11,1 Millionen Schüler·innen werden inadäquat auf den Arbeitsmarkt vorbereitet - ©Mascot/GettyImages

Girls’ und Boys’ Days sind nicht genug. Eine gerechte Zukunft müssen wir aktiv gestalten

Am 27. April ist Zukunftstag – oder, wie die meisten ihn besser kennen: der Girls’ und Boys’ Day. Warum der Aktionstag ein reines Lippenbekenntnis ist.

Den Girls’ Day gibt es seit 2001, den Boys’ Day seit 2011. Ins Leben gerufen wurden die Aktionstage, um Mädchen der 5. bis 11. Klasse in eintägigen Schnupperpraktika für männerdominierte Berufe zu begeistern, insbesondere für MINT-Fächer. Haben 22 Aktionstage etwas gebracht? Wohl eher nicht. Nachdem die Einschreibungen von Frauen in MINT-Fächern sich seit 1991 mühselig auf 35 Prozent erhöht hatten, ist sie seit 2021 wieder um 6,5 Prozent gesunken.

Vergangenes Jahr hat das Bundesministerium für Familie (BMSFSJ) 130.000 Anmeldungen zum Aktionstag zu Protokoll gegeben. Zum Vergleich: Das sind etwa so viele gemeldete Schüler·innen an allgemeinen und berufsbildenden Schulen im Saarland. Deutschlandweit dagegen gibt es 11,1 Millionen Schüler·innen.

Der Girls’ und Boys’ Day – in seiner jetzigen Form – ist ein Tropfen auf den heißen Stein.
Kristina Appel

Es ist elementar, dass Kinder und Jugendliche Einblick in verschiedene Berufe bekommen und sie sich mit Genderrollen, Berufsbildern und Stereotypen auseinandersetzen. Aber der Zukunftstag, wie der Girls’ und Boys’ Day auch genannt wird, schafft das nicht. Der Zukunftstag ist für Rollenklischees am Arbeitsmarkt, was der Equal Pay Day für die individuelle Lohngerechtigkeit ist. Ein reines Lippenbekenntnis ohne Lösungsansätze, ohne Hebel, ohne Nachhaltigkeit.

Schade, denn das BMSFSJ möchte mit den Aktionstagen Rollenklischees aufweichen, die Potenziale aller nutzen und so dem Fachkräftemangel entgegenwirken. Klingt doch klasse.

Rollenklischees aufweichen?

Laut offiziellen Zahlen des BMSFSJ entscheiden sich junge Frauen bei über 330 dualen Ausbildungen in Deutschland immer wieder für die gleichen 10 populärsten Berufe, unter den sich kein gewerblich-technischer befindet, schreibt das BMFSFJ. Junge Männer entscheiden sich ähnlich einseitig für dieselben 20 Berufe.

Das Ziel des Girls’ Days ist also, Mädchen für einen Tag in MINT-Berufe schnuppern zu lassen. Ziel des Boys’ Days ist es, junge Männer für Pflege- und Erziehungsberufe zu begeistern. Den meisten Eltern und Schulen gelingt das nicht – wie soll das logistisch auch möglich sein? Immerhin stellen auch Lehrkräfte einen der prekären Bereiche des Fachkräftemangels dar.

Schulen, die sich intensiv kümmern, gibt es wenige, solche, die das ursprüngliche Prinzip auch ernst nehmen, noch weniger. Dort werden Jungs etwa in KITAs vermittelt und Mädchen in Tech-Unternehmen. Vorbildlich, oder?

Nein, kurzsichtig. Denn wie wollen wir Kindern und uns abgewöhnen, in Stereotypen zu denken, wenn wir sie durch diese Schubladen eigentlich untermauern?

Die Sache mit Stereotypen ist doch die: Sie manifestieren sich über Generationen und lassen sich weder über Nacht brechen noch durch ein jährliches eintägiges Praktikum. Um Rollenklischees aufzubrechen, müssen wir in der Schule beginnen, wo Frauen mittel- und langfristig den Weg in Geschichtsbücher finden müssen und Autor·innen aus verschiedenen Kulturkreisen auf die Leselisten in Deutsch- und Englischkursen finden.

