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Dr. Alexandra Hildebrandt

Gipfel der Macht. Was Manager ganz oben finden

Nach oben kommen. Das verbindet Bergsteigen und Management: Wer erst einmal aufgebrochen ist, will auch den Gipfel erreichen. Der Kampf gegen ihn „vermag eines Menschen Herz auszufüllen", schreibt Albert Camus in seinem philosophischen Essay "Der Mythos von Sisyphos" (1942). Aber er lässt sich nicht aus dem Weg räumen oder bezwingen wie mancher Konkurrent, sondern fordert ständig heraus und führt den, der sich auf ihn einlässt, an seine körperlichen und mentalen Grenzen. Dass sich „Mächtige“ in Politik und Wirtschaft zum Gipfel hingezogen fühlen, hat auch mit ihrem Wunsch und Willen zu tun, Übersicht zu erhalten. Es geht um Durchblick, Überblick, Einblick und Verstehen. „Auf dem Berg muss man sich völlig konzentrieren. Da lüftet man richtig durch und denkt nicht an Politik“, sagte Bundeskanzlerin Angela Merkel im Jahr 2014 der Zeitschrift BUNTE.

Immer wieder berichteten in den vergangenen Jahren Wirtschaftsmagzine über die „Similauner“ (benannt nach einem 3000er in den Ötztaler Alpen), zu denen u. a. Wolfgang Reitzle, Hubert Burda, Herbert Hainer, Klaus Kleinfeld, Jürgen Schrempp und Herbert A. Henzler gehören, um für ein paar Tage gemeinsame Erfahrungen beim Wandern und Bergsteigen zu machen. Herbert A. Henzler, ehemaliger Europachef von McKinsey, der die Seilschaft der Topmanager gemeinsam mit Reinhold Messner initiiert hat, meinte nach einer gemeinsamen Tour zum Chimborazo: "Da gibt es einfach eine Welt, in der wir kleine Wichtel sind." (Süddeutsche Zeitung, 6.8.2011) Sie ist mit dem verbunden, das Reinhold Messner "erhaben" nennt. Es kann - wie die gesamte Bergwelt - bewundert und bestaunt werden und ist eine Art Anerkennung des Nichterkannten und Nichtdurchschauten. Ehrfurcht vor dem Unaussprechlichen. Da wir aber ständig abgelenkt und sehr schnelllebig sind, ist uns das Erhabene, das wir respektieren müssen, abhandengekommen. Die Hybris, die Grenze zum Erhabenen zu überschreiten, ist ein lebensgefährlicher Akt.

Den "Kameraden" (die sich wirklich so nennen) geht es in der Seilschaft der Similauner nicht nur um die wechselseitige Förderung des persönlichen Aufstiegs – sie sind nach eigener Aussage füreinander da, wann immer einer den anderen braucht. "Wahre Freundschaft soll nicht wanken", singen sie nach „Herzenslust zu vorgerückter Stunde“. Nicht wanken bedeutet: beim nächsten Windstoß nicht umzufallen, aber auch beruflichen Widrigkeiten standzuhalten.

Seilschaft wird heute oft als Synonym für eine wechselseitig fördernde Verbindung gebraucht.

Doch die Tiefe des Begriffs lässt sich nur in der Höhe ermessen und nur im ursprünglichen, bergsteigerischen Sinne verstehen und erfahren: „als eine der verbindlichsten Verbindungen, die Menschen überhaupt im Übergangsbereich zwischen Erde und Himmel eingehen können“, schreiben Michael Holzer und Klaus Haselböck in ihrem Buch „Berg und Sinn. Im Nachstieg von Viktor Frankl“: Sobald das sichere Terrain des festen Bodens unter den eigenen Füßen verlassen wurde und die Wege in die Vertikale führen, wird das Seil zur einzigen und letzten Rückversicherung - eine metaphorische Verdichtung des Menschseins, in der abstrakte Werte wie Freiheit, Verantwortung, Vertrauen ganz konkret werden: „Bei einem Sturz in der Wand hält ein Partner den anderen, bremst durch entschlossenes Zupacken dessen Fall und verhindert so schwere Verletzungen oder gar den Tod. Die Verbindlichkeit entsteht aus der Tatsache, dass das Leben des einen in jedem Augenblick von der Aufmerksamkeit des anderen abhängt.“

Klettern bedeutet für sie, in die Selbstüberwindung und in die Selbstermächtigung zu gehen, sowie sich dem Seilpartner bedingungslos anzuvertrauen. „Eine Seilschaft verbindet Gegensätzlichkeit und Gemeinsamkeit zu einem Wir.“ Das gilt auch für die beiden Autoren – zwei Niederösterreicher aus Puchberg am Schneeberg und Krems an der Donau, die in Wien studiert und miteinander 100 Jahre Lebens- und 60 Jahre Berufserfahrung im Rucksack haben.

