Ghosting von Bewerbern: „Rückblickend muss ich mir eingestehen, dass ich mich habe blenden lassen“
Nach mehreren Gesprächen ist sich der Bewerber sicher, dass er den Job hat – doch dann ghostet ihn sein Traum-Arbeitgeber. Hält das Dating-Phänomen nun auch Einzug in die Businesswelt?
„Alle Zeichen standen auf Vertragsabschluss“ – so zumindest empfand es Paul, seit vielen Jahren erfolgreich in der Beratungsbranche tätig, nach den insgesamt drei Gesprächen mit seinem potenziellen neuen Arbeitgeber. Ein großes, international bekanntes Unternehmen hatte eine Führungsposition zu besetzen und den erfahrenen Mittvierziger über einen Headhunter angesprochen.
Die Stimmung in den Treffen sei durchweg positiv, die Sympathie auf beiden Seiten deutlich spürbar gewesen. Ein Traummatch, dachte Paul. Er wähnte sich der neuen Stelle sicher – und war dann umso irritierter, als nach dem letzten Gespräch plötzlich der Kontakt abbrach.
„Wir haben bereits intensiv über inhaltliche Details ‚meiner‘ zukünftigen Projekte diskutiert, auch bezüglich des Gehalts waren wir uns einig. Das Einzige, was fehlte, war die Unterschrift. Dass plötzlich jegliche Kommunikation abriss, auch auf meine Nachfragen nicht reagiert wurde, ist für mich absolut unverständlich.“
Exklusiv bei XING: 6 Wochen die WirtschaftsWoche kostenlos lesen
Nach mehreren Wochen des Wartens und wachsender Verwunderung erfuhr er schließlich durch einen Post des Unternehmens bei dem Karrierenetzwerk Linkedin, dass jemand anders den Job bekommen hatte. „Mich ärgert nicht, dass ich es am Ende nicht geworden bin. Mich ärgern die unklare Kommunikation und das unprofessionelle Verhalten“, betont Paul, der eigentlich anders heißt. Mit einer Absage hätte er gut leben können, diese „Luftnummer“ mache ihm gedanklich aber immer noch zu schaffen.
Im Nachhinein sei er aber fast froh, dass es nicht geklappt habe. Denn in der Rückschau fallen ihm doch einige Punkte auf, die ihn hätten warnen müssen: „Zwischen den einzelnen Gesprächen wurde mir stets gesagt, dass man sich innerhalb einer Woche mit der Zu- oder Absage melden würde. Stattdessen wurde dann aber jedes Mal ein Termin mit neuen Gesprächspartnern angesetzt.“ Die hätten ihm immer wieder unaufgefordert versichert, dass er der „ideale Kandidat“ für die Stelle sei – allerdings ohne ihm die definitive Zusage auszusprechen. „Rückblickend muss ich mir eingestehen, dass ich mich etwas habe blenden lassen.“
Ghosting im Bewerbungsprozess
So wie Paul geht es nicht wenigen Arbeitnehmern in Deutschland – genaue Zahlen gibt es keine, die Berichte aber häufen sich. Während einerseits über den gravierenden Fachkräftemangel diskutiert wird, häufen sich andererseits Berichte von Bewerbern, die über Wochen und Monate hinweg vom vermeintlichen Traum-Unternehmen hingehalten oder gar geghostet wurden.
Benching, also das „Warmhalten“ einer Person mittels sporadischer Nachrichten, und Ghosting, das komplette Abtauchen ohne Erklärung, sind Begriffe, die seit einigen Jahren im Datingkontext populär sind. Halten diese Untugenden nun etwa auch Einzug in die Businesswelt? Im Gespräch mit einer Personalexpertin offenbart sich zumindest schnell, dass Dating und Recruiting mehr gemeinsam haben, als man zunächst glauben würde – im Positiven wie im Negativen.
„Die Loyalität hat in den vergangenen Jahren spürbar abgenommen. Sowohl seitens der Bewerber als auch der Unternehmen“, sagt Anna-Maria Karl. In der Management- und Personalberatung Kienbaum befasst sich Karl täglich mit Einstellungsprozessen. Die Juristin hat vor allem Kontakt mit Top-Level-Kandidaten, also Bewerber für die höchsten Führungspositionen in Unternehmen. Ein Bereich, in dem uneingeschränkte Professionalität eine Grundvoraussetzung für nachhaltigen Erfolg ist.