Kurzfristig müssen Nachmittagsprogramme mit Aktivitäten wie „Raufen für Jungs“ und „Wellness für Mädchen“ abgeschafft werden, genauso wie Werken für Jungs und Handarbeit für Mädchen. Stattdessen muss ein genderneutrales Curriculum geschaffen werden.

Potenziale nutzen und Fachkräftemangel bekämpfen?

Der MINT-Herbstreport des vergangenen Jahres spricht von „ungehobenen Potenzialen von Frauen in MINT Berufen“. Er besagt weiter, dass den Mädchen und Frauen nicht etwa die Fähigkeiten oder das Interesse fehlen, sondern dass sie weiterhin von strukturellen, gesellschaftlichen und emotionalen Hindernissen ausgebremst werden.

Fachkräftemangel bekämpfen wir nicht mit Aktionstagen gegen Genderklischees, sondern mit einem niederschwelligen Zugang in den Arbeitsmarkt. Und das bedeutet vor allem, den oft hervorragend ausgebildeten Frauen, die momentan Care-Arbeit leisten, auch volle Erwerbstätigkeit zu ermöglichen:

  • Teilzeit zur neuen Vollzeit machen**:** Die Normalisierung von 30 Std./Woche langfristig und eine Aufwertung von Teilzeitarbeit, sowohl in ihrem Image als auch finanziell.

  • Care-Arbeit für Alle normalisieren**:** Je mehr Männer Elternzeit und Care-Arbeit übernehmen, desto großflächiger können wir Erwerbsarbeit für Frauen und Mütter gewährleisten.

  • Flächendeckende Kinder- und Seniorenbetreuung, die nur durch eine drastische Aufwertung der Pflegeberufe zu erreichen ist.

Wir brauchen keine müden Aktionstage. Wir brauchen Aktion!

Bewusstsein schaffen reicht nicht. Wir benötigen

  1. Training in genderneutraler Erziehung für Erziehende und Lehrkäfte.

  2. Kontinuierlichen Sozialkundeunterricht, der über tradierte Rollenbilder aufklärt – und das altersgerecht in Unter-, Mittel- und Oberstufe, damit a) junge Männern lernen, dass die Versorgerlast nicht ihre sein muss und dass sie ein Recht auf Elternzeit haben, und b) junge Frauen erfahren, wie viel Einfluss Care-Arbeit auf ihren Berufsweg, ihr Einkommen und ihre Altersvorsorge haben wird.

  3. Finanzkunde: Unterricht, der über den Gender Pay Gap, den Care Gap und den Pension Gap aufklärt, gesetzliche und private Rentenvorsorge erläutert wird und strukturelle Hürden wie das Ehegattensplitting zur Sprache kommen.

  4. Wir brauchen regelmäßige Projektwochen mit geladenen Gäst·innen aus verschiedenen Branchen, die – neben den beruflichen Inhalten – über den Zugang, die Ausbildungsdauer, potenzielle Gehaltsbänder Quereinstiege und Wiedereinstiegschancen nach der Elternzeit aufklären.

Kein Girls’ und Boys’ Day, keine Internationaler Frauentag und auch kein Muttertag kann leisten, was wir als Gesellschaft mit solchen Aktionstagen versäumen: Nicht nur das Bewusstsein für gesamtgesellschaftliche Probleme zu schaffen, sondern den Willen zu entwicklen, sie wirklich aktiv zu verändern.

Kristina Appel (she/her) schreibt über Frauen und Arbeit, New Work, Popkultur, Gesellschaft und Populärkultur

Ich sehe mich als Verstärkerin weiblicher* Stimmen und Themen Moderatorin | Autorin | Journalistin | Speakerin | Podcasterin

Artikelsammlung ansehen