunter zu Lasten der Patientensicherheit geht. Denn es gibt mehr und mehr private Ausbildungseinrichtungen, die Probleme haben, ihre Nurse-Practitioner-Studenten zur vorgeschriebenen praktischen Ausbildung zu schicken, weil es in Hospitälern an dafür vorgesehenen Plätzen mangelt. In einigen Fällen wurden stattdessen fragwürdige Kooperationen mit Arztpraxen geschlossen. In anderen wurde Online-Kurse mit minimaler praktischer Ausbildung offeriert.
Statt 7000 Euro 80.000 Dollar
Um keine Zweifel aufkommen zu lassen – es gibt in den USA sehr gute und ausgezeichnete Ärzte und Krankenschwestern. Wie ich selbst erlebt habe.
Vor ein paar Jahren musste ich dringend operiert werden. Eigentlich hatte ich vor, die Operation in Deutschland am Uni-Klinikum in Freiburg vornehmen zu lassen. Dort gibt es Spezialisten für den Da-Vinci-Roboter, ein von einer Silicon Valley Firma entwickeltes chirurgisches System, das weltweit für minimalinvasive Operationen eingesetzt wird. Bei gelungener Operation müsste ich ungefähr fünf Tage im Krankenhaus verbringen, die gesamte Prozedur plus Aufenthalt wurde auf rund 7000 Euro veranschlagt.
Doch dann kam Covid in die Quere. Ich konnte nicht nach Deutschland reisen. Ein US-Facharzt riet mir, nicht länger zu warten, „jeder Tag zählt.“ Glücklicherweise ist er am Da Vinci Roboter geschult. Also Anruf bei der Krankenkasse. „Keine Sorge, wir übernehmen alle Kosten in der Klinik ihrer Wahl und setzen uns mit ihr in Verbindung.“ Ein Büro in Prag übernahm die Koordination.
An einem Tag im Juli finde ich mich um 14 Uhr in der Klinik ein. Schon 40 Minuten später liege ich auf dem OP-Tisch.
Die Operation, so wird mir hinterher gesagt, dauert ungefähr vier Stunden. Danach geht es auf die Station. Die Betreuung ist ausgezeichnet, die Schwestern sind nett. Ich fühle mich fabelhaft, auch wegen der Medikamente wie sich später herausstellt. Statt Krankenhaus-Essen wird mir eine Speisekarte der Cafeteria gereicht – Burger mit Fritten für 15 Dollar. Den ich in meiner medikamentösen Hochstimmung bestelle, was ich ein paar Stunden später tief bereue.
Nur 14 Stunden nach der Operation werde ich, ausgestattet mit einem Rezept für Schmerztabletten und der dringenden Warnung, bei hohem Fieber sofort den Krankenwagen zu rufen, entlassen. Jeder zusätzliche Tag in der Klinik, so sagt man mir, würde mit mindestens zehntausend Dollar berechnet.
Die Kosten für die US-Operation? Ursprünglich rund 120.000 Dollar, die meine Krankenkasse über einen US-Kooperationspartner auf rund 80.000 Dollar herunterhandelt. Wochen später bekomme ich Rechnungen vom Hospital für Leistungen, die überhaupt nicht vorgenommen wurden. „Wir kennen das schon, wir kümmern uns darum“, versichert der Berater in Prag.
„Wir haben eine Notaufnahme, das kostet mehr“
Auch die Nachfolgeuntersuchungen sind mitunter gewöhnungsbedürftig. Ich brauche einen Ultraschall. Mein Facharzt hat im Gegensatz zu meinen Hausarzt bei Freiburg kein eigenes Gerät. Ich muss zu einem Spezialanbieter. Während mein deutscher Arzt mir schon bei der Untersuchung immer fröhlich erklärt, was er sieht und wie er es einschätzt, kann ich nur die Miene der US-Spezialistin beim Abscannen beobachten. „Ich darf nichts sagen“, erklärt sie mir. „Das darf nur ihr Arzt.“ Die Untersuchung kostet 270 Dollar, was für US-Verhältnisse phänomenal günstig ist.
Ein Jahr später muss ich die Untersuchung erneut machen. Diesmal steht auf der Überweisung allerdings nicht der Spezialanbieter, sondern ein örtliches Hospital. Ich rufe dort an und erkundige mich, was die Untersuchung kostet. Ganz genau will man mir es nicht sagen, aber „um die 2000 Dollar“. Ich hätte bei der Radiologie Firma aber beim letzten Mal nur 270 Dollar bezahlt, entgegne ich. Antwort: „Wir haben eine Notaufnahme, das kostet mehr.“ Also wieder Anruf bei der Sprechstundenhilfe, die Überweisung ändern.
Nun ist mein Fall mit einer privaten deutschen Krankenversicherung in den USA ein Sonderfall. Bekannte, die bei US-Unternehmen arbeiten und über den Arbeitgeber versichert sind, sind meist zufrieden mit ihrer Versicherung. Bis es Probleme gibt.
Rückzug nach Deutschland wegen Krankenkasse
Wie bei einem Bekannten, der in der Führungsetage eines US-Konzerns im Silicon Valley arbeitet. Seine bei ihm mitversicherte Frau muss wegen einer lebensbedrohlichen Krankheit operiert werden – und zwar mit einer besonderen Methode. Für die gibt es glücklicherweise einen Spezialisten im Krankenhaus der Universität von Kalifornien in San Francisco. Ein Termin ist schon vereinbart, bis die Versicherung sich meldet. Sie lehnt ab.
Nicht wegen der Operationsmethode, sondern weil sich der Arzt nicht „im Netzwerk der Krankenkasse“ befindet. Eine Alternative kann der Versicherer allerdings nicht offerieren. Eine Ausnahme wird abgelehnt, obwohl der Arbeitgeber meines Bekannten zu einem der größeren Kunden der Krankenkasse zählt. Privat zu zahlen, ist auch keine Option – die Kosten der Operation plus Folgebehandlung werden auf mindestens eine Million Dollar geschätzt.
Mein Bekannter verkauft daraufhin sein Haus, gibt seine Greencard zurück und zieht nach Deutschland. In München wird wenig später die Operation durchgeführt – ohne Probleme bezahlt von der gesetzlichen Krankenkasse, für die seine Frau vor dem Umzug in die USA eine Anwartschaft abgeschlossen hat.
👉 Exklusiv bei XING: 6 Wochen die WirtschaftsWoche kostenlos lesen
👉 Exklusiv bei XING: 6 Wochen die WirtschaftsWoche kostenlos lesen