„Wirklich geghostet wurde ich glücklicherweise noch nicht“, sagt Karl, „und ich habe auch selbst noch keinen Bewerber unbeachtet gelassen.“ Das Verhalten gegenüber Bewerber Paul hält sie für ein absolutes „No-Go“. Sie empfiehlt Jobsuchenden, die nicht so recht einschätzen können, woran sie eigentlich mit dem Unternehmen sind, die mögliche Zusammenarbeit noch einmal zu hinterfragen. „In jeder zwischenmenschlichen Beziehung ist Vertrauen das Wichtigste. Wenn von Beginn an Zweifel am Commitment des anderen bestehen, kann aus dieser Verbindung nichts Fruchtbares entstehen“, ist die HR-Expertin überzeugt.
Gerade in der aktuell von vielen Unsicherheiten geprägten Zeit sei das persönliche, vertrauensvolle Verhältnis zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern enorm wichtig, so Karl. „In einer Beziehung, die auf gegenseitigem Respekt, Verlässlichkeit und Anerkennung aufbaut, kann man sich ganz anders entfalten.“
In Zeiten des Fachkräftemangels hätten daher nicht zwangsläufig die großen, prominenten Unternehmen die Nase vorn, sondern solche, die ihren Mitarbeitenden mit Interesse begegnen und ihnen ausreichend Freiraum für Wachstum und persönliche Entwicklung geben. „Die Unternehmen, gerade auch im Mittelstand, müssen verstehen, dass sie sich bei qualifizierten Fachkräften bewerben müssen – nicht umgekehrt.“
Das fehlende Commitment, wie Anna-Maria Karl es nennt, zeigt sich allerdings nicht nur auf Unternehmensseite: „Ich bemerke unter Kandidaten schon eine Zunahme des ‚Business Gambling‘. Hoch qualifizierte Fachkräfte sind derzeit sehr gefragt und erhalten oft zahlreiche Angebote. Manche führen da auch schon mal vier, fünf ernsthafte Gespräche parallel und schauen, wo sie das meiste rausholen können.“ Das allein ist natürlich nicht verboten; schwierig wird es allerdings, wenn jemand den Vertrag unterschreibt – aber nie die Stelle antritt.
Vertrag unterschrieben – aber der neue Kollege taucht nie auf
Klingt unglaublich, ist aber ebenfalls gar nicht so selten. Die Enttäuschung sei in solchen Fällen sehr groß, sagt Anna-Maria Karl. Rechtliche Schritte hätten aber kaum Aussicht auf Erfolg. „Der Schaden ist nun mal entstanden. Als Unternehmen kann man diesen aber begrenzen, indem man sich schnell erneut auf Kandidatensuche begibt, um die zu überbrückende Zeit möglichst kurz zu halten“, so Karl.
Auf die Frage, ob sich solche Enttäuschungen vermeiden ließen, indem man schon im ersten Gespräch auf bestimmte „Red Flags“, also eindeutige Warnzeichen, achtet, überlegt die Juristin einen Moment. „Das lässt sich schwer pauschal beantworten. Oft läuft das erste Gespräch sehr gut. Erst in den konkreten Vertragsverhandlungen zeigen sich dann plötzlich Irritationen, beispielsweise bei den eigentlich bereits besprochenen Präsenz- und Homeoffice-Tagen.“
Grundsätzlich gelte für beide Seiten: Sobald sich etwas „komisch“ anfühle, sollte man dieses Gefühl hinterfragen, der Ursache auf den Grund gehen und so transparent wie möglich kommunizieren. Und im Zweifelsfall auch auf die vermeintliche Traum-Verbindung verzichten, wenn diese von vornherein zu viele „Red Flags“ mit sich bringt.
Exklusiv bei XING: 6 Wochen die WirtschaftsWoche kostenlos lesen
Exklusiv bei XING: 6 Wochen die WirtschaftsWoche kostenlos lesen