Katja Kraus beschreibt in ihrem Buch „Freundschaft. Geschichten von Nähe und Distanz“, wie Freundschaft und Komplizenschaft ineinander übergehen und worin sie sich unterscheiden. So räumt der ehemalige adidas-Vorstandsvorsitzende und Similauner Herbert Hainer ein, dass sich für ihn einiges verändert hat, seit er vor Jahrzehnten „in einer Gruppe von Kameraden“ begann, den Sportartikelmarkt zu „erobern“. Freundschaft ist seit Übernahme seiner Führungsrolle komplizierter geworden: „Wenn man am gleichen Punkt beginnt und verschiedene Wege geht oder die Geschwindigkeit auf der Strecke unterschiedlich ist, wird die verbindende Leidenschaft und das gemeinsame Ziel manchmal von der Entwicklung überholt.“ Es ist für ihn unmöglich, mit Vorstandskollegen Privates austauschen und danach möglicherweise einen beruflichen Konflikt mit ihnen auszutragen. Langjährige Freundschaften sind für ihn deshalb auch zu einer beruflichen Komplizenschaft geworden.

Bei den Similaunern erlebt er eine „zaghafte Simulation von Mannschaftsgefühl“: „Dann gehen fünfzehn vielbeschäftigte Unternehmer gemeinsam zum Wandern und freuen sich an der egalitären Bedeutung und an bezwungenen Bergen.“ Die gemeinsame Zeit mit Gleichgesinnten genießt er sehr. Deshalb hält er sich diese Tage frei, wann immer es möglich ist. „Vor allem die Kombination aus verbindenden Themen und den Einblick in die spezifischen Befindlichkeiten anderer Dax-Konzerne empfindet er als sehr bereichernd. Auch die intimen Entdeckungen auf dem Gipfel, wenn alle auf das Eigentliche zurückgeworfen sind“, schreibt Kraus.

Gemeint ist damit auch „Askese“. Der Begriff kommt ursprünglich vom altgriechischen „askein“ („üben“) und beinhaltet die Disziplinierung des Denkens, des Wollens und des Verhaltens. Die Manager erleben in der Einfachheit einer intakten Landschaft auch das Glück der Selbstbestimmung, denn mit der scheinbar unendlichen Wahl- und Entscheidungsfreiheit, mit denen sie täglich konfrontiert sind, verlieren sie zunehmend die Kontrolle über die alltäglichsten Dinge und das Gefühl für eigene Bedürfnisse. „Paradox of Choice“ nennt der amerikanische Psychoanalytiker Barry Schwartz dieses wissenschaftlich nachgewiesene Phänomen.

Im unüberschaubaren Zeitalter der Ökonomisierung und Digitalisierung sucht die Wirtschaftselite hier also auch nach Handlungsfreiheit, die nur im teilweisen Verzicht auf die Wahlfreiheit zu haben ist: Sie möchten wieder Kontrolle über ihr Leben gewinnen – und Stabilität. Indem sie wandern, erleben sie die Umwelt mit allen Sinnen und fühlen sich nicht nur als Mitglied der Similauner, sondern auch als Mitglied der Natur. Das geistige Gepäck, das alle Manager jährlich mit nach Hause nehmen, ist die Erkenntnis, dass das Leben immer neu gefunden werden muss, dass es nie ohne Fehler geht, und dass es Sinn macht, sich mit dem Unmöglichen im Möglichen, dem Grenzenlosen in der Begrenzung zu beschäftigen.

Eine wirksame Führungskraft bewegt sich nicht ständig am Limit und versetzt Berge – sie akzeptiert auch Grenzen. Zu diesem Ergebnis kommt auch Fredmund Malik in seinem Buch „Wenn Grenzen keine sind. Management und Bergsteigen“, das folgende Kernaussagen enthält:

  • Das Bergsteigen ist eine gute Lebens- und Führungsschule.

  • Der Schlüssel zum Erfolg ist die Vorbereitung, nicht der Plan.

  • Wer mit hoher Komplexität umgehen kann und sie nachhaltig zu nutzen weiß, hat die Chancen immer auf seiner Seite.

  • Große Leistungen basieren auf ständiger Übung, klar erkannter Stärke und kompromissloser Konzentration darauf.

  • Wer Außergewöhnliches leisten will, braucht Kühnheit und Wagemut in der richtigen Dosis.

  • Am Berg und im Management zählen vor allem Verantwortung, Vertrauen und Ethik.

  • Neue Herausforderungen können mit alten Managementsystemen nicht bewältigt werden.

Weiterführende Informationen:

  • Michael Holzer, Klaus Haselböck: Berg und Sinn. Im Nachstieg von Viktor Frankl. Bergwelten Verlag bei Benevento Publishing, Salzburg 2020.

  • Katja Kraus: Freundschaft. Geschichten von Nähe und Distanz. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2015.

  • Fredmund Malik: Wenn Grenzen keine sind. Management und Bergsteigen. Campus Verlag, Frankfurt/New York 2014.

  • Visionäre von heute – Gestalter von morgen. Inspirationen und Impulse für Unternehmer. Hg. von Alexandra Hildebrandt und Werner Neumüller. Verlag SpringerGabler, Heidelberg, Berlin 2018.

Dr. Alexandra Hildebrandt schreibt über Wirtschaft & Management, Nachhaltigkeit, Digitalisierung, Internet & Technologie

Als Publizistin, Herausgeberin, Bloggerin und Nachhaltigkeitsexpertin widme ich mich den Kernthemen Nachhaltigkeit und Digitalisierung. Beim Verlag SpringerGabler habe ich die CSR-Bände zu Digitalisierung, Energiewirtschaft und Sportmanagement herausgegeben sowie "Klimawandel in der Wirtschaft".

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